Kapitel 14: Im Zeichen des Blutmonds
Vor ihren Blick erstreckten sich die Wipfel im Sternenlicht wie ein dichtes Moospolster. Nur schmale Lücken ließen erahnen, wo die Kronen verschiedener Bäume zusammenstießen. Doch wenn man den Blick schweifen ließ, so verwandelte sich der Wald in ein sanft geschwungenes, weiches Hügelland unter dem Blick der Monde*.
Doch die Ruhe trog. Noch während Viyas Blick über die wundersamen, bläulichen Schatten der Wipfelwogen strich, kam Bewegung in diese. In einiger Entfernung wurden die Bäume aufgeworfen, die glatte Laubfläche zerrissen. Mit Entsetzen im Herzen erblickte sie einen mächtigen Schatten, der sich dort aufrichtete, schwarz wie Torobari, doch ungleich finsterer als der gerechte Gott des Todes. Gewaltige Pranken schlugen auf den Dschungel ein und das Röhren dieses finsteren Übels ließ die Luft erzittern. Der Schatten verdeckte die Monde, das Licht der Sterne wurde blutigrot.
Viya erbebte vor Furcht. Sie konnte die gewaltige Bosheit, die von dem Riesen ausging, als körperliche Übelkeit fühlen. Ein panischer Schrei hallte in ihr nach. War das Shiak?
„Aithara, erlöse uns!“, flehte sie weinend. Ihr Herz schlug wild und panisch, als wäre ein kraftvoller Papagei in ihrer Brust gefangen, der zu fliehen versuchte. Oder gleich ein Fledertiger**!
Dann fiel sanftes, goldenes Licht auf das Land. Die Strahlenfinger hatten ihren Ursprung hinter Viyas Rücken und berührten die Wipfel wie die Spitzen ätherischer Flügel. Wo sie das Land trafen, wurden die Baumkronen leuchtend smaragdgrün, und die mächtige, schwarze Bestie schrumpfte.
Sie konnte sich nicht umdrehen, doch sie wusste, dass ihre Göttin erschienen war. Aitharas Liebe senkte sich über Viyas Schultern, gleichzeitig eine Umarmung und ein Kriegspanzer. Jede Furcht wich von ihr, während der bösartige Schatten jämmerlich schrie. Das Böse sah sein Ende gekommen. Strahlend vor Glück, die Wangen nass von Tränen der Ehrfurcht, betrachtete Viya das Werk ihrer Göttin.
Ja, Aithara würde sie retten. Ihr Licht würde jeden Schatten vernichten.
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Woher der Schlag gekommen war, wusste Shiak nicht. Im einen Moment hatte er rätselnd auf die leuchtende, rote Scheibe gesehen. Als wäre ein fünfter Mond am Himmel erschienen, dessen Licht seltsamerweise die oberen Zweige durchdrang. Wie nah oder fern der Mond war, ließ sich gar nicht sagen. Shiak hatte geblinzelt und versucht, das Bild zu verstehen.
Dann hatte er ein Pfeifen gehört und war instinktiv zusammengezuckt. Das hatte ihm wohl das Leben gerettet. Dadurch war seine Schulter getroffen worden und nicht der Hals. Jetzt, da er sich auf der Erde wiederfand, nachdem sich Schreck und Schmerz in einem unfreiwilligen Schrei Luft gemacht hatten, ertastete er vier tiefe, blutfeuchte Rinnen in seiner Haut.
Gingen sie bis auf den Knochen? Er hatte wenig Zweifel daran, doch er hatte keine Zeit, sich die Wunde genauer anzusehen. Sogar die Schmerzen spürte er kaum. Er hörte einen dumpfen Aufprall. Etwas Schweres landete auf der Erde, knickte Zweige und wühlte den Boden auf.
