Kapitel 5: Der erste Fluch von vielen
„Und?“ Anilas beugte sich über seine Schulter.
Zynon hockte auf dem Boden und betrachtete die Spuren nachdenklich. Er hatte einen gut erhaltenen Abdruck gefunden und legte seine Handfläche in die Vertiefung.
Form und Größe entsprachen einem Bären. Die Spur war tief in den Boden eingesunken, vielleicht etwas zu tief. Was ihn irritierte, waren die drei langen Klauen. Sie gingen von den mittleren Zehen ab und waren lang wie Zynons Hand bis zur Fingerspitze. Die tiefen Rillen der Fußspur deuteten darauf hin, dass die Kreatur teilweise auf den Krallen lief. Die Hände nach vorne gekippt und die gebogenen Sicheln unterschlagen, wie … hm, vielleicht wie ein Affe sich auf den Fingerknöcheln abstützen würde, statt auf der Handfläche.
Dazu passte, dass diese Krallen allem Anschein nach nur an den Vorderbeinen sitzen würden. Die Hinterpranken waren bärenartiger, hatten aber auch längere Krallen als Bären sie besitzen würden. Und dann gab es noch eine Schleifspur. Entweder, der Bär hatte Beute mit sich geschleppt, oder er besaß einen Schwanz, der hin und wieder auf der Erde schleifte.
„Zynon? Denkst du, es ist ein Fluchwesen?“, drängelte Anilas.
„Ich denke nicht.“ Er stand schließlich auf und klopfte sich Erde von der Hose. „Ich bin mir absolut sicher. Wir haben es mit einem Mischwesen zu tun!“
Die Reaktionen der anderen waren höchst unterschiedlich. Shiak schnappte hörbar nach Luft. Jas verzog das Gesicht angespannt. Anilas wurde blass und so bleich wie ein abgenagter Knochen.
Dhunya zückte ihre Axt. „Den schnappe ich mir!“, verkündete die Zwergin und stapfte los.
„Dhunya!“, rief Zynon ihr entsetzt nach. Er versuchte, ihren Arm zu fassen, aber sie riss sich los. „Was, bei allen Göttern, machst du denn da?“
Die lirhajnische Zwergin hörte nicht auf ihn. „Ich besorge uns etwas Fleisch.“ Sie folgte der Spur des Monsters in das dichte Unterholz.
Rikhon lief ihr wortlos nach, deshalb blieb Zynon stehen. Es reichte, wenn sich zwei von ihnen in Todesgefahr begaben. Vielleicht könnte der Wabawi Dhunya auch zur Vernunft bringen … Der Rest schien ebenfalls nicht allzu bestrebt, ihnen nachzulaufen.
„Was wissen wir über die Kreatur?“, fragte Jas.
„Wir sollten zurück zu den anderen“, murmelte Anilas. „Wir müssen sie warnen. Und dann …“
„Erst einmal müssen wir wissen, wovor wir sie warnen sollen“, hielt Jas dagegen. „Zynon, was kannst du uns darüber sagen?“ Seine ruhige Konzentration imponierte dem Jäger.
„Nun … Es ist groß. Es hat Kraft – guckt euch nur mal an, wie der Baum zugerichtet ist. Und es hat Krallen.“ Mit den Fingern zeigte er an, wie lang diese wären.
Jas, Anilas und Shiak sahen sich die Einschätzung schweigend an. Dass sie Angst hatten, war ihnen anzusehen, doch sie blieben erstaunlich ruhig. Shiak raufte sich das Haar und Anilas war deutlich zappeliger geworden, doch niemand ergriff kopflos die Flucht.
„Feuer könnte helfen“, überlegte Jas laut. „Die meisten Wildtiere lassen sich davon abschrecken.“
Zynon nickte. „Aber es ist ein Fluchwesen. Ich weiß nicht genau, was … eine Art Kreuzung mit einem Bären. Ich hoffe jedenfalls, dass es ein Bär ist.“ Er sah auf und unterbrach sein Gemurmel. Die drei brauchten jetzt klare Ansagen. „Ich weiß nicht, ob Feuer allein reicht. Wir sollten direkt zurück zum Lager.“
„Und die beiden?“ Anilas sah in die Richtung, in die Dhunya und Rikhon gelaufen waren. Im dichten Unterholz waren sie schon nicht mehr zu erkennen, doch man hörte Dhunyas schweren Atem und die Hackgeräusche ihrer Axt.
