Kapitel 15: Was im Dschungel verborgen liegt
Die Stimmen wurden lauter, und mit ihnen das Knurren. Die Worte flogen zu wild durcheinander, als dass Zynon die Sätze oder auch nur mit Sicherheit die Sprache erkennen könnte. Einige der langen, harsch betont ausgesprochenen Worte mochten Hephassoi sein, die Gelehrtensprache der Dschungel. Nur selten hörte er die kurzen, tonalen Wortfolgen vom Pan Yoo Ri, eine gehobene Alltagssprache, ebenso heimisch wie das Kham, welches Zynon bevorzugte.
Hephassoi war die Sprache der Akademien. Trotz aller Vorsicht spürte er Hoffnung in sich aufflackern. Sollten sie nach all den Wochen endlich auf Erdwesen gestoßen sein? Vernünftige Wesen, die ihnen mehr verraten, ihnen vielleicht sogar helfen konnten?
Der Jäger ließ diese Hoffnung jedoch nicht gewinnen. Nicht nach dem Zusammentreffen mit den Piribis. Mit mahnendem Blick zu seinen Gefährten legte er den Finger vor die Lippen. Denn gemeinsam mit den Rufen kam auch tiefes, grollendes Knurren näher. Ein zorniges Wildtier, offenbar ein Spitzenprädator, denn es musste sich nicht auf Heimlichkeit verlassen. Wenn Tiere derartig laut waren, fühlten sie sich entweder in die Ecke getrieben oder unangreifbar. Beides waren keine ermutigenden Theorien.
Zynon suchte nach einem möglichen Ausweg. Der Lärm war bereits überall um sie herum. Es waren viele Wesen, die sich mit zunehmend weniger Rufen, offenbar exakten Richtungsangaben, organisierten. Wenn ihre Gruppe noch aus der Falle fliehen wollen würde, brauchten sie einen guten Plan. Alles, was Zynon momentan hatte, war ein Seil. Mit diesem könnten sie eventuell in die Baumkronen steigen …
Aus dem Augenwinkel sah er, dass Viya loslief. Er wirbelte herum und erwischte ihren Arm. Bei allen Göttern, er hatte ihnen doch eben bedeutet, dass sie leise abwarten sollten! „Was wird das?“
„Fürchte dich nicht, Zynon. Aithara schützt uns, ihre segnende Hand schwebt über uns. Sie verlangt, dass wir das Licht teilen, auf dass es sich mehre und die Finsternis des Dschungels vertreibt.“
Verklärt lächelnd sah sie ihn an und lehnte sich sanft, jedoch mit allem Gewicht, gegen seine Hand.
Seine Stimme klang gepresst vor Anstrengung, doch er versuchte, seine Ungeduld hinter einem krampfhaften Lächeln zu verbergen. „Was … soll das … heißen?“
„Wir müssen diesen Seelen Aitharas Licht zeigen.“ Viya deutete in den Wald.
„Lass uns erst einmal sichergehen, dass es nicht wieder Piribis sind!“
„Hast du nicht zugehört? Aithara beschützt uns. Es droht keine Gefahr.“
Allgemein achtete Zynon die Götter sehr hoch, auch Aithara, obwohl er weit von deren Tempel entfernt lebte. Doch im Moment würde er weltliche Vernunft bevorzugen. Er sah zu Asherah.
„Ich glaube nicht, dass es noch derselbe Schwarm sein könnte. Es klingt anders als die Piribis.“ Die Wissenschaftlerin sah ihn ernst an. Sie hatte ihren Säbel gezogen, doch sie wirkte nicht alarmiert, jedenfalls nicht in dem gleichen Maße wie Zynon.
Niemand von den anderen schien ernsthaft mit einem Angriff zu rechnen, obwohl wenigstens nicht alle wie Viya sofort losrennen wollten. Zynon beschwor die Priesterin mit einem flehenden Blick, wenigstens noch einen Moment zu warten. Dann stellte er sich über den bewusstlosen Shiak. Oder eher die bewusstlose Shiak. Er würde sich umgewöhnen müssen.