Der rote Mond war fort. In der Finsternis robbte Shiak rückwärts über die Erde und tastete dabei blind nach etwas, was er als Waffe verwenden könnte. Warme Flüssigkeit lief über seinen Arm. Nur undeutlich sah er, wie sich etwas Großes vor die wenigen helleren Stellen des Waldbodens schob.
Er trat Erde in die Richtung des Wesens. Kurz glaubte er, rötliche Augen aufblitzen zu sehen, dann ein schwaches Echo der roten Scheibe vor sich zu sehen, nun zum Oval zusammengedrückt. Ein tiefes Knurren löschte den letzten Zweifel daran, dass in der Nacht ein Schrecken lauerte.
„Hilfe!“, schrie er, so laut er konnte. „Hiiilfe!“
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Er fuhr abrupt aus dem Schlaf auf. Das Feuer war noch kaum heruntergebrannt, sodass Jas die Lichtung ihres Lagers halbwegs erkennen konnte. Ringsum hatten sich Gestalten auf ihren Schlafrollen aufgesetzt. Dhunya hatte noch am Feuer gesessen, also war es immer noch ihre Wache. Jetzt allerdings sprang sie leicht schwankend auf. Mit ungelenken Bewegungen taumelte sie zu ihrem Schlafplatz neben Rikhon und hob die Axt auf.
„Folgt mir!“, rief sie. „Shiak braucht uns!“
Shiak. Sein Schrei hatte Jas geweckt. Wieso war er allein im Dschungel? Hatte Jas seinen Gefährten nicht immer eingeschärft, dass sie zusammenbleiben mussten? Offenbar war er nicht deutlich genug gewesen.
Noch immer halb im Traum sah er, wie Dhunya an ihm vorbeistürmte und sich in den Wald schlug. Rikhon war schneller wach als der Rest. Der Wabawi folgte seiner Zwergin, dann hielt er jedoch am Rand des Lagers inne.
„Schürt das Feuer!“, befahl er. „Bewaffnet euch, bildet einen Ring, bleibt zusammen. Du“, er deutete auf Jas, vielleicht, weil dieser am nächsten war, „passt auf, dass niemand mehr verloren geht!“
Damit drehte der Krieger sich um und tauchte zwischen die dunklen Blätter der Büsche. Noch im Laufen holte er den Revolver heraus und begann, zu laden.
Dann war es einen Moment still. Der Rest war noch immer nicht wirklich wach. Giorgio wälzte sich sogar einfach auf die andere Seite. „Wenn ich nicht genug Schlaf bekomme, kann ich nicht kochen. Das wisst ihr doch!“
Jas schüttelte den Kopf, um die Benommenheit zu vertreiben. Es waren vielleicht zehn Herzschläge verstrichen, seitdem er wach geworden war, vielleicht fünfzehn, da sein Herz ängstlich hämmerte. Langsam stand er auf.
„Was haben die beiden vor?“, brummte Zynon. „Wieso müssen sie jedes Mal wild lostürmen? Wir müssen ihnen hinterher, bevor sie sich noch umbringen.“
Jas trat dem Jäger in den Weg. „Rikhon hat befohlen, dass wir zusammenbleiben.“ Er mochte zwar noch verschlafen sein, aber ihm war bewusst, dass die beiden Anführer gerade eine gefährliche Feuerprobe durchmachten. Solange die Unterstützung für die beiden so wackelig war, musste er sie nach Kräften unterstützen. „Bleib also, Zynon.“
„Aber wenn wir nichts unternehmen, bringen sie sich um!“
„Sie sind erfahrene Abenteurer, sie wissen, was sie tun. Wir wären ihnen nur im Weg. Stattdessen sollten wir besser aufpassen, dass nicht noch jemand verloren geht.“
Eine andere Stimme unterbrach ihren Streit. „Außer Rikhon und Dhunya fehlt nur Shiak.“ Asherah hatte offenbar bereits durchgezählt. „Angesichts der Tatsache, dass wir nicht wissen, womit wir es zu tun haben, sollten wir also wirklich zusammenbleiben. Feuer jagt den meisten Wildtieren Angst ein, das ist also eine gute Abwehr.“
„Wir müssen doch helfen!“, rief Zynon wütend.