Er zuckte mit den Schultern. „Sie haben ihr Schicksal selbst gewählt.“
Anilas stieß ein Stöhnen aus. „Ihr warnt die anderen. Ich hole diese Verrückten zurück!“ Er lief in die Schneise, die die Zwergin gehackt hatte.
„Anilas!“ Jas machte zwei Schritte hinterher und raufte sich dann die Haare. „Du Idiot …“
Zynon rechnete halb damit, dass auch Jas loslaufen würde, aber dieser hielt sich zurück. Mit einem tiefen Atemzug drehte der Jäger sich wieder in die Richtung, in der das Lager liegen musste. Dieses war schon nicht mehr zu sehen. Dieser verflixte Wolf hatte sie weit von den anderen fortgelockt.
Grimmig stapfte Zynon los, während aus dem Unterholz Anilas‘ Ruf zu ihnen hallte: „Rikhon! Dhunya! Wartet auf mich!“
⁂
Ihre Hände zitterten. Seitdem Anilas die Kämpfer weggeführt hatte – Jas, Shiak, Dhunya und Rikhon – schien der Wald sie immer dichter zu umschließen.
Asherah war nicht dumm. Sie wusste, wo sie sich befand, und ihr war bewusst, dass ihr Expeditionsleiter soeben alle Mitglieder weggeführt hatte, die sich notfalls verteidigen könnten.
Dieser Narr!
Aber er war kein Vergleich zu den Trotteln, mit denen er sie zurückgelassen hatte. Viya heulte wie ein kleines Kind. Sie war in sich zusammengesunken, ihr hellgrünes Gesicht war um die Augen und Nase gerötet. Sie konnte kaum einen vernünftigen Atemzug tun.
Giorgio rannte auf und ab und rang die Hände. „Limura Newa*!“, rief er, was ein Fluch in seiner Sprache zu sein schien. „Was sollen wir jetzt machen? Was machen wir nur?“ Sein Gejammer und Viyas abgehackter Atem machten sie wahnsinnig.
„Reiß dich zusammen!“, fauchte sie Giorgio an. „Wir müssen uns vorbereiten, falls er wiederkommt.“
„Der Wolf könnte wiederkommen?“, brachte Viya irgendwie zwischen den Schluchzern heraus. Asherah ignorierte sie.
Auf Giorgios rundem Gesicht malte sich eine Erkenntnis und dann Entsetzen aus. „Er könnte wiederkommen! Das gute Essen! Was, wenn er uns alle Vorräte wegfrisst?“ Damit stürzte er zu den Töpfen und Taschen.
Asherah ließ ihn gewähren und eilte zu den Padai. Von diesen merkwürdigen Katzenpferden hatte sie wenig Ahnung, aber sie hatte Jas im Umgang mit ihnen beobachtet. Die Tiere trugen noch ihre Geschirre, Jas hatte sie noch nicht daraus befreit.
„Kommt“, lockte sie die knurrenden Raubkatzen und haschte nach dem Führstrick. Theoretisch wusste sie, wie man die Katzenpferde einspannte. Sie hatte sogar einen kurzen Bericht in ihr Notizbuch eingetragen – mehr Wissen war immer gut, und viel hatte es auf dieser Expedition bisher nicht zu lernen gegeben.
Die beiden Großkatzen tapsten ihr eher widerwillig zum Karren hinterher, wo Asherah sie mit bebenden Fingern in die Riemen spannte. Giorgio hatte das bemerkt und lud sein gesamtes Kochmaterial kreuz und quer auf.
„Das Gepäck auch!“, rief sie ihm zu. „Wir brauchen Waffen und unsere Unterlagen!“
„Aber das Essen! Limura Newa! Die schönen Vorräte!“
„Die Bücher sind wichtiger!“ Nicht auszudenken, wenn ihre gesamten, sorgsam geführten Notizen hier im Dschungel zurückbleiben und verrotten würden!
Giorgio lud trotzdem das Essen auf und sie konnte ihn nicht aufhalten, denn sie musste die scharfen Krallen der Padai im Blick behalten. Bis sie die beiden sicher eingezäumt hatte, war Giorgio dabei, nun auch die anderen Rucksäcke auf die Ladefläche zu werfen.