Dann waren die Fremden auch heran. Krachen brachen große, knurrende Wesen durch das Gebüsch auf allen Seiten. Zynon, Asherah und die meisten anderen drängten sich Rücken an Rücken zusammen. Giorgio kniete auf der Erde und verkündete unter lautem Wehklagen, er sei nur der Koch und alle anderen würden besser schmecken, und Viya empfing die großen, goldgefellten Wölfe mit zur Umarmung ausgebreiteten Armen.
Es waren riesige Wölfe, mit Fell in der Farbe von reifem Weizen. Auf dem Rücken – der so hoch lag wie ein ausgewachsener Mensch oder Elf – sträubten sich große Federn, golden mit geringeltem, braunem Muster. Durchzogen war das Fell von grünem Efeu, wie man ihn sonst höchstens um besonders alte Statuen fand.
Ein gutes Dutzend dieser Wolfskreaturen bildete einen knurrenden Ring um Zynon und die anderen. Ihnen folgte der Schein von Fackeln und mehrere Erdwesen traten zwischen den Wölfen hervor.
Elfen. Menschen. Eine Handvoll Zwerge. Sie trugen merkwürdige Kleidung, die Zynon sofort ins Auge fiel. Einfache Stoffe, teilweise aus Fetzen zusammengenäht, teilweise durch Pflanzenfasern ersetzt, wie sie sonst nur von den ärmsten Tiermenschen getragen wurde. Gezeichnet war die Kleidung jedoch von Stickereien und Bemalungen in gelber Farbe, vermutlich von Blüten aus dem Dschungel. Sie ähnelten den Zeichen der Tempel, enthielten aber kein Zynon vertrautes Symbol. Wo Viya die Sonne ihrer Göttin zur Schau trug, zeigte die Kleidung der Fremden eine kleine Person auf einem schwebenden Podest.
Auch die Waffen dieser Leute waren mit einfachsten Mitteln gefertigt. Geschnitzte Speere, Obsidianklingen. Sie waren mit gelbgefärbten Bändern und Schnitzereien verziert.
Zynon behielt die urtümlichen Waffen wachsam im Blick. Viya hielt die leeren Hände so, dass diese gut zu sehen waren. Giorgio war beim Anblick der riesigen Wölfe verstummt.
Eine Weile sahen die beiden Gruppen einander an, ohne dass ein Wort gesagt wurde. Die Wölfe knurrten leise, machten jedoch keine Anstalten, anzugreifen.
Schließlich trat ein Menschenmann vom Flussvolk vor, mit blasser Haut und dem typischen grauen Haar der Strömungsnomaden. Seine muskulösen Arme deuteten auf Kampferfahrung hin, und auch er trug gelbe Bemalungen, die auf der hellen Haut jedoch kaum sichtbar waren.
„Nun, nun, nun“, murmelte der Mann und verschränkte die Arme. „Was haben wir denn hier?“
⁂
Die plötzliche Ruhe, nachdem die Wölfe und die Zweibeiner offenbar zur Jagd aufgebrochen waren – warum sonst sollten sie ihr Revier in diesem Stil verlassen? – bedeutete für Thuli vor allem eine Chance.
Noch immer roch er das Fleisch, das die großen Wölfe und ihre Rudelmitglieder lagerten. Jetzt waren plötzlich alle Zweibeiner fort und niemand geblieben, der das Fleisch bewachen konnte. Die Gelegenheit musste er nutzen!
Also wagte er sich wieder hinein in das Gebiet der riesigen Wölfe. Thuli schlich in der Deckung der eckige Hügel vor, bäuchlings im hohen Gras, das um den Fuß der Hügel spross. Er witterte, als er den äußeren Ring der Hügel passierte. Fleisch befand sich ganz in der Nähe. Doch obwohl alles still war, wurde Thuli nicht unvorsichtig. Der gesamte Platz roch nach Erdwesen und diesen merkwürdigen Riesenwölfen. Falls irgendeiner hiergeblieben und nun bloß leise war, hätte Thuli keine Warnung.
