Kapitel 4: Die schwere Wahl des richtigen Pfads
Anilas gab ihnen etwas Zeit, sich mit beiden Optionen auseinander zu setzen. Giorgio bereitete so lange das Frühstück zu, indem er eine großzügige Portion Reis im Topf aufsetzte und den Teilnehmern Gemüse zum Schneiden zuwies. Das heutige Rezept hatte er von Viya gelernt – es handelte sich um eine dhubyanische Reisplatte mit Auberginen und Mangos. Das Gemüse brutzelte bald in der Pfanne und Giorgio würzte es mit ordentlich Chili, etwas Kardamom und K’mba.
Shiak hatte die Mangos zugeteilt bekommen. Die rutschige Frucht hatte sich kaum von der Schale trennen wollen, sodass an den Resten noch Fruchtfleisch klebte. Er nagte es aus der ersten und bemerkte, dass Viya im Packen innehielt und ihn ansah.
„Möchtest du ein Stück?“ Er reichte ihr eine weitere Schale.
„Sehr gerne.“ Sie lächelte begeistert.
Shiak reichte die restlichen Schalen in der Gruppe herum.
„Oh, die Frucht ist ja lecker!“, schwärmte Dhunya. Sie stieß Rikhon an. „Was denkst du? Ob eine unserer früheren Abenteurer-Gefährtinnen sich dafür interessiert hätte?“
„Die Wüstenblume? Vermutlich.“
„Nein, danke.“ Asherah lehnte ab. Sie hatte bereits gepackt, saß auf ihrer Tasche und machte sich Notizen. „Aber was genau ist das für ein Gewächs? Was könnt ihr mir darüber sagen?“
„Das sind bloß Mangos“, meinte Jas verwundert. Shiak nutzte die Ablenkung, um zum Koch zu gehen. Mit vom Fruchtsaft verklebten Fingern brachte er Giorgio die kleinen Würfel.
„Das riecht echt gut.“ Shiak schnupperte. Fast wie im Restaurant …
„Wir haben nicht mehr ganz so viele Zitronen.“ Der Koch gab die Mangos hinzu.
„Zitronen?“
„Man gibt Zitronensaft auf die Auberginen, damit sie nicht braun werden“, klärte Giorgio ihn auf. Er nahm einen kleinen Stoffbeutel auf, griff hinein und warf eine Handvoll bräunlicher Kleckse in die Pfanne.
„Was ist das?“ Shiak befürchtete Käfer. Giorgio hatte ihnen bereits mit ‚super zarten‘ Froschschenkeln und gebratenen Schnecken gedroht.
„Sultaninen aus Celyvar. Eine besonders gute Ernte.“
„Also … Rosinen?“
„Keinesfalls! Im Gegensatz zu Rosinen werden Sultaninen in einem Dip aus Öl und Gewürzen eingeweicht, bevor man sie trocknet. Dadurch löst sich die zähe äußere Haut und sie werden süßer und saftiger.“
„Und das schmeckt zu Auberginen und Mango?“
„Wenn du nichts willst, bleibt mehr für uns übrig! Und steh mir nicht in der Sonne!“
Grinsend ließ Shiak sich fortscheuchen. Er würde vermutlich auch Froschschenkel und Schnecken mögen, wenn Giorgio sie zubereitete. Der dickliche Mann war ein ausgezeichneter Koch.
Und wie erwartet enttäuschte der Reistopf nicht. Die Süße von Mango und Sultaninen bot einen hübschen Widerspruch zur Aubergine. Nach der ersten Portion – die schon nicht klein gewesen war – standen die meisten für Nachschlag auf.
„Also“, sagte Anilas, als alle wieder saßen. „Habt ihr euch entschieden?“
Shiak sah nervös zu den anderen.
„Ich will ans Meer!“, verkündete Rikhon. Er legte einen Arm um Dhunya. „So einen romantischen Sonnenuntergang am Strand? Was sagst du?“
„Wir sind doch für Abenteuer hier!“ Die Zwergin schüttelte missbilligend den Kopf. „Davon kriegen wir im Dschungel sicherlich mehr!“
Viya, die eine durchscheinende Kristallkugel auf den Knien hielt, starrte die beiden Abenteurer mit großen Augen an. Anilas schwieg, hatte die Augen aber ziemlich entgeistert aufgerissen.