„Die beiden Kämpfer können sich gegenseitig schützen, sie sind den Kampf an der Seite des anderen gewohnt. Shiak dagegen war dumm, sich so weit zu entfernen. Wir können nicht noch mehr Leben riskieren, um seinen Fehler auszubügeln!“
Jas verzog das Gesicht. Zwar hatte Asherah sicherlich recht, aber ganz so herzlos musste man es dann doch nicht ausdrücken.
Auch Viya brach entsetzt ihr Gebet ab. Die Priesterin hatte sich offenbar gleich nach dem Aufwachen auf die Knie begeben und hastig gemurmelt. Nun sah sie Asherah ungläubig an. „Wir müssen Shiak helfen! Er ist besonders gesegnet, das habe ich beim Training gespürt.“
Zynon wandte sich an Jas. „Ich kenne den Wald. Ich bin Fernkämpfer. Ich kann sie aus sicherem Abstand unterstützen.“
Jas nickte langsam. Immerhin konnte er Rufe und Kampflärm bis hierher hören. Vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn jemand die Lage im Blick hatte. „Folge ihnen. Halte Abstand zu dem Tier, was auch immer es ist. Du bist unser Späher – wenn sie Hilfe benötigen, rufst du uns.“
Zynon eilte los. Die Wurfspeere hielt er bereits in der Hand. Der Rest blieb zurück. Giorgio lag sogar immer noch unter den Decken. Schnarchte er etwa?
Asherah kniete sich mit grimmiger Miene neben die Flammen und legte ein Scheit nach.
„Aitharas Licht möge uns leuchten. Ihr Strahlen soll uns ein Schild sein gegen die Finsternis. Gelobt seist du, Aithara, denn du errettest uns vor der Nacht.“ Viya öffnete die Augen und lächelte Jas an. „Sie wird uns behüten und beschützen, ich habe es in einem Traum gesehen. Hab keine Furcht! Aithara bringt uns einen neuen Tag der Hoffnung.“
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Er vertraute darauf, dass Jas den Rest der Gruppe zusammenhalten würde. Immerhin sah es nicht so aus, als würden Giorgio oder Viya allzu bald losstürmen und auch Asherah hatte sich sichtlich darauf eingestellt, das Lager zu verteidigen.
Mehr Sorgen machten ihm Dhunya und Rikhon, und natürlich Shiak. Während Zynon in den Wald stapfte, hörte er Hilferufe des Elfen.
„Wo bist du?“, antwortete Dhunya. „Wir kommen!“
„Hier!“
Zynon folgte den Stimmen im Laufschritt. Ein katzenhaftes Brüllen erklang, allerdings war die Stimme zu hoch für einen Tiger oder Panter. Vielleicht ein Nebelparder? Die Stimme klang zwar ähnlich, aber etwas zu hoch.
Zynon hörte Dhunya brüllen und einen Schrei von Rikhon, der noch kurz hinter ihr sein musste: „Vorsicht!“
Etwas schlug dumpf aufeinander. Krallen und Axtstiel? Zynon folgte den Geräuschen, bis er endlich Bewegung erahnen konnte.
Es war zu dunkel, um Details zu sehen. Shiak schien auf der Erde zu kauern, wo die Schatten tiefer waren. Doch Dhunya und Rikhon konnte er erkennen, zwei Gestalten, die im Sternenlicht aufblitzten, die Zwergin nur halb so groß wie der Mensch. Mündungsfeuer des Revolvers blitzte auf, als Rikhon feuerte. In den sprühenden Funken sah Zynon ein fauchendes Raubkatzengesicht, schwarz wie ein Fledertiger, mit roten Augen, scheinbar auch mit Flügeln. Es musste ein Jungtier sein, denn es war nicht viel länger als Dhunya hoch war. Was nichts daran änderte, dass die Bestie scharfe Krallen hatte.