Er machte die Quelle des köstlichen Geruchs aus. Einer der eckigen Hügel, wie könnte es anders sein. Es gab zwei Öffnungen auf der Innenseite. Die eine ließ sich mit einer Klappe verschließen, die andere, kleinere, war mit bunten Tüchern verhangen. Die Klappe machte Thuli Sorgen. Er kannte sie aus Fallen und wusste, dass sie innerhalb von Sekunden aus einer Öffnung eine Wand machen konnten. Mit etwas Abstand schlich er zum Eingang, während seine Ohren unablässig zuckten. Er hörte Insekten schwirren und Gras rascheln, die fernen Rufe aus dem Dschungel, aber keine Geräusche, die auf Gegner in der Nähe hindeuten konnten.
Endlich erblickte er das Fleisch. Es lag, etwas erhöht, auf einer Holzkonstruktion im Inneren der Höhle. Fast schon einladend, allerdings verdächtig weit hinten.
Ja, es war eindeutig eine Falle. Thuli legte sich auf die Erde und lauschte. Das Fleischstück war frisch, keinen Tag alt. Er roch Blut. Offenbar hatte ein Zweibeiner Scheiben abgeschnitten und die Arbeit unterbrochen, als Alarm geschlagen worden war.
Wieso waren sie überhaupt aufgebrochen, wenn sie noch so viel Beute hatten? Oder reichte es nicht für ein so großes Rudel? Andererseits – das hatte Thuli oft beobachtet – waren Zweibeiner irgendwie nie zufrieden.
Er leckte sich die Lefzen und wog das Risiko ab. Viele Fallen reagierten auf Druck, wenn man das Fleisch stehlen wollte. Dafür kam ihm diese Höhle aber etwas zu groß vor. Wenn jemand hinter der Klappe stand, konnte ihn also eigentlich auch niemand einsperren.
War es das Risiko wert? Sein Magen rumorte leise. Auf dem Bauch robbend kroch Thuli ein Stück vor. Er sah zum Wald. Täuschte er sich, oder wurde der Lärm des merkwürdigen Rudels lauter? Ihm lief die Zeit davon.
Dann fasste er sich ein Herz und rannte los.
Noch im Eingang sah er, dass er sich verschätzt hatte. Denn es lag wirklich ein großer Federwolf hinter der Klappe, der sofort knurrte und bellte, als Thuli an ihm vorbei ins Innere huschte.
Auf der Schwelle schien sich die Zeit zu dehnen. Thuli kam es vor, als hätte er ewig Zeit, um sich seine nächsten Schritte zu überlegen. Er brauchte nicht lang, um den Plan zu fassen, denn wie immer rechnete er mit allem, wenn er eine solche Falle betrat.
Er lief weiter, schlug einen Haken um den knurrenden Wolf herum und sprang auf die Plattform, wo er das große Stück Fleisch mit den Zähnen packte. Einen der abgeschnittenen Streifen trat er dem grüngoldenen Wolf entgegen, was ihm zwar nicht viel Zeit erkaufte, aber dafür genug.
Mit einem Satz war er samt seiner Beute durch die kleinere Öffnung gesprungen. Die Tücher zerriss er mit den Pfotenkrallen. Das war sein Alternativplan gewesen, wenn irgendetwas Merkwürdiges mit der Klappe sein sollte. Der japsende Wolf hatte es diesmal nicht geschafft, diese Klappe zu schließen, aber selbst wenn, hätte es ihm nicht viel gebracht.
Thuli zischte auf die Lücke zwischen den eckigen Hügeln zu. Der Wolf kam aus der Öffnung, setzte knurrend zur Verfolgung an, doch er musste erst einmal Geschwindigkeit aufbauen, während Thuli, auch mit der Beute im Maul, förmlich über die offenen Felder zwischen den eckigen Hügeln und dem sicheren Waldrand flog. Noch ehe der Verfolger auch nur die Hälfte der Strecke geschafft hatte, kletterte Thuli bereits auf den ersten Baum, um den größeren Wolf von seiner Spur abzubringen. Eine Weile konzentrierte er sich allein darauf, durch die Äste und Baumkronen zu klettern, bis das Knurren des großen Wolfes schließlich leiser wurde und zurückblieb.
