- Start: 07.12.2021 - 17:45 Uhr
- Ende: 07.12.2021 - 17:57 Uhr
Jorlee stockte, als sie eine Präsenz spürte, die sich ihr rasch näherte.
Das war ungewöhnlich. Das junge Orca-Weibchen, inzwischen zu einer großen Matriarchin herangewachsen, hatte sich an die Einsamkeit gewöhnt. Selbst ihre eigene Art ging dem blinden Weibchen aus dem Weg, verängstigt von ihrem Wissen und ihrer Macht.
Lange Zeit hatte sie es ertragen, doch heute war ihr Mut gesunken, und sie mit ihm, hinab zum Grund des Meeres. Längst spürte, sie dass ihr die Luft ausging, und doch brachte sie nicht die Kraft auf, sich nach oben zu bewegen. Die Oberfläche war fern und mit ihr das Licht des Mondes, unter dessen Bann sie einst zur Wächterin des Meeres geworden war.
Hier unten, in der Einsamkeit der Tiefsee, kam etwas auf sie zu. Jorlee konnte es sehen, obwohl kein Licht leuchtete und ihre Augen erloschen waren. Es war ein Orca, fast weiß, mit großen, schwarzen Flecken, genau invertiert von gewöhnlichen Orcas. Mit ruhigen Flossenschlägen umkreiste er sie.
Wenn es nicht schon seine Furchtlosigkeit gewesen wäre, so verriet ihr seine Gestalt, dass er kein normaler Wal war. Und überhaupt - so tief unten würde man keine Orcas mehr antreffen.
Die Strömung, die er hervorrief, strich über ihre Haut.
"Dein Herz ist schwer geworden", sprach er sie an. Seine Stimme war alterslos, aber scheinbar männlich, wenngleich es nicht genau zu bestimmen war. Jorlee begann instinktiv, ihm zu folgen, immer im Kreis herum, weil sie ihn im Auge behalten wollte. "Wer bist du?"
"Du hast viel gesehen. Viel Leid und viel Freude. Du hast eingegriffen oder nur stumm zugesehen, Wächterin." Er reagierte nicht auf ihre Frage.
Jorlee schwieg. Der Fremde würde alles sagen, was er ihr zu erzählen hatte.
"Was davon war es, das dein Herz verdunkelte?"
Sie folgte ihm weiter im Kreis und überlegte. "Ich weiß es nicht. Alles zusammen, denke ich. Die Einsamkeit. Die Stille."
"Einsamkeit? Aber du bist nicht alleine, Kind. Niemals."
Jorlee merkte, dass der kreisende Tanz sie beide emportrug. "Wer bist du?", fragte sie erneut.
"Ich bin dein Schatten", erwiderte der weiße Orca. "Ich bin die dunkle Seite des Mondes, der den Atem des Meeres bestimmt. Wir sind eins, du und ich. Wohin du gehst, gehe auch ich."
Luftblasen prickelten durch die Wogen. Jorlee folgte dem Weißen nicht länger, sie schwamm auf gleicher Höhe, spiralförmig immer weiter hinauf. Ihre Bäuche waren einander halb zugewandt, berührten sich fast.
"Ich sehe deine Furcht", sprach der Weiße. "Doch fürchte dich nicht, Jorlee. Du bist die Wächterin des Ozeans - und der Ozean wacht über dich."
Mit einem Mal war da die Wasseroberfläche über ihnen, als wäre sie nie so tief getaucht. Mit brennenden Lungen brach Jorlee hindurch und holte schnaufend Luft. Eine Fontäne grüßte den Mond, die Sterne und die tanzenden Lichter vor den Galaxien. Das Universum spiegelte sich in den Wellen und Jorlee konnte nicht sagen, ob sie schwamm oder flog.
"Ich danke dir", sagte sie und drehte sich suchend. Doch nur die Stille des ruhigen Meeres antwortete ihr und die einzige Strömung, die sie spürte, war der Hall ihrer eigenen Flossenschläge.
Da war niemand sonst.