Und Viya hockte immer noch nutzlos am Boden. Sie murmelte irgendwelche Gebete. Als ob Götter ihnen hier helfen könnten.
Asherah sah sich um und überlegte, was noch zu tun sei. Natürlich hoffte sie, dass Zynon den Wolf vertreiben könnte. Aber wenn es ihm nicht gelang und die Bestie mit ihrem Rudel zurückkam, würden sie fliehen müssen. In Yurvatis hatte sie oft genug gesehen, was ein Rudel hungriger Wölfe anrichten konnte. Ihren Recherchen zufolge waren die dhubyanischen Wölfe zwar kleiner, aber auch weitaus aggressiver und weniger scheu. Sie sollten einfach zur Flucht bereit sein.
„Oh, Lumira Newa! Meine schönen Teller, dreckig! Was für ein Unglück …“
„Halt endlich die Klappe!“
Sie suchte nach einem Ast, mit dem sie eine Fackel bauen könnte, als sie ein lautes Krachen aus dem Dschungel hörte. Es klang, als würde sich ein Wesen durch das Unterholz schlagen.
„Ist das der Wolf?“ Viya hob das Gesicht aus den Händen.
„Das kommt auf uns zu“, murmelte Giorgio gepresst. Er sprang auf den Karren und beugte sich schützend über seine Töpfe.
Viya erstarrte auf dem Boden zu Stein. Asherah lief zu ihr und zog sie auf die Beine. „Steh! Auf! Na los!“ Recht unsanft schubste sie die Priesterin zum Karren und sprang selbst auf den Bock. „Festhalten!“
Sie hatte nicht vor, herauszufinden, welche Monstrosität da aus dem Urwald kam. Sie wusste nur, dass es laut und groß klang. Definitiv kein Wolf und sicher auch keiner ihrer Gefährten.
Sie ließ die Peitsche knallen und krallte sich an den Sitz, als die Padai losliefen und der Karren wild über Wurzeln holperte.
⁂
Zynon erbleichte, als er die umgeworfenen Holzstämme erblickte. Einen Moment stockte er, dann rannte er los.
Jas war ebenso besorgt wie der Jäger, doch er konnte seine Schritte nicht beschleunigen. Was, wenn er aus dem Unterholz treten und Mineys und Acadhisa tot vorfinden würde? Ganz zu schweigen von den Expeditionsteilnehmern?
Atemlos kam Zynon zurück. „Sie sind geflohen.“
Jas atmete auf. „Alle?“
„Sie haben den Karren genommen.“ Der Mensch lief wieder zum Rastplatz. Jas und Shiak folgten ihm, diesmal etwas schneller. Sie kletterten über einen Salbaum, der mitten auf dem ehemaligen Weg lag und halb in ihrem Lager gelandet war.
Nur war das Lager nicht mehr da. Die Reste des Feuers schwelten im Steinkreis, doch der Karren, die Padai, ihr Gepäck und vor allem Asherah, Viya und Giorgio waren fort.
Zynon beugte sich vor und begann, die Spuren konzentriert zu begutachten. Jas konnte nur erkennen, dass der Ansturm des fremden Wesens offenbar kurz hinter dem Lager geendet hatte. Dort lagen noch drei Bäume, entwurzelt oder kurz über dem Boden gesplittert, danach verlor sich die Zerstörung im Wald. Eine ziemlich gerade Schneise führte auch aus dem Dickicht hinter ihnen hierher.
„Es ist schnell“, berichtete Zynon. „Sieht so aus, als hätten sie den Wagen schon fertig gemacht, bevor der Angriff erfolgte. Sie sind nicht dumm.“
„Sie haben Mineys und Acadhisa einspannen können?“
Zynon strich über eine Fußspur. „Asherah, glaube ich. Sie trägt diese merkwürdigen Stiefel …“
„Yurvatische Reiterstiefel, genau“, murmelte Shiak. „Sie hat mir mal lang und breit erklärt, was für eine alte Tradition dahintersteckt.“
„Kannst du erkennen, was mit Viya und Giorgio ist?“
Zynon wiegte den Kopf hin und her. „Nicht direkt. Diese Kreatur ist hier mitten durchgerauscht. Aber hier ist kein Blut, das ist ein gutes Zeichen. Wenn wir jetzt keine Spuren finden, dass jemand alleine in den Wald geflohen ist, sind wir sicher.“ Zynon arbeitete sich am Rand des Lagerplatzes entlang.