Triumphierend suchte Thuli nach einem stabilen Ast in vertrauenserweckender Höhe, um seine Beute zu verspeisen. Er hatte einen Bogen geschlagen und sich der vertrauen Duftspur der kleinen Gruppe genähert, der er folgte. Jetzt legte er sich auf einen breiten Ast, ließ die Hinterbeine baumeln und riss kleine Stücke aus dem Fleisch, das nach so einer Verfolgungsjagd umso süßer schmeckte.
⁂
Der Flussmensch stellte sich als Jhasaynil vor. Er war offenbar ebenfalls ein Jäger oder ein Fischer, jedenfalls ließ er durchblicken, für die Nahrungsbeschaffung der Gemeinschaft verantwortlich zu sein. Seine Freundlichkeit gab Zynon das Vertrauen, dass sie wirklich eine Siedlung mitten im Dschungel entdeckt hatten.
Die Erdwesen wirkten erst einmal freundlich. Jhasaynil sah sich Shiaks Wunden noch einmal an, dann wurde eine Trage gebastelt, auf die die Verletzte gebettet wurde. Die Reisenden wurden in die Mitte des größeren Trupps genommen und durch den nächtlichen Wald geführt.
Dabei merkte Zynon jedoch, wie zurückhaltend die Fremden waren. Jas fragte sie sofort nach seiner Familie, erntete jedoch nur Schweigen. Auch Asherahs Versuch, mehr über die Lebensweise und die Waffen der Unbekannten zu erfahren, versickerte in Schweigen. Nur Viya erhielt eine Reaktion, als sie ihre Helfer als Gesandte Aitharas pries.
„Die alten Götter haben dieses Land verlassen“, knurrte ein Elf grimmig, der an der Seite eines der großen Laubwölfe ging. „Aithara besitzt hier keine Macht mehr – nur die wiedergeborene Kumari* herrscht hier.“
Viya verstummte auf diese Worte hin erschrocken. Zynon tauschte einen Blick mit dem Rest. Ein Ort ohne Götter? Wo nur diese Kumari herrschte? Einen Gott dieses Namens kannte er nicht, allerdings waren ihm auch nicht alle Götter geläufig. Als Jäger genügten ihm die Götter der Jagd und die drei Hauptgötter, insbesondere Torobari, der Gott des Todes.
Was mochte diese fremde Gottheit hier bedeuten?
Von den Fremden erhielten sie jedenfalls keine Antworten mehr. Sie wurden in ein Dorf gebracht, eine Ansammlung von zwei Dutzend Hütten in zwei Ringen, die an einen steilen Felsen angrenzten, auf dessen Spitze ein Licht noch mindestens eine weitere Hütte erahnen ließ. Die meisten Gebäude bildeten einen schützenden Ring, um den außen kahle Felder aus dem Dschungel gerodet worden waren. In der Mitte des Rings standen die Hütten kreuz und quer, offenbar die Relikte eines einst friedlichen Dorfes, ehe neue Häuser und Lagerhütten mit Blick auf die neuen Gefahren nach dem Vorfall in Tipanyaaris errichtet worden waren.
Ja, es sah aus, als hätten sich die Bewohner hier damals zusammengerottet und würden seitdem im Dschungel ausharren. Zehn Jahre, in denen diese einfachen Leute ihr Leben der zunehmend feindlichen Wildnis abgekämpft hatten.
Der Forschergruppe wurde ein Platz in einem der länglichen Lagerhäuser zugeteilt. Dieses stand leer, was Zynons Vermutung bestärkte, dass die Gebäude vor allem eine Schutzfunktion erfüllen sollten.