„Ich bin auch für den Weg an der Küste“, sagte Jas. „Der Weg ist breiter als die zugewachsenen Dschungelpfade. Wir kommen vermutlich viel besser voran. Und … also, es gibt einige vorgelagerte Inseln. Vielleicht lebt dort noch jemand.“
„Wir sind eine Forschungsreise, keine Rettungsmannschaft“, sagte Anilas sanft. „Selbst wenn wir Überlebende finden, können wir ihnen nicht groß helfen, außer sie auf dem Rückweg mitzunehmen.“
Jas nickte. „Natürlich, nur … Jedenfalls bin ich auch für die Küste.“
„Ich auch“, schloss sich Shiak an. „Die Küste ist bestimmt sicherer.“ Er hatte noch nicht davon gehört, dass sich der Fluch ins Meer ausgebreitet hätte. Somit könnten die Monster nur von einer Seite kommen.
Anilas nickte langsam. Dhunya verzog das Gesicht.
„Ich wäre für den Dschungel“, verkündete Giorgio, ohne seine Entscheidung weiter auszuführen.
„Ich ebenfalls“, sagte dann Zynon. „Im Wald kenne ich mich sehr viel besser aus.“
„Genau!“, rief Dhunya. „Wir müssen darauf achten, wo wir uns zurechtfinden würden.“
„Ich stimme nur ungerne zu, aber meines Wissens nach ist die Küste von Dhubayaana nur bedingt besiedelt, wegen des weichen Kalksteins.“ Asherah hatte in ihren Notizen nachgeschlagen. „Ich würde sehr gerne einige Ruinen erforschen, während ihr euer Abenteuer genießt.“ Sie sah spöttisch zu Dhunya. „Es gibt in diesem Bereich einen wenig erforschten Architekturstil der früheren Zwergenvölker, die aus den Dschungeln vertrieben wurden. Dieses Wissen droht, in Vergessenheit zu geraten, wenn die Ruinen vollständig zerfallen.“
Auf diese Meldung folgte Stille. Anilas nickte. „Dann haben wir – wenn ich richtig gezählt habe – drei Stimmen für die Küste und vier für den Wald.“
„Ich könnte mich auch mit der Küste anfreunden, wenn es dort Ruinen gibt“, sagte Asherah.
Anilas ignorierte sie und sah zu Viya. „Und was denkst du?“
Die blasse Priesterin zuckte zusammen. Noch immer hielt sie die Kugel umklammert.
„Ich … also …“, stammelte sie. „Ich … bin nicht sicher.“
„So gar nicht?“
„Ich habe meine Göttin befragt“, murmelte Viya und hob zum Beweis die Kristallkugel. „Welcher Weg leichter und weniger gefährlich wäre.“
Die Mooselfe hatte sofort die gesamte Aufmerksamkeit der Gruppe.
„Und?“, drängte Anilas.
Viya legte die Kugel wieder auf den Knien ab und senkte den Kopf. „Beide Wege sind gefährlich. Es gibt keine offensichtliche Lösung. Auf beiden Wegen erwarten uns Prüfungen und Erschwernisse, die unseren Glauben testen werden.“
Asherah schnaubte. „Mein Glaube wäre getestet, wenn es nicht schwierig sein würde.“
Anilas lächelte der jungen Sonnenpriesterin zu. „Danke, Viya.“ Dann sah er in die Runde. „Ich denke, wir haben mehr Stimmen für den Dschungel und, um ehrlich zu sein, überzeugen mich die Argumente für den Wald einfach mehr.“
Shiak seufzte leise. Er hätte sich beim Weg an der Küste entlang sicherer gefühlt.
„Aber der Strand!“ Rikhon sah ihren Expeditionsleiter entgeistert an.