Zynon packte den ersten Speer mit rechts und wartete auf eine Lücke, um zu zielen. Er wollte nicht riskieren, Rikhon oder Dhunya zu treffen. Doch auch das Tier wollte er nicht töten, wenn es sich auch vertreiben ließe. Gerade, weil Fledertiger heilige Tiere waren!
Nachdem der Schuss des Wabawis offenbar nicht getroffen hatte, war es wieder dunkel geworden. Die Raubkatze fauchte und knurrte, Dhunya fluchte unflätig. Rikhon fragte brüllend, wo das Mistvieh sei.
„Kommt hierhin!“, rief Zynon ihnen zu. „Shiak, bist du verletzt?“
„Geht“, kam die Antwort etwas weiter links als erwartet. Zynon konnte erahnen, wie eine Gestalt aufstand und schwankend zu ihm eilte. Offenbar hielt sich der Elf die Schulter.
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Der Lärm des Schusses hallte ihm noch in den Ohren. Taumelnd machte er ein paar erste Schritte, als plötzlich etwas sein Bein mit eisernen Dornen packte und zog.
Schreiend fiel Shiak auf die Erde. Nur gedämpft nahm er den Schmerz des Aufpralls in der verletzten Schulter wahr. Er drehte sich und trat nach hinten, traf etwas, das fauchend zurückwich und nach seinem Schienbein hieb.
„Shiak!“ Von seinem Schrei alarmiert kam Dhunya herbei. Erneut warf sie sich direkt in die Bestie, die knurrend zurückwich. Ein hohes, katzenartiges Knurren, das grollend begann und in einen schrillen Schrei gipfelte.
Shiak zog die Knie an und robbte nach hinten, in die Richtung, aus der Zynons Stimme gekommen war. Sein Atem ging flach und viel zu schnell. Als er auf die Füße kam, zuckten Schmerzen durch den Knöchel und das andere Schienbein. Offenbar war der Biss tiefer gedrungen, als er wahrgenommen hatte, und der Hieb hatte sein Schienbein nicht nur stumpf gestreift.
„Komm hierhin, zum Lager!“, rief Zynon.
Wankend lief Shiak los. Den Feuerschein konnte er noch erahnen, immerhin war er nicht weit vom Lager fortgegangen. Nun erkannte er auch Zynons Silhouette vor dem helleren Orange. Doch seine Sicht verschwamm. Seine Glieder zitterten, seine Augen konnten sich kaum fokussieren.
„Zynon ..,“, ächzte er. Hinter ihm knurrte das Monster, als wollte es ihm höhnisch verkünden, dass er seinem Schicksal nicht entfliehen könnte.
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Dieser Ort war ihm suspekt. Auch wenn das Wiesenland im Dschungel schön offen war, sodass man jede Gefahr aus großer Entfernung sehen konnte, und Thuli wusste, dass die eckigen Hügel Nahrung im Überfluss versprachen.
Die Beute hatte er trotzdem nicht angerührt, obwohl sie so verführerisch geduftet hatte. Oder eher, weil sie so verführerisch geduftet hatte. So etwas bekam man nicht einfach geschenkt! Man musste es aus dem Versteck eines Wolfsrudels ausgraben und damit fliehen, die Rufe der wachenden Raben im Nacken. Oder man schlich in einen nach Erdwesen*** stinkenden, fremdartigen Ort und stahl die Beute dort, diesmal verfolgt von den laut knallenden Stöcken, welche die Erde auf Meilen aufpeitschten, oder Feuerbällen oder japsenden Hunden.
Nein, es war zu einfach, wenn einem ein großer Laubwolf so etwas vor die Nase legte. Die Falle, in die er törichterweise geraten war, hatte Thuli gezeigt, dass dieser Wald nichts einfach so hergab.