„Ruht euch aus“, sagte Jhasaynil freundlich. „Bitte verzeiht die Wachen – aber wir müssen sichergehen, dass ihr nicht doch eine Art Fluchwesen seid. Morgen früh könnt ihr mit unserer Anführerin sprechen, und danach werden wir auch gerne all eure Fragen beantworten.“ Der Flussmensch lächelte. Im Gegensatz zu allen im Dorf vermittelte er ihnen nicht das Gefühl, dass sie ein gefährlicher Fremdkörper seien. „Hier seid ihr heute sicher. Das ist nach einer Reise, wie ihr sie hinter euch haben müsst, sicherlich eine erfreuliche Abwechslung.“
Sie dankten dem Jäger und dieser ging, nachdem er noch einmal gefragt hatte, ob sie mehr Kissen oder etwas zu Essen benötigten. Sie hatten abgelehnt und kauerten sich mit ihren Vorräten und den Karren in eine Ecke des Lagers.
„Ich hätte nicht erwartet, dass hier noch so viele Erdwesen leben“, murmelte Jas halblaut. Er klang hoffnungsvoll.
„Pah“, grummelte Giorgio dagegen. „Wir und Fluchwesen! Diese Leute sind paranoid. Und überhaupt, wer sagt uns, dass sie nicht in Wahrheit Fluchwesen sind und uns mitten in der Nacht fressen wollen?“
„Du kannst ja gerne Wache halten“, schlug Rikhon gähnend vor. „Aber Fakt ist, dass wir lebende Erdwesen hier gefunden haben! Der erste Teil unseres Auftrags ist also erfüllt.“
In dem Fall, dachte Zynon bei sich, hätte ihre Mission weitaus mehr Teile als nur, den Fluch zu beenden und eventuelle Überlebende zu retten. Denn das Dorf zu finden war vielleicht ein erster Schritt, diesen Leuten hatten sie damit aber noch lange nicht geholfen!
Schließlich schlief er ein, obwohl ihm immer noch unzählige unbeantwortete Fragen im Kopf herumschwirrten. Doch Jhasaynil hatte richtig erkannt, dass die Gruppe nach ihrer langen Reise durch die Wildnis vor allem einen Moment der Sicherheit benötigte.
⁂
Giorgio war der einzige, der noch herzhaft schnarchte, als die Tür zum Lager am späten Morgen des nächsten Tages geöffnet wurde. Jhasaynil trat herein, in den Händen einen großen Topf Reis, auf dem sich leere Schüsseln türmten. Ihm folgten sechs Bewaffnete, von denen einer ein Bündel Wasserschläuche trug und ein weiterer eine größere Schale mit Soße, die offenbar aus Wurzeln, Gemüse und scharfen Gewürzen bestand.
Für ihr Frühstück verteilten sie die Soße in ihrer Reisschale und tranken das saubere Wasser dazu. Giorgio bestand darauf, einige ihrer mageren Vorräte mit in die Soße zu schneiden, um diese ‚aufzupeppen‘, und niemand war gewillt, sich mit dem Koch anzulegen. Jas‘ Gedanken kreisten vor allem um seine Familie. Wenn die Menschen in diesem Dorf zehn Jahre überlebt hatten, dann konnte das auch anderen gelungen sein. Vielleicht waren Lavinya und Dathina sogar hier und er hatte sie gestern in der Menge nicht gesehen, sowie sie ihn nicht erkannt. Oder es gab noch andere Siedlungen wie diese!
Er umfasste das Amulett der Verbundenheit, das sich heute warm anfühlte. Kein Zweifel, Lavinya lebte noch! Und vielleicht war er ihr näher, als er dachte.
Shiak blieb auch heute bewusstlos, was aber laut Jhasaynil nicht verwunderlich sei. Nachdem der Jäger sich ihren Bericht angehört hatte, murmelte er nachdenklich: „Ihr seid offenbar dem Blutmond begegnet. Eine Art Panter, dort irgendwo beginnt sein Gebiet. Er besitzt Gift, allerdings ist es ein sehr schwaches Gift. Ihr müsst euch um euren Freund also nicht sorgen – er wird nur seine Zeit brauchen, um wieder zu sich zu kommen.“
Jhasaynil war sehr nett, Jas mochte ihn. Der Jäger gab sich alle Mühe, ihre Zweifel und Sorgen zu zerstreuen. Während der Rest des Dorfes zunächst noch skeptisch wirkte, versicherte Jhasaynil ihnen, dass das nicht persönlich gemeint sei und sich geben würde.
