Promt vom 24.07.2020
Unzubändigender Regen prasselt auf das Hausboot und starke Wellen bringen es zum Wanken. Nicht sehr dicht ist es gebaut und an etlichen Stellen bricht das Wasser durch die wenig dichten Materialien ins Innere. Kinder schreien, eine Frau weint, doch niemand hört sie. Das Gewitter ist zu stark und hat noch lange nicht seinen gefährlichsten Punkt erreicht.
Immer wieder wird das Hausboot auf dem Fluss, auf dem es liegt, herumgeworfen wie ein Ball zum Spielen. Wie ein Stück Holz auf dem Atlantik liegt es da, wird in die Luft gehoben und mit einem lauten Platschen wieder in den Fluss fallen gelassen.
Wieder kreischt ein Kind, doch die Mutter beruhigt es. Redet leise, doch verständlich auf es ein. Dass alles gut werde, sie nach dem Gewitter zusammen etwas unternehmen werden, sie zusammen das erste Mal seit Jahren ins Kino gehen würden. Das Kind beruhigt sich und bringt sogar ein Lächeln zustande.
Es ist das Jüngste, versteht noch kaum etwas von der Welt um sich herum, vertraut nur auf seine Mutter. Doch die Älteren wissen, dass es vielleicht nicht mehr dazu kommen wird. Dass ihr Haus vielleicht schon bald nicht mehr stehen und im Wasser versinken wird. Aber daran wollen sie nicht glauben. Sie halten sich fest an den Gedanken fest, dass alles wieder gut werde. Sie im Fluss baden gehen können, lachen und mit den anderen Kindern an den Ufern spielen. Vielleicht auch irgendwann zur Schule gehen dürfen.
Eine Welle, die den höchsten Punkt des Gewitters ankündigt, drückt das Boot nieder und Wasser füllt die Räume, in denen die Familie geschlafen und gegessen hatte. Leichte Möbel werden fortgespült, Holz und Stroh wird von der Innen- und Außenverkleidung gerissen und mit in die tosenden Massen gezogen. Die Kinder schreien, doch die Mutter bleibt ruhig. Eng drückt sie ihr Jüngstes an ihre Brust, weist die Älteren an, sich festzuhalten. Zuversichtlich nickt sie allen zu, um ihnen zu zeigen, dass sie es bald überstanden haben werden. Doch sie ist nicht zuversichtlich. Sie blickt besorgt in das Wasser, das sich erneut zu einer riesigen Welle aufbäumt.
Mehrere Sekunden dauert es, bis sie auf das wenig stabil gebaute Haus hereinbricht. Das Dach, das nur mit Mühe gebaut werden konnte, wird fast komplett mitgerissen, nur noch wenige Balken befinden sich an ihrem Platz. Einige krachen zu Boden, die Kinder ducken sich und weinen, was jedoch kaum jemand bemerkt. Alle Augen haben sich auf den Jungen gerichtet, der sich verzweifelt an den Rand des Bootes klammert. Er schreit, seine Augen sind groß vor Angst.
Die Mutter handelt sofort, setzt ihr Jüngeres ab und eilt zu ihrem Sohn, dessen Griff sich gerade lockert, als sie nach dem Jungen greift. Mit einer kräftigen Bewegung zieht sie ihn zu sich und umarmt ihn fest. Sie schluchzt leise. Niemals könnte sie es verkraften, wenn ihr Sohn dem Wasser zum Opfer fiele. Eine neue Welle bricht über sie herein, doch diesmal ist die Familie ungeschützt. Kein Dach beschützt sie, nur die Mutter drückt ihren Sohn eng an sich, um ihn nicht erneut beinahe zu verlieren.
"Mama!", kreischt der Älteste plötzlich, der sich auf den nassen Boden gekauert hat und versucht sich festzuhalten. Mit wilden Armbewegungen deutet er auf das jüngste Kind, das von den Wassermassen an den äußersten Rand getrieben wird. Die Mutter löst sich von ihrem Jungen und weist ihn an, sich besser festzuhalten, dann springt sie auf das Kleine zu. Es kann nicht schwimmen, ist noch zu jung dafür. Die Frau will es packen, doch es wird fortgezogen, hinab in die Tiefe des Flusses. Es kann sich nicht dagegen wehren. Es ist zu klein. Zu jung.
Die Mutter schreit, doch zögert sie nicht und springt hinterher. Wasser schlägt ihr um die Ohren, sie kann kaum etwas sehen, doch ihr Kind erkennt sie sofort. Mit kräftigen Zügen schwimmt sie auf das Jüngste zu, wird mit ihm herumgeschleudert, doch sie schafft es, ihr Kind an die Wasseroberfläche zu drücken. Sie keucht und ringt nach Atem, doch schmeißt sie nur das Jüngste zurück aufs Boot. Sie ist am Ende. Ihre Kräfte verlassen sie, während die Kälte in alle Glieder dringt. Sie wirft einen letzten Blick auf ihre drei Kinder und lächelt. Das Jüngste liegt zitternd und weinend in den Armen des Jungen, während dieser sich an die Balken des Bootes klammert. In ihren Gesichtern steht Todesangst geschrieben, doch sie halten durch. Sie sind tapfer.
Die nassen Haare trüben der Mutter die Sicht, aber ihren Ältesten erkennt sie. Er steht einfach nur da, starrt in den Fluss. Da wird ihr bewusst, dass er es weiß. Tränen rinnen ihm über das Gesicht. Er weiß, dass seine Mutter nicht mehr zurück auf das Boot kommen wird. Dass er nun an ihrer Stelle die Familie versorgen muss und er weiß, dass sich sein Leben von nun an verändern wird. Er starrt auf das müde Gesicht der Mutter, dessen Wangen immer wieder vom Wasser überspült werden. Er weiß, dass sein Traum zur Schule zu gehen von diesem Augenblick an begraben wird und er sich um seine Geschwister kümmern muss. Ein letztes Mal rafft die Frau all ihre Kräfte zusammen, um zurück ins Boot zu gelangen. Doch sie ist zu schwach. Zu ausgehungert.
Die Wassermassen drücken sie unter die Oberfläche, doch sie kämpft dagegen an. Sie lächelt, weil sie will, dass ihre Kinder sie in glücklicher Erinnerung tragen.
"Ich liebe euch", flüstert sie und gibt dann dem Fluss nach.