„Und die Kreatur?“, fragte Shiak. „Ist sie noch hier?“
Jas sah sich mit einem Schauer um.
„Ich denke nicht“, murmelte Zynon, der weiter nach Spuren suchte. Ihm war wohl klar, dass ihm die beiden Elfen dabei keine große Hilfe sein würden.
„Dieser Wolf … er hat uns zu den Spuren geführt“, sagte Shiak zögerlich. Er tauschte einen kurzen Blick mit Jas und machte einen Schritt auf Zynon zu. „Ich denke, er wollte uns warnen.“
„Ach was. Das war nur Zufall. Wölfe sind nicht so schlau.“
„Bist du dir sicher?“
Jas wandte sich ab, während Shiak offenbar versuchte, Zynon bezüglich des Wolfs umzustimmen. Er griff unter sein Hemd und umklammerte das Amulett der Verbundenheit.
Wenn Lavinya jetzt bloß bei ihm wäre! Sie würde wissen, was zu tun sei. Dass Anilas nicht für diese Expedition qualifiziert war, hatte ihn erschüttert. Die momentane Katastrophe schien nur der Beweis zu sein, dass sein Freund nicht hierfür geeignet war. Wieso hatte er keine Kämpfer beim Lager gelassen? Von den dreien hatte nur Asherah einen Säbel, und ob sie damit umzugehen wusste, hatte sie noch niemandem verraten. Ein richtiger Expeditionsleiter hätte sicherlich nicht drei Teilnehmer schutzlos zurückgelassen, und womöglich schon vorher besprochen, wie sie sich in so einer Situation wiederfinden sollten.
Stattdessen hatte Anilas zugelassen, dass die Gruppe beim kleinsten Anzeichen von Gefahr sofort zerfiel!
„Ich muss es ihnen sagen“, murmelte er leise, damit weder Shiak noch Zynon ihn hörten. „Aber Anilas ist mein Freund. Was soll ich nur tun?“
Er sah auf das kleine, verzierte Amulett. Zu seiner Überraschung spürte er ein schwaches Kribbeln, dann das warme Pulsieren von Magie.
„Lavinya!“ Er umklammerte das Amulett fester. Sprach sie ihm Vertrauen zu? Hatte sie ihn vernommen? Oder war es nur Zufall, dass die Verbindung zwischen beiden Teilstücken ausgerechnet jetzt aufflammte?
„Was ist los?“ Shiak sah ihn merkwürdig an. Vermutlich hatte Jas vor Überraschung lauter gesprochen als geplant.
„Nichts.“ Schnell steckte er das Amulett wieder ein, das unter seinem Hemd ebenfalls warm wurde.
Die Magie wurde stärker. Sie näherten sich der Quelle, ganz, wie er gehofft hatte. Und Wärme bedeutete, dass das Amulett nicht einer Leiche gehörte!
Sein Herz schlug schnell vor Aufregung. Nein, auf keinen Fall dürfte er riskieren, dass die Expedition scheiterte und alle zurückkehrten. Nicht, bevor er Lavinya nicht gefunden hatte!
Während er zu Shiak trat, erhob sich auch Zynon. „Nichts. Sie konnten wohl alle fliehen.“
„Na dann … folgen wir ihnen!“ Jas merkte, dass er wie blöde grinste.
Vielleicht würde doch noch alles gutgehen.
„Und die anderen? Rikhon, Dhunya und Anilas?“
„Rikhon und Dhunya können offenbar Fährten lesen. Die finden uns schon.“
Zynon nickte überzeugt. Und so marschierten die drei Männer dem Fluch und ihren Gefährten nach ins Unterholz.
⁂
Dhunya schlug auf die Lianen ein, als handelte es sich um Banditen, die ihr persönlich ihr kostbares Gold abluchsen wollten. Rikhon liebte seine Zwergin über alles, aber gelegentlich machte sie ihm Angst.