Der Jäger blieb auch während des Frühstücks bei ihnen. Sobald alle fertig waren, rief Jhasaynil einen Heiler herbei, der bei Shiak bleiben würde, und bat den Rest, alle Waffen abzulegen.
„Ihr werdet nun unsere Anführerin treffen. Es ist jedoch nicht gestattet, in ihrer Nähe Waffen zu tragen. Auch sollt ihr ihr nicht in die Augen sehen, keine Magie wirken und ihr dürft ihr nicht widersprechen.“
„Tolle Anführerin“, brummte Dhunya. „Und wenn sie mal einen Fehler macht?“
Ein leises Lächeln huschte über Jhasaynils Gesicht. „Sie ist eine reinkarnierte Göttin, die Göttin Kumari. Götter machen doch keine Fehler.“
Der Tonfall des Jägers war versteckt ironisch, was ihn Jas noch sympathischer machte. Nur auf ihre Fragen hatte auch Jhasaynil nicht geantwortet. Es sei die Entscheidung der Anführerin, ob man ihnen trauen könnte, deren Urteil auch der Jäger nicht vorgreifen wollte.
Bis auf Shiak begleiteten sie Jhasaynil nun zum Fuß des Berges, der auf der Nordseite an den Ring der äußeren Hütten grenzte. Der Kalkfelsen ähnelte einem einzelnen Zahn, der in den Himmel ragte. Er war dicht mit verschiedenen Pflanzen überwuchert, der Aufstieg gelang jedoch nur über eine Reihe aus steilen, außen befestigten Treppen. Teilweise mussten sie Strickleitern hinaufklettern, deren Seile aus Pflanzenfasern bestanden. Sowohl Jhasaynil als auch Zynon behaupteten, dass die Pflanzen sehr stabil seien, aber Jas fühlte sich trotzdem unwohl.
Sie hielten auf einer Plattform ein Stück unterhalb der Spitze. Der breite Weg schien mit einfachen Mitteln aus dem Gestein geschlagen worden zu sein. Teilweise lag noch weißer Kreidestaub herum. Es wirkte, als wäre die Gemeinschaft dabei, einen ringförmigen Zuweg zu erschaffen, auf dem sie auch den Bewuchs entfernte.
Von oben kam eine Gesellschaft aus sechs Personen. Ein Waldmensch ging voraus, ein Junge, vielleicht gerade erst erwachsen. Er wirkte hager und unterernährt, obwohl er sich in alte, kostbare Gewänder kleidete, das Feinste, was Jas in diesem Dorf bisher gesehen hatte.
Hinter dem Jungen folgten vier Träger, allesamt kräftig und in schlichtes Braun gekleidet. Sie führten zwischen sich eine Sänfte aus bemaltem Holz, die vorne offen war. Darin saß, auf einem schön geschnitzten Thron, ein junges Mädchen. Sie gehörte ebenfalls zum Volk der Waldmenschen, und sie war jung. Jas kannte sich mit menschlichem Alter nicht aus, doch er würde sie auf sieben Jahre schätzen. Bei Elfen wären es fünfzehn bis zwanzig Jahre – Kinder, die noch lange nicht mit vollwertigen Aufgaben betraut wurden. Geschweige denn, als Anführer eines ganzen Dorfes leben mussten!
Die vier Träger knieten geübt nieder, sodass die Sänfte auf vier Beinen zum Stehen kam, ohne dass das junge Mädchen auch nur einmal schwankte. Die Träger hielten die Köpfe gesenkt, als wollten sie unsichtbar werden.
Der Junge ergriff das Wort. „Ihr steht vor Anadhiya Dhuleen, Reinkarnation der Göttin Kumari. Zollt ihr euren Respekt!“
Jas sah unauffällig zu seinen Gefährten, dann verneigte er sich. Der Rest neigte eher zögerlich den Kopf, Dhunya machte sogar gar keine Anstalten, sich zu verbeugen. Zum Glück fiel das bei einer Zwergin nicht auf!