Anilas ignorierte ihn. „Packt eure Sachen. Nach dem Frühstück brechen wir auf!“
„Und wir sollten besser keine Vorräte zurücklassen“, warf Zynon ein. „Unsere Essensreste haben schon einmal einen Wolf angelockt. Das dürfen wir nicht noch einmal riskieren.“
„Ich kümmere mich darum“, schlug Jas vor. Etwas zu rasch, wie Shiak fand. Während die anderen den Karren beluden, sammelte Jas die Essensreste im Topf. Er sah zu Zynon, der in den Wald ging, um die Fallen abzubauen, und wählte die Gegenrichtung.
Shiak erhob sich und folgte Jas. Dieser huschte zwischen den Fallen hindurch und suchte einen Ort etwas abseits, wo er sich hinhockte. Misstrauisch sah er sich um und erblickte Shiak.
„Was machst du da?“ Der Mooself trat neben Jas.
„Ich, ähh … kontrolliere den Boden. Ich bin ja Erdmagier.“
Shiak hob eine Augenbraue. „Wolltest du nicht das Essen entsorgen?“
„Ja, sofort, ich …“
„Du stellst es dem Wolf hin, ja?“ Shiak kniete sich neben Jas und lächelte leicht. „Hast du keine Angst vor ihm?“
Jas zögerte noch einen Moment, dann gab er seufzend nach. „Das arme Tier war ziemlich mager. Und wir haben ihn sicher ein ganzes Stück aus seinem Revier herausgelockt. Ich … fühle mich für ihn verantwortlich.“ Er sah Shiak an. „Du wirst es doch nicht Zynon sagen, oder?“
„Kein einziges Wort.“ Shiak grinste. „Denkst du, ich kann den Wolf mal sehen? Ich mag Wölfe.“
„Er ist ziemlich scheu, aber nicht furchtsam.“ Jas schien erneut mit sich zu ringen, ehe er fortfuhr: „Ich glaube, es ist ein Wandler. Einen ganz ähnlichen Wolfswandler habe ich mal gemeinsam mit Lavinya gepflegt.“ Ein trauriges Lächeln huschte über seine Lippen.
Deshalb also fühlte er sich verantwortlich.
„Ein Wandler“, murmelte Shiak. „Aber wieso hat er sich dann nicht als Erdwesen* genährt?“
„Er ist verwildert. Vermutlich hat er lange Zeit in der Wildnis gelebt und schlichtweg vergessen, dass er die Gestalt wechseln kann. Wenn sie lange Tiere waren, nehmen diese Instinkte manchmal Überhand. Tierische Sinne sind meistens sehr viel ausgeprägter als erdvölkische und im Überlebenskampf verlässt man sich dann lieber auf diese …“
⁂
Sie kehrten zum Lager zurück, ehe sich jemand über ihre lange Abwesenheit wundern konnte. Der Karren war nahezu beladen – Zynon war noch dabei, seine Fallen abzubauen und würde diese sowie eventuelle Beute verstauen müssen. Jas ging zu den Padai und begann, die Katzenpferde einzuspannen.
Das war nicht besonders einfach, obwohl er inzwischen Erfahrung hatte. Ein Paidokolos mochte weder Geschirr noch Maulkorb. Jas überredete sie meistens mit ein paar Streifen Speck oder einem kleinen Vogel, sich in die Riemen legen zu lassen. Die Maulkörbe würde er Mineys und Acadhisa gerne ersparen. Wären sie ohne andere Teilnehmer unterwegs, würde er es sogar tun können, doch mit einer Gruppe, die ständig um die Zugtiere herumwuselte, war es einfach zu gefährlich. Der Biss eines Paidokolos konnte bis zum Knochen dringen und die Katzenpferde bissen rasch und gnadenlos zu. Selbst Jas konnte die Warnzeichen nicht immer rechtzeitig lesen. Während der Reise ständig aufzupassen war schlicht unmöglich.
Schließlich traf auch Zynon ein, behängt mit Seilen, mehrere Käfige in der Hand.
„Wir hatten einen Fisch in der Reuse“, teilte er ihnen mit und präsentierte einen ziemlich großen Karpfen.
