Sigmund wartete, bis sich sein Atem nach dem wilden Lauf beruhigt hatte und überlegte, ob es klug sei, bei anbrechender Nacht um Unterkunft in einer fremden Wohnstatt zu bitten, die mutterseelenallein in weiter Ödnis dalag. Tote Baumstämme waren zu einer schlichten Hütte aufgeschichtet, deren Dach und Wände mit Grassoden abgedichtet waren. Vor dem was als Tür und einziger Fensterluke gelten konnten, fanden sich grob bearbeitete Bretter und Tierhäute gespannt. Durch ihre Ritzen kam das schwache Glimmen des Herdfeuers. Erst als ihn der orangegelbe Schein traf, wurde ihm bewusst, dass er in Menschengestalt und ohne Wolfsfell vollkommen nackt war. Aber was sollte er tun? Zurückzukehren, dorthin, wo er seine Kleider von sich geworfen hatte, um der mordlüsternen Meute seiner Verfolger zu entkommen, konnte er nicht wagen. Er besah sich das Schwert in seinen Händen, das er zwischen seinen Fängen mit sich geführt hatte. Nein, würde er diese Erinnerung an seinen werwölfischen Vater im Handel tauschen. Doch die Behausung mit ihm zu betreten, wäre nicht ratsam. Man würde ihn für einen Feind halten.
Er beschloss, sich die Rückseite anzusehen, ob es dort etwas gab. Einen kleinen Stall, der ihm für die Nacht ausreichen würde oder etwas anderes, was ihm weiterhelfen konnte und tatsächlich hatte er Glück, denn er fand einen leeren Verhau, der gewiss einem Ross als Unterstand diente und darin eine Decke, mit der er sich notdürftig bedecken konnte. Inzwischen war er sicher, in der Hütte nur ein Weib und vielleicht Kinder vorzufinden, also ging er zurück zur Vorderseite und wagte es, sein Kommen durch Klopfen anzukündigen. Im ersten Moment geschah nichts, also pochte er etwas lauter.
„Wer da?“, erklang die von Angst einerseits und mutigem Trotz andererseits durchsetzte Stimme einer Frau.
„Ein armer Fremder, den man beraubt hat und der heiliges Gastrecht sucht.“
Innerlich schalt sich Sigmund. Die Worte waren gut, aber seine Stimme klang zu kräftig für jemanden, der überfallen worden war.
„Bitte hilf mir“, fügte er also etwas zaghafter hinzu.
„Mein Gatte hat es mir verboten, jemanden hinein zu lassen“, kam die Antwort und der junge Krieger war bereit, es so hinzunehmen. Er hatte schon unterschlimmeren Bedingungen übernachtet, als in dem Verhau eines Pferdes.
„Doch“, fuhr die Frau nun wider Erwarten fort, „das Gastrecht ist den Göttern geweiht und ich will verflucht sein, wenn ich einem Hilflosen bei Nacht und Kälte nicht einen Platz am Feuer anbiete.“
Im nächsten Augenblick öffnete sie, erst nur einen Spalt, und Sigmund sah, dass sie nun einen Stein aus der Faust zu Boden fallen ließ. Die Vorstellung, dass sie versucht hätte, sich allein damit gegen einen Krieger zur Wehr zu setzen, rührte ihn auf seltsame Weise. Ohne jede Chance war sie doch mutig genug, es zu versuchen. Sein Anblick jedoch hatten Angst und Kampfessinn in ihr beruhigt.
„Komm herein, du bist verletzt.“
War er das wirklich? Er selbst hatte es