Jas beschloss, das Wort zu ergreifen. „Edle Anadhiya Dhuleen, wir danken Euch, dass Ihr uns empfangt. Bitte verzeiht, dass wir keine Gaben mit uns führen, denn wir sind Suchende, die nicht wussten, was sie im Dschungel vorfinden würden.“
Das Mädchen rührte sich nicht. Sein Blick blieb kühl und abweisend. Sie trug kostbare Gewänder in Gelb und Gold, in denen das kleine, pummelige Kind fast versank.
Vielleicht hatte er sich getäuscht und sie war noch jünger. Obwohl, konnte sie mit bloß sieben Jahren Lebenszeit bereits als Anführerin der Dschungelsiedlung leben?
Jas schüttelte leicht den Kopf, um die Fragen zu verscheuchen.
„Was auch immer ihr gesucht habt, in der heiligen Anwesenheit unserer Göttin habt ihr es gefunden“, verkündete der Junge, der offenbar für sie sprach. „Meine Schwester wird entscheiden, ob ihr in der Gemeinschaft aufgenommen werdet.“
„Schwester“, murmelte Asherah halblaut. „Verstehe.“
Jas trat einen weiteren Schritt vor. Er vermied Blickkontakt mit der jungen Göttin, ganz wie Jhasaynil es ihnen geraten hatte. „Es wäre eine große Ehre, wenn wir bleiben dürften, wenigstens für eine Weile. Wir werden Eure Gastfreundschaft nicht ewig belasten, denn wir haben eine Mission. Doch einer unserer Gefährten ist sehr krank und die Dorfbewohner können uns sicherlich noch in anderen Fragen helfen.“
Zum Beispiel könnten sie etwas von seiner Familie wissen!
Das Kind rührte sich immer noch kaum. Ihre Augen waren stark umrandet, mit dickem Strich bemalt. Auch ihre Hände und die Stirn waren mit Linien bedeckt, diesmal golden, rot und sogar blau. Schmuck zierte die Handgelenke, Ohren und Knöchel des Mädchens, als hätte sie allen Besitz der Dorfgemeinschaft erhalten.
„Was für eine Mission?“, fragte der Sprecher misstrauisch. „Mir wurde berichtet, dass ihr Aithara anbetet.“
„Viya hier ist eine Priesterin aus dem Tempel Aitharas“, stellte Jas richtig. „Wir anderen sind Abenteurer oder Gelehrte. Unsere Gruppe wurde geleitet …“ Er schluckte schwer, seine Stimme klang mit einem Mal rauer. „Mein Freund Anilas hat von der Akademie Burkhadooi aufgrund seiner Forschungen den Auftrag erhalten, den Fluch von Tipanyaaris zu untersuchen und, falls möglich, zu brechen. Leider wurde uns Anilas bereits von den Fluchwesen genommen – doch wir führen seinen Auftrag fort.“
Der junge Sprecher der Göttin hob die Brauen. „Ihr wollt den Fluch brechen? Wie?“
„Das … müssen wir selbst noch herausfinden“, gab Jas zu. „Es ist die erste Mission dieser Art. Wir wollen so viel wie möglich über den Fluch lernen, ihn verstehen und dann einen Weg suchen, dieses Grauen zu beenden. Auch euch bieten wir Hilfe an! Wenn ihr dieses Dorf verlassen wollt, so können wir euch sicheres Geleit für den Rückweg versprechen.“
Das war zwar ein eher lächerliches Angebot, gemessen an ihren bisherigen Abenteuern. Die Dorfbewohner wussten vermutlich weitaus mehr als jeder in ihrer Gruppe. Dennoch fühlte Jas sich verpflichtet, diese Hilfe anzusprechen.
Der Bruder der Göttin betrachtete ihn fast spöttisch. „Nein, danke, wir sind hier glücklich. Die Göttin Kumari beschützt uns.“
„Natürlich.“ Jas verneigte sich leicht. Er wollte den Sprecher nicht erzürnen. Immerhin hing ihr Leben offenbar von der Entscheidung seiner Schwester ab. „Doch wenn ihr andere Hilfe benötigt, so sind wir bereit, zu tun, was wir können.“
Das Mädchen betrachtete sie noch immer regungslos. Als nun alle schweigend auf ihr Urteil warteten, sah sie zu ihrem Bruder. Der ältere Menschenjunge nickte kaum merklich, worauf das Mädchen sich auf dem hölzernen Stuhl etwas bequemer hinsetzte. Sie wrang die Hände ineinander und tastete dann wie hilfesuchend nach der Lehne.