So sehr sich sein Magen also auch sträubte, er war erst einmal zum Waldrand zurückgekehrt. Als er sich sicher war, dass die merkwürdigen Wölfe ihm nicht folgten, hatte er sich jedoch wieder im Gras versteckt. Robbend war er zu einem Baum zurückgekehrt.
Auch wenn es verlockend war, zu den Erdwesen zurückzukehren, denen er bisher gefolgt war, er roch, dass sie noch nicht weit weg waren. Er würde sie wiederfinden. Dieser Ort dagegen war äußerst spannend. Bei aller Vorsicht hatte die Neugier dann doch gesiegt. Thuli wollte sehen, was es mit den Laubwölfen und den anderen Wesen hier auf sich hatte. Waren das auch Erdwesen? Elfen vielleicht?
Vor allem könnte hier ja doch noch Beute herumliegen, die sich als etwas sicherer herausstellte. So harrte Thuli auf einem Ast aus, die Ohren gespitzt. Diesmal sah er sich wachsam an und japste warnend, wenn einer der Laubwölfe glaubte, sich wieder lautlos anschleichen zu können. Diesmal sah Thuli sie kommen! Und die großen Tiere trollten sich tatsächlich auch, nur einige offenbar jüngere Wesen gaben mit einem Knurren zu verstehen, dass dies immer noch ihr Revier war.
Mitten in der Nacht schreckte Thuli allerdings von lauten, metallischen Geräuschen auf. Die Nacht war ohnehin eine unheimliche Zeit im Urwald, eine Zeit, zu der viele laute Schreie erklangen. Diese waren jedoch offenbar nicht tierischer Natur.
Feuer wurden vorne, zwischen den eckigen Hügeln, entzündet. Mit eiligen Schritten liefen Zwei- und Vierbeiner zusammen. Thulis Fell sträubte sich und er sprang auf dem Ast auf, bereit, jederzeit ins Gras und dann in den Wald zu fliehen. Zu der Gruppe mit den köstlichen Vorräten, die er inzwischen einschätzen konnte.
Dann liefen all die Wesen jedoch zu einer Seite des Rings aus eckigen Hügeln. Die Laubwölfe bellten und knurrten. Die Zweibeiner waren leiser, nur ein paar Rufe erklangen. Im fernen Fackelschein sah Thuli den Widerschein von blitzendem Metall.
Die Gruppe aus Zweibeinern und Laubwölfen überquerte die Wiesen in einiger Entfernung. An ihrer Spitze lief eine einzelne Gestalt mit wehender Kopfmähne, die auch als erstes in den finsteren Wald eindrang.
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Erleichtert kam Zynon Shiak entgegen, um sich die Wunde anzusehen. Er war froh, dass der Elf nicht nur antworten, sondern auch noch laufen konnte. Nach den Schreien hatte er sich entsetzliches ausgemalt.
Dhunya und Rikhon jagten die schwarze Raubkatze noch immer. Zynon hörte Schreie, die jedoch mehr wütend als schmerzerfüllt klangen. Offenbar war das Tier flink und wich den Kämpfern jedes Mal aus.
Durch das unwegsame Gebüsch kam Shiak näher. Zynon stolperte über einen Ast und stütze sich mit den Speeren in der Linken ab. Der Feuerschein des Lagers hinter ihm war kaum zu erahnen.
„Wie schlimm ist es?“, rief er Shiak zu, als sie fast beieinander waren.
„Keine Ahnung. Es ist dunkel und ich spüre kaum was. Aber es blutet wie verrückt!“
„Lass mal sehen.“ Er tastete den Arm des Elfen ab. Warmes Blut hatte den Stoff durchtränkt. Näher an der Schulter zuckte Shiak nicht einmal zusammen, als Zynon in tiefe Klauenspuren faste.