„Oh, den nehme ich.“ Giorgio bekam gleich leuchtende Augen. „Im Dschungel werden wir nicht mehr viele von denen bekommen.“
„Ach, hier und da gibt es noch Teiche.“ Zynon zuckte mit den Schultern und warf seine Ausrüstung mit einem hörbaren Rumms auf den Karren. „Können wir dann?“
Jas kletterte auf den Karrenbock. „Kennst du einen guten Weg?“, fragte er den Jäger.
„Ich kannte mal alle Wege hier. Weiß nicht, wie viele davon noch begehbar sind.“ Er ging voraus und Jas lenkte den Karren hinter ihm her in den Wald hinein.
Die Salbäume standen nicht so dicht wie es an anderen Stellen im Dschungel üblich war. Zwischen ihnen wuchsen Farne, Büsche und Setzlinge etwa auf die Höhe von Zwergenköpfen, doch über diesen war es bis unter die Kronen leer. Mineys und Acadhisa fanden ihren Weg zwischen den meist weichen Büschen hindurch. Jas hoffte, dass es so weitergehen würde. Er wollte die Padai nicht zurücklassen, einer der Gründe, warum er eigentlich für die Küste gestimmt hatte. Dort hätten die Karren vermutlich genug Platz gehabt. Ihm graute davor, was geschehen mochte, wenn der Karren im Unterholz nicht mehr weiterkäme.
Bis zum Mittag kamen sie gut voran. Hier machte Giorgio ihnen die versprochenen Reissnacks fertig und servierte dazu eine Suppe, in die er Unmengen an Brot und mehrere Stücke Salami schnitt. Die Pause gestaltete sich länger, als Anilas vorgesehen hatte – Jas erkannte sofort, wie nervös sein Freund hin und her rutschte.
„Wir sollten dann auch weiter“, sagte Anilas, kaum dass der letzte aufgegessen hatte.
„Erst müssen wir den Abwasch machen!“ Giorgio bewies eine deutliche Abneigung gegen Befehle. „Und zu einem ausgewogenen Mittagessen gehört eigentlich auch immer eine ausgedehnte Siesta.“
Anilas knirschte leicht mit den Zähnen. „Wir helfen dir beim Abwasch.“
Es gab keinen Fluss mehr in der Nähe, also reinigten sie das Geschirr mit trockenem Sand und Tüchern. Sobald alles verstaut war, zogen sie weiter. Anilas stieg zu Jas auf den Karren und knirschte dort weiter mit den Zähnen.
„Hast du Spaß, Boss?“ Jas grinste.
„Fang du nicht auch noch an.“ Anilas seufzte.
„Was denn? Du bist unser hochgeschätzter Expeditionsleiter.“
Anilas schüttelte leicht den Kopf. „Es hätte keine schlechtere Wahl für diese Arbeit geben können.“
„Jetzt mach dich nicht kleiner, als du bist. Die Akademie hat dich aus einem Grund ausgewählt. Wegen deiner Forschung und deiner Qualitäten. Außerdem willst du das hier doch. Da muss man eben auch die Verantwortung ertragen.“
Anilas schüttelte den Kopf. Er sah zurück, atmete tief durch und sagte dann leiser: „Ich will das nicht.“
„Was meinst du?“
„Ich … ich mache das nicht freiwillig.“ Verstohlen sah Anilas sich um und Jas begriff, dass etwas tatsächlich im Argen lag. „Ich wollte nie wieder herkommen.“
„Wieder? Aber …“
„Ich habe hier mal gewohnt. Ganz wie Zynon“, fuhr Anilas leise fort. „Als der Fluch begann, musste ich fliehen. Und … ich hatte nichts bei mir. Gar nichts, außer der Kleidung am Leib.“
Jas sah in die Augen seines Freunds. „Wie hast du die Gebühr der Akademie bezahlt?“
„Gar nicht.“
„Gar …!“ Jas merkte, dass er fast geschrien hätte, und senkte die Stimme. „Du bist eine Kellerratte!“
Anilas lächelte zur Antwort nur schief.