„Sie dürfen bleiben, so lange sie wollen“, verkündete sie schließlich. Ihre Stimme war betonungslos und so leise, dass Jas sie beinahe überhört hätte.
„Die gnädige Anadhiya hat gesprochen“, sagte der Junge. „Solange ihr euch in unsere Gemeinschaft fügt, ist es euch erlaubt, zu bleiben.“
„Vielen Dank, Anadhiya“, sagte Jas ernst und verneigte sich erneut. Dann wandte er sich an den Sprecher, während die Träger die Sänfte anhoben, um die Göttin wieder hinaufzutragen. „Und auch Euch als ihrem Sprecher danke ich.“
„Ich bin Lydhevos“, stellte der Junge sich vor, der die verborgene Frage in Jas‘ Worten mitbekommen hatte. „Ich werde alles mit euch klären, etwa, wo ihr im Dorf arbeiten werdet.“
Gemeinsam mit Jhasaynil begleitete Lydhevos sie über die zahlreichen Treppen nach unten. Von dort ging es zunächst zum Lager, wo der Waldmensch Shiak begutachtete.
„Keine Angst. Die Macht der Göttin, die meine Schwester als Hülle erwählt hat, wird euren Freund gesunden lassen. Sie hat auch Anadhiya aus dem Tod zurückgeholt, damals, als alles begann. Seitdem zeigt sich ihre Makellosigkeit in ihrem Antlitz.“
Jas legte den Kopf schief. „Als alles begann? Vor zehn Jahren?“
Lydhevos nickte ernst. „Anadhiya wurde getötet, aber sie kehrte als Göttin wieder zu uns zurück. Sie schützt uns vor dem Fluch, der nur jene verletzt, die an ihr zweifeln. Sie hat die Goldwölfe zu uns geführt, welche uns treu Dienen.“
„Dieses Kind ist niemals zehn Jahre alt!“, stieß Rikhon verwundert aus.
Lydhevos lächelte. „Sie ist sogar sechszehn, nur wenig jünger als ich. Aber seit jenem Tag altert sie langsamer. Der Beweis, dass sie wirklich als Gefäß einer Göttin auserwählt wurde!“
Das bedeutete, dass Lydhevos etwa 17 Jahre alt war. Vor zehn Jahren war er so alt gewesen, wie seine Schwester heute noch aussah. In so jungen Jahren hatte sich das Leben der Geschwister grundlegend verändert.
„Wollt ihr vorerst im Lager bleiben? Zusammen mit den Padai?“, fragte Jhasaynil, der sich als ziemlich pragmatisch veranlagt erwies. „Die Hütten sind alle belegt, es wird nicht leicht, so viele neue Personen anders unterzubringen.“
„Das Lager ist kein Problem“, antwortete Jas, nachdem er sich mit einem Blick zu seinen Gefährten abgestimmt hatte. „Es hieß, wir sollten euch bei der Arbeit helfen? Ich würde persönlich zwischendurch ab und zu nach Shiak sehen und mich auch mit eurem Heiler abstimmen, aber ansonsten will ich meine Schuldigkeit abtragen – und der Rest sicher ebenso.“
„Meine Beraterin wird mit euch sprechen und herausfinden, wo ihr am besten unterkommen könnt.“ Lydhevos antwortete anstellte des Jägers. „Dathina sollte bald hier sein, im Moment kontrolliert sie unsere Grenzen. Nicht, dass die Unruhen der letzten Nacht Fluchwesen angelockt haben.“
Jas räusperte sich. „Was sagtet Ihr, wie sie heißt? Dathina?“ War es Zufall, dass sie den Namen seiner Tochter trug?
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*Kumari: Eigentlich die Bezeichnung für eine indische Mädchen-Priesterin, hier der Name einer davon inspirierten Gottheit