Das war nicht gut. Wenn der erste Schock vorbei war, würde Shiak nicht nur schlimme Schmerzen, sondern sicher auch den Blutverlust spüren. Zynon suchte nach einem Stück Stoff, das er nutzen könnte, um die Wunde zu verbinden. Doch eigentlich sollten sie zurück zum Lager.
Dhunyas Stimme hallte durch den Wald. „So ein Mist! Ist es noch im Baum?“ Die Axt schlug auf Holz. Etwas raschelte. Ein ungewöhnlich hoher Katzenschrei klingelte Zynon in den Ohren und betäubte alle anderen Geräusche für einen Moment.
Er sah die Gefahr trotzdem kommen. „Shiak, runter!“
Der Elf konnte nicht mehr reagieren. Ein dunkler Schatten stürzte aus dem Geäst über ihnen, direkt auf den verletzten Shiak. Ledrige Schwingen peitschten in Zynons Gesicht und warfen ihn zur Erde. Grausige Schreie erfüllten den Wald, von Shiak und dem Katzentier, das aus der Nähe noch mehr wie ein geflügelter Nebelparder aussah.
Zynon rappelte sich auf und schlug mit dem Speer auf das Tier ein. Ein langer Schwanz zischte durch die Luft und entfaltete flossenartige Fortsätze. Mit einem Schlag erzeugte das Tier einen Knall wie von einer Peitsche, der Zynon erneut zurücktaumeln ließ.
„Shiak!“, brüllte er, ohne eine Antwort zu erhalten. Dann folgte ein lauterer Knall und eine Kugel ließ die Rinde in einem Baum neben ihm explodieren. Der dicke Stamm erzitterte.
Rikhon und Dhunya kamen durch das Gebüsch gebrochen. Die schwarze Katze fauchte, sprang vom Boden an den nächsten Stamm und kletterte flink wie ein Wiesel ins Geäst. Laub und kleine Zweige regneten herab, als sie durch die höheren Äste davonlief.
Der Wabawi feuerte einen dritten Schuss ab, der die Bäume über ihnen kurz beleuchtete. Die Äste waren leer, kein Tier zu sehen. In der Stille nach dem Knall hörte Zynon nur noch ein wages, sich entfernendes Rascheln.
„Wo bist du, Mistvieh?“, knurrte Rikhon. „Zeig dich!“
„Es ist weg.“ Zynon kniete sich neben den Elfen. Er tastete und fühlte Blut. „Shiak? Shiak, sag was!“
⁂
„Was ist passiert?“, fragte Jas besorgt, als er Zynon aus dem Wald kommen sah. Der Jäger und Rikhon trugen Shiak zwischen sich, dessen Kleidung in Blut ertränkt war.
„Sie leben!“, rief Viya erleichtert. „Ich habe euch gesagt, dass Aithara uns beschützt.“
„Ja, aber lebt Shiak tatsächlich noch?“, zweifelte Asherah.
Verständlich, fand Jas. Shiak bot einen entsetzlichen Anblick. Blut tropfte in einem recht steten Rhythmus von den leblosen Fingern. Zynon hatte die Oberschenkel des Elfens unter den Armen, Rikhon hatte ihn unter den Achseln ergriffen. Dhunya hielt dem Trio den Rücken frei, beide Äxte in den Händen.
„Er lebt noch“, bestätigte Zynon keuchend. „Aber das Tier hat ihn ziemlich erwischt. Wir müssen ihn auf jeden Fall verbinden!“
Jas eilte an die Seite des Elfen, als dieser abgelegt wurde. Die Kleidung war von tiefen, parallelen Schnitten zerfetzt. Sie zeichneten Shiaks Schultern, den Bauch, die Beine. Irgendetwas war auf ihn gesprungen und hatte förmlich seine Krallen gewetzt!