„Und die Expedition?“
„Meine Strafe. Ich wurde natürlich erwischt. Ein Professor meinte, dass meine Arbeit wirklich beeindruckend wäre – ich habe versucht, den Fluch zu ergründen und alle Berichte gesammelt. Wenn ich das hier schaffe, darf ich richtig studieren. Wenn nicht … nun.“
Wenn etwas schief lief, würde Anilas nirgendwo mehr studieren können. Jas schluckte. Natürlich hatte er gewusst, dass diese Reise gefährlich sein würde, doch zu wissen, dass Jas nicht einmal ein Student war, geschweige denn promoviert, schien alles noch schlimmer zu machen.
„Ich würde es verstehen, wenn du umkehren willst“, sagte Anilas leise. „Ich habe dich immerhin angelogen. Bitte sag es nur dem Rest nicht. Sonst bereitet Giorgio nächstes Mal mich zu.“
Jas lachte nicht über den Witz. „Wurdest du überhaupt vorbereitet? Hast du die grundlegenden Kurse belegt? Das Studienreise-Handbuch?“
Anilas wich seinem Blick aus. „Ich sagte ja, ich eigne mich eigentlich nicht als Anführer.“
„Kein Stück.“ Jas schüttelte entgeistert den Kopf. „Und das Budget? War das auch eine Lüge?“
„Es ist knapp, aber etwas Geld habe ich bekommen.“ Anilas sah wieder auf. „Und eines musst du mir glauben: Ich weiß alles, was es über den Fluch zu wissen gibt. Ich habe jede Quelle studiert, und war sie noch so belächelt. Ich wollte immer nur ein Heilmittel finden.“
Jas schwieg. Seine Gedanken galten Lavinya. Der Gedanke, umzukehren, kam für ihn gar nicht in Frage – außer, um sich an die Küste zu begeben. Dort gab es eine kleine Insel, die sie ‚Zuflucht‘ getauft hatten. Falls Lavinya noch lebte, dann an einem solchen geschützten Ort. Er könnte Anilas‘ Lüge offenbaren, sich mit dem Rest zur Küste aufmachen, Lavinya suchen und sie heimbringen.
Aber vielleicht war sie ja gar nicht auf der Insel. Und wäre es nicht viel besser, den Fluch zu beenden, statt sie von einer sicheren Insel zu holen? Er tastete ratsuchend nach dem Amulett, doch er erhielt keine Antwort.
Er hatte schon einmal versucht, in diesem Dschungel zu helfen, und das war nicht gut ausgegangen. Um Lavinya und Dathina zu retten, brauchte er jede Hilfe, die er kriegen konnte.
„Schon in Ordnung.“ Er lächelte Anilas an. „Ich werde nichts sagen. Ich finde aber, du solltest dem Rest irgendwann alles erzählen. Sie verdienen die Wahrheit.“
Anilas nickte zögerlich. „Vielleicht eines Tages … Ich glaube, es würde ihnen mehr Angst machen als sie bereits haben.“
„Und das könnte die Gruppe auseinanderbrechen lassen“, murmelte Jas, der begann, Anilas‘ Gedankengang zu verstehen.
„Exakt.“
Sie sahen nach vorne, über die gebeugten Rücken der Katzenpferde auf den Dschungel. Unter den Salbäumen war es dunkel, obwohl irgendwo über ihren Wipfeln die Sonne der Trockenzeit glühte. Es war warm, fast schon stickig, und sie mitten im Land der Gefahr.
Sie durften sich keine Fehler erlauben.
⁂
Die Reste hatten diesmal fruchtigen Mangogeschmack und kein Fleisch. Thuli kümmerte sich wenig darum, denn er konnte ja immer noch jagen, wenn er etwas mehr im Magen hatte.
Nachdem er die Umgebung sorgsam auf Seile abgesucht hatte, hatte er sich doch wieder ins Lager vorgewagt. Dabei hatte er sich nach der Nacht im Baum vorgenommen, nach Hause zurückzukehren. Doch es war Trockenzeit. Wie könnte er einer leichten Mahlzeit da widerstehen?