Er hatte seinen Revolver gezückt und trug den Dolch locker am Gürtel. Ab und zu duckte er sich unter Ästen hinweg, die Dhunya bei ihrem Versuch, dem Dschungel einen Weg abzutrotzen, nicht erreicht hatte, und hielt dafür seinen Hut mit einer Hand fest.
„Wir sollten wirklich umkehren“, jammerte Anilas hinter ihm. „Wir müssen in der Gruppe zusammenbleiben!“
„Nix da!“, brummte Dhunya. „Diese Kreatur ist ein guter Batzen Fleisch!“
Anilas ächzte hörbar. „Wir haben doch Zynon als Jäger …“
„Sie ist ebenfalls eine großartige Jägerin“, erklärte der Wabawi ihrem Expeditionsleiter. „Was wir alles auf Wajbaq schon gefangen haben! Kamele, Qutrubs**, sogar ein Kipascha***!“
„Sind Kipascha nicht aus Casta?“
„Ja, aber das war so ein Test von dieser Reisegruppe …“ Rikhon beendete die Erzählung, denn Dhunya hatte angehalten. Ihr kleiner Tunnel war auf einen größeren gestoßen. Ein breiter Pfad, nur von niedrigen, jungen Trieben bedeckt, von denen einige frisch umgeknickt waren.
„Wir haben es!“, zischte Dhunya blutdürstig.
„Seid ihr sicher, dass das die Spur des Monsters ist?“ Anilas klang nervös. Der Elf versteckte sich noch immer hinter Rikhon.
„Gibt es hier noch andere Kreaturen in der Größe?“
„Also … Elefanten …“
„Du willst mich veralbern.“ Dhunya reckte den Hals und versuchte, drohend über Rikhons Schulter zu blicken. Er ging instinktiv ein Stück in die Hocke. Einerseits für sie, und andererseits, weil ihr böser Blick aussah, als könnte er ihm die Haut versengen, wenn er nicht auswich.
„Ich bin sicher, Anilas würde so was nie tun, Giftzwerg“, beschwichtigte er sie.
„Es gibt wirklich Elefanten in Dhubya. Allerdings mehr im Westen. Hier sollten wir hoffentlich auf keine treffen.“
„Außer, es ist ein Elefantenbär.“ Dhunya grinste.
„Außer das, ja.“ Anilas seufzte und sah in beide Richtungen der Spur. „Da hinten wird es breiter, nicht wahr?“
Sie folgten dem Wildwechsel. Dhunya stapfte voran und köpfte ab und zu aus Prinzip einen Setzling. Anilas schlich hinterher und sah sich nervös um.
Dann erreichten sie die offenere Stelle, wo Sonnenlicht durch das aufgerissene Kronendach brach. Mehrere Bäume waren von einer gewaltigen Macht entwurzelt worden.
Anilas kniete sich neben das gesplitterte Ende eines Stamms und legte die Hand auf das helle Salholz. „Was auch immer das getan hat … es ist stark.“
Dhunya beugte sich an anderer Stelle über die Kratzer, während Rikhon zwischen den entwurzelten Bäumen weiterlief.
„Hey!“, rief die Zwergin plötzlich. „Ich hab hier was, das im Baum steckt. Guckt mal: Ist das eine Schuppe?“
Sie kam zu Rikhon gelaufen, Anilas folgte ihr.
„Eine Schuppe? Das kann gar nicht sein“, brummte der Elf, bis Dhunya ihm die braune Platte unter die Nase hielt, die etwa die Größe einer Fingerkuppe hatte. „Oh. Sieht aber wie eine Schuppe aus.“
„Die kommt sicher von der Kreatur. Ist stecken geblieben, als sie gegen den Baum geschlagen hat!“ Grinsend sah Dhunya sich um. „Ob man die zähmen kann?“
„Also … ein Fischbär?“ Anilas runzelte die Stirn. „Wie kann er dann an Land überleben?“
„Das sollten wir schnell herausfinden.“ Rikhon deutete nach vorne. Dort, zwischen den Stämmen, hatte er die Reste eines Lagerfeuers und Karrenspuren gesehen. „Das hier war nämlich unser Lager. Die Bestie ist hinter den anderen her!“
⁂
„Da ist nichts zu machen“, stellte Asherah fest. „Das Rad steckt fest.“
Viya schluckte schwer. Sie merkte, dass ihr Atem noch schneller wurde. Seit sie so abrupt gehalten hatte, hatte sie unablässig zu Aithara gebetete, dass sie sie aus der Reichweite des Monsters führen möge.
Doch der Göttin des Lichts gefiel es, ihre Gebete nicht zu erhören. Mühsam bekämpfte Viya die Zweifel in ihrem Herzen. Es war nichts als eine Probe ihres Glaubens. Ein Test! Aithara hielt ihre schützende Hand noch immer über sie.
Ihre Finger pochten, so fest klammerte sie sich an den Rand des Karrens, der durch die ungehaltenen Bewegungen der Padai bockte und zitterte. Die Katzenpferde, noch immer im Geschirr, rissen an den Zügeln. Die armen Wesen begriffen nicht, warum es nicht weiterging.
„Was machen wir denn jetzt?“, fragte Viya leise.
Asherah zog mit einer fließenden Bewegung ihren Säbel. „Wir befestigen den Karren! Giorgio, hol mir etwas Fleisch. Wir basteln einen Köder. Wenn sie die Wahl zwischen wehrloser Nahrung und uns hat, soll sich die Kreatur für Ersteres entscheiden.“
Die yurvatische Wissenschaftlerin sah kampfbereit aus. Viya kauerte sich noch mehr zusammen und flüsterte leise Gebete. „Große Aithara, lass uns nicht verderben. Sende uns dein Licht, Aithara, führe uns aus der Finsternis …“
„Du könntest dich mal nützlich machen und eine Barrikade aus den Fässern bauen!“, blaffte Asherah sie unfreundlich an.
Viya ballte die Fäuste. Welchen größeren Schutz gab es denn als die lichtvolle Liebe der Göttin? Aber sie sagte nichts, sondern stand auf und versuchte, die schweren Kisten an den Rand zu schaffen, sodass in der Mitte des Karrens ein sehr enger Raum entstand.
Er erinnerte sie an eine Gruft.
Asherah und Giorgio stellten den Köder fertig, einen großen Klumpen aus Fleisch, mit Seilen zusammengebunden. Diesen hängten sie in einen nahen Baum.
„Was meinst du, wie groß ist das Vieh?“, fragte Asherah.
„Ich habe es nicht gesehen …“, antwortete der Koch.
„Denn das Paket sollte gerade außer Reichwiete hängen …“ Asherah zuckte mit den Schultern und wählte willkürlich eine Höhe. Da hörten sie Stimmen.
„Hallo?“, rief jemand.
Viya sprang auf. „Gesegnet sei Aithara! Jas!“
Er, Shiak und Zynon kamen aus dem Wald marschiert und musterten sie neugierig. Sie begrüßten einander hastig. Die Blicke galten dem düsteren Wald ringsum.
„Wo ist Anilas?“, fragte Viya.
„Wo ist denn Rikhon?“, wunderte sich Giorgio.
„Wo ist die unsägliche Zwergin?“, fragte Asherah.
„Sie wollten die Bestie verfolgen“, erklärte Jas. „Ich dachte, sie wären uns vielleicht vorausgegangen.“
„Nein. Die Bestie hat stattdessen uns gefunden. Narren!“ Asherah knurrte nach diesen Worten.
Jas ging zu den Katzenpferden und streichelte sie beruhigend, dann sah er in den düsteren Wald. „Wo ist die Bestie jetzt?“
„Vielleicht hat sie uns vergessen“, überlegte Viya hoffnungsvoll.
Ein grollendes Knurren aus dem Schatten unter den Kronen überzeugte sie vom Gegenteil. Mit leisem Klirren sprangen Waffen aus ihren Scheiden. Viya flüchtete sich als erste in den Karren.
Das Monster war nah! Krachende Schritte verrieten, dass es sie gehört hatte und nun näherkam.
Sie umklammerte ihren Priesterschmuck, schloss die Augen und begann, zu beten.
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*Eisenwelt-Variante von „Mamma mia!“ (Nein, nicht das Lied.)
**Qutrubs: Eisenwelt-Kojoten
***Kipascha: Wolpertinger (also ein kleines Mischwesen) aus Kaninchen und Truthahn, sehr wendig