Während Rikhon und Dhunya sich mit gezückten Waffen an den Waldrand stellten und nach einem eventuellen Verfolger spähten, zog Zynon schweigend ein Stück Stoff von Shiaks Hals, das der Jäger offenbar aus seinem Hemd gerissen hatte. Darunter kam eine tiefe, blutige Bisswunde zum Vorschein.
Jas legte die Hände auf die Wunde. Sofort floss Blut über seine Haut. Er schloss die Augen und rief die Magie aus seiner inneren Quelle, um die tödliche Verletzung zu heilen, bevor sie wirklich tödlich wurde. Nur noch schwach spürte er Shiaks Puls unter der Haut.
Er hätte die Gruppe besser zusammenhalten müssen! Wieso hatte niemand Shiak davon abgehalten, in den Wald zu laufen? Dhunya hatte mit ihm gewacht. Jas erinnerte sich an ihre schwankenden Bewegungen, als er aufgewacht war. Sie hatte getrunken! Inzwischen wirkte sie wieder vollkommen nüchtern, doch das war eine gefährliche Situation gewesen. Er hätte besser aufpassen sollen. Er hätte …
Jas riss sich zusammen. Die Wunde an Shiaks Hals war bereits verschlossen. Doch statt aufzuhören und sich seine Kräfte zu sparen, hatte er sich ablenken lassen. Die zusätzliche Energie würde dem Elfen zwar helfen, den Blutverlust besser wegzustecken, doch er hatte noch andere Wunden, um die Jas sich kümmern musste. Und auch Dhunya und Rikhon hatten ein paar tiefe Kratzer davongetragen, die von Raubtieren stammen mussten.
Er durfte die Kontrolle über den Sog nicht verlieren! Jas betrachtete Shiak und wählte als nächstes eine tiefe Bisswunde am Knöchel. Dann lagerte er die Beine des Elfen etwas höher, um sich erst einmal um eine Schulterwunde zu kümmern.
Dhunya und Rikhon hatten ihre Wache inzwischen aufgegeben. Offenbar war der Angreifer fort. Giorgio, der von dem Tumult inzwischen auch wachgeworden war und schon seit einer Weile daran saß, einen ‚kräftigenden Brei für die Abenteurer‘ zusammenzurühren, ließ fragen, ob er Shiaks Teller denn dann für eine Obstbeilage verwenden könnte.
„Ja, mach einfach“, knurrte Jas gereizt. Er spürte, wie die aufgebrauchte Magie ihn schwächte. In seinen Ohren war ein Rauschen aufgetaucht, das sich bald in Schwindel verwandeln würde. Ein Teil von ihm rief ihm zu, dass er Shiak jetzt und sofort komplett heilen, ihn sogar verbessern könnte, wenn er nur genug Macht aufbrachte. Der vernünftige Teil, der noch lauter war, wusste, dass die Magie sich dann verselbstständigen und Shiak sehr wahrscheinlich sogar töten würde.
Das war einer der wenigen Punkte, in denen Jas‘ Vater vielleicht recht hatte. Als Hexer bezog er seine Macht von Dämonen und musste sich deshalb nicht mit dem Sog auseinandersetzen. Diese Verlockung, die in der Seele eines jeden Magiers kitzelte, wenn er die Macht durch seine Hände fließen spürte. Es war gar nicht so verschieden von sexuellem Verlangen, wie ein Juckreiz, der sich nur durch mehr und mehr Magie lindern ließ. Doch gab man nach, könnte man ebenso gut ein Dämon werden. Und Dämonen waren Kreaturen, mit denen sich kein vernunftbegabtes Wesen einlassen sollte!
Jas zog Shiaks Hemdfetzen beiseite, um nach weiteren Wunden zu suchen. Dann zuckte er zusammen, als sein Gehirn sich fragte, worauf er da starrte. Im nächsten Moment zog er die Stoffstücke hastig wieder zurück. Als Heiler sollte er da zwar keine Scheu haben, die einer Behandlung im Wege stehen sollte, aber er war überrascht.
„Was ist?“ Der Rest hatte sein Aufkeuchen bemerkt. Zynon klang besorgt. „Ist es schlimmer als wir dachten?“
„Nein, die Wunden … sind mehr oder weniger versorgt. Aber Shiak … ist eine Frau.“
„Häh?“
Bis auf Giorgio, der noch kochte, kam der Rest zusammen. Jetzt war es auch unter dem Hemd offensichtlich. Wie war ihnen das vorher nie aufgefallen? Die Wölbung der Brüste war nicht extrem ausgeprägt, aber doch wahrnehmbar. Bis eben hatte sich Jas auf die Behandlung konzentriert. Jetzt wirbelten seine Gedanken noch mehr durcheinander.
„Das müssen wir ihn … oder sie … fragen, wenn er wach ist. Sie.“ Rikhon zuckte die Schultern. „Kommt, Leute, weg hier. Glotzt die Dame nicht so an! Jas … du darfst, aber nur, weil du sie heilst!“
Er winkte ab. „Die Brust ist zum Glück unverletzt, so viel hatte ich gesehen.“ Er versuchte, die Fetzen etwas zu richten. Mit so einer Offenbarung hatte er nicht gerechnet.
Nachdem er Shiak notdürftig zusammengeflickt hatte, verwendete Jas noch ein wenig Macht darauf, Rikhons und Dhunyas Verletzungen oberflächlich zu behandeln. Seine Gedanken waren zu wirr, als dass er es wagte, mehr Magie zu verwenden. Weitere Heilungen sollte er später machen, vielleicht erst am nächsten Tag.
Hoffentlich würde Shiak so lange durchhalten. Der Elf – ihn als Elfe zu sehen, fiel Jas noch zu schwer – regte sich noch immer nicht, von einigen schwachen Atemzügen abgesehen. Er war immer noch nicht wieder zu sich gekommen, aber bei so schwerem Blutverlust war das auch kein Wunder. Er würde Ruhe brauchen.
Jas wusch sich die Hände und wollte zum Feuer gehen. Diesmal freute er sich auf den geschmacklosen Brei, vielleicht, weil es süßes Obst dazu geben würde. Vor allem knurrte ihm der Magen nach dieser Anstrengung.
Doch er hatte erst zwei Schritte gemacht, als Lärm ihn aufschreckte. Es begann als lautes Krachen, viele Zweige, die unter raschen Schritten brachen. Knurren drang aus dem Wald, begleitet von erdvölkischen Rufen.
Die durch Shiaks Verletzung noch weiter geschrumpfte Gruppe tauschte erschrockene Blicke, dann sprangen sie auf, zückten Äxte, Speere und Schwerter. Der Lärm rollte rasch heran. Es klang, als wäre ihre Lichtung beinahe umstellt.
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*Monde: Die Eisenwelt hat vier davon: Den großen Blaumond, eigentliche in Gasplanet mitsamt Ringen, den Goldmond (etwa 1.15x größer als der Erdmond), den Chrommond in strahlendem Weiß und einen winzigen Satelliten des Chrommonds, das ‚Auge des Mondes‘. Es gibt außerdem zwei Sonnen, die kleinere davon, ein roter Zwerg, ist allerdings nur zwei- bis dreimal im Jahr sichtbar.
**Fledertiger: Eine große, geflügelte Raubkatze der Dschungel, gilt außerdem als heiliges Tier von Torobari, dem Gott des Todes.
***Erdwesen/Erdvölker: Oberbegriff über ‚menschliche‘ Lebewesen, also Menschen, Elfen und Zwerge. Oft in Kontexten genutzt, wo ‚Mensch‘ zwar passend, im Sinne der Fantasy aber zu eingeschränkt wäre. (Etwa ‚erdwesenverlassene Gegend‘ statt ‚menschenleere Gegend‘.)