Der dunkle Wolf grub auch die letzten Reste auf, doch besonders viel war nicht übriggeblieben. Witternd suchte er die Spur der lärmenden Gruppe und folgte den Duftmarken.
Sie hatten ihr Verhalten geändert. Ob es an der Begegnung lag? Nun jedenfalls zogen sie tiefer in den Wald, weg vom Fluss.
Thuli fühlte sich in der Deckung des Waldes ohnehin wohler. Er konnte bis zu einem gewissen Grad sogar auf Bäume klettern, auf die schiefgewachsenen Pflanzen des äußeren Dschungels natürlich besser als auf die hohen, geraden Salbäume ohne niedrige Äste. Im dichten Unterholz konnte er leicht entwischen. Jedoch hatte er keine Sorge, dass es sich bei dieser merkwürdigen Gruppe um Wilderer handelte. Sie nutzten ganz andere Fallen.
Was also wollten sie hier? Der Wandler fand keinen Hinweis, während er ihnen den Tag über folgte. Sie holzten keine Bäume ab und befreiten nicht einmal die Wege von Bewuchs. Aber es war auch keine Reisegruppe von Jägern. Er glaubte, Düfte wahrzunehmen, die er mit Priestern verband, doch es war auch keine reine Priestergruppe.
Forscher? Jäger? Reisende? Thuli war trotz aller Vorsicht auch von Natur aus neugierig. Wenn er genau darüber nachdachte, dann stammte seine Vorsicht aus Schwierigkeiten, in die ihn seine Neugier gebracht hatte.
Es war am Abend, er konnte den Lärm des Lagers bereits hören, als er einen neuen Geruch wahrnahm. Misstrauisch verließ er den Weg und folgte dem Geruch zu einem nahen Baum.
Dessen Rinde war gesplittert und mit Krallenspuren versehen. Die Duftmarke war nur eine weitere Verteidigungslinie.
Etwas Großes hatte diese Markierungen angebracht. Thulis kurzes, dunkles Fell sträubte sich. Solche Markierungen zu ignorieren konnte ebenfalls viel Ärger bedeuten …
Er sah zum Lager, dessen Feuerschein zwischen den Bäumen hindurchdrang. Die Gruppe mit dem freundlichen Mann war mitten ins Revier dieses Unbekannten gezogen.
⁂
Giorgio strahlte in die Runde und wartete sichtlich auf Lob. Zynon starrte entmutigt auf seinen schwerbeladenen Teller. Banane, Reis, Mango und Hühnerfleisch flossen beinahe über den Rand. Der Jäger wagte kaum, mit einer Hand loszulassen, um die Gabel zu ergreifen.
Es war wirklich köstlich, da konnte man nicht meckern. Die Bananen hatte er am Mittag entdeckt, als er eine Wachrunde um ihr Lager gedreht hatte, wie den ganzen Tag schon den Wurfspeer in der Hand. Sie waren überreif und sehr aromatisch.
Aber die Portion war gigantisch. Zynon fragte sich, wie er in seinem Bauch Platz dafür finden sollte.
Schließlich schaffte er es, den Teller auf einer Hand zu balancieren und zu essen. Ein weiteres saftiges Reisgericht. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte Giorgio sich das bei ihrem gemeinsamen Restaurantbesuch in Yamayini gemerkt. Genauso wie das Rezept mit den Auberginen.
Niemand von ihnen sprach viel, während sie aßen. Sie waren alle erschöpft. Den Tag über waren sie besonders wachsam gewesen und das forderte jetzt seinen Tribut. Zynon überlegte bereits, wie sie die Nachtwache durchstehen sollten.
Merkwürdige Geräusche ließen ihn aufhorchen. Er stellte den zur Hälfte leeren Teller ab und griff nach dem Wurfspeer. Dieses japsende Bellen klang doch beinahe wie …
„Ein Wolf!“, kreischte Viya und sprang auf.
Zynon wirbelte in die Richtung herum, in die die Priesterin sah, und fand sich Auge in Auge mit einem mageren Wolf, dessen struppiges, schwarzes Fell in alle Richtungen abstand. Er hob den Wurfspeer.
„Nicht!“, rief Jas und Zynon verharrte.
„Ist der immer noch hinter uns her?“, knurrte er. Mit ausgreifenden Bewegungen wedelte er mit dem Speer. „Verschwinde! Kusch!“
Der Wolf bleckte die Zähne und stieß ein weiteres heiseres Bellen aus. Viya schrie. Zynon sah, dass Dhunya und Rikhon ihre Waffen ebenfalls gezückt hatten, Jas ihnen aber in den Weg gesprungen war. Asherah und Anilas waren zu den Padai zurückgewichen. Sie waren im Kampf nutzlos, typisch für die Akademieleute. Giorgio schwang einen Löffel. Shiak stand unschlüssig herum, das leuchtende Schwert gezückt.
„Lasst ihn in Ruhe!“, rief Jas.
„Wir müssen ihn vertreiben“, widersprach Zynon. „Streunende Wölfe, die keine Scheu haben, sind eine echte Gefahr.“
„Er wird uns fressen!“, quiekte Viya.
„Uns vielleicht nicht, aber er würde durchaus in ein Dorf schleichen und Vieh reißen. Oder Kinder.“ Zynon wedelte wieder nach dem Wolf. „Hau ab!“
Der schwarze Wolf wich auch zurück, machte ein paar merkwürdige Sprünge und blieb dann stehen. Zynon wartete nicht ab, bis Jas Vernunft annahm, sondern rannte dem Tier nach. Verletzen wollte er den Wolf nur, wenn es nicht anders ging, aber er musste ihm unbedingt Angst machen.
Der Wolf blieb ohnehin außer Reichweite des Wurfspeers, hielt aber jedes Mal in Sichtweite an. Als Zynon beschloss, zum Lager zurückzukehren, lief der Wolf gar wieder auf ihn zu.
„Oh nein, Freundchen!“ Zynon rannte wieder los und stieß ein paar laute Schreie aus. Der Wolf floh, verharrte kurz an einer Stelle, drehte dann vollends um und rannte in den Wald, als er sah, dass Zynon nicht anhielt.
Sobald der Wolf weg war, atmete der Jäger erleichtert durch. Als er sich umsah, bemerkte er, dass der Boden hier auffällig aufgewühlt war. Es sah ganz so aus, als hätte der Wolf nach etwas gegraben. Vorräte, würde Zynon vermuten, da sie diese für gewöhnlich am Morgen in der Erde vergruben. Offenbar hatte der Wolf gelernt, diese auszugraben. Bei solchen Mengen, wie teilweise zurückblieben, lohnte sich die Mühe ja auch.
„Ich bringe Giorgio um.“ Zynon wollte schon losstapfen, als ihm ein größerer Fußabdruck zwischen den Wolfstapsern auffiel. Er ging in die Hocke.
Etwas atemlos kam ein Teil der anderen bei ihm an. Jas und Shiak führten einen kleinen Stoßtrupp an, zu dem noch Dhunya, Rikhon und, erstaunlicherweise, Anilas gehörten.
„Alles in Ordnung, Zynon?“, erkundigte sich der Expeditionsleiter sofort.
„Sind das Wolfsspuren?“ Jas betrachtete das Gewühl.
„Nicht nur.“ Zynon wies auf die größere Spur. „Der Wolf hat hier gegraben, aber diese Prankenspuren hat er nicht versehrt.“
„Was ist das?“ Dhunya beugte sich vor. „Ein Bär?“
„Ich vermute es …“ Zynon war sich nicht ganz sicher. Irgendwas passte nicht zusammen, doch er konnte den Finger nicht darauflegen. „Auf jeden Fall bedeutet es Ärger.“
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*Erdwesen: Oberbegriff für Menschen, Elfen und Zwerge. (Im Grunde die Alternative für Formulierungen wie „menschenleer“ oder „Menschlichkeit“, die auch Spitzohren und Kurzgroße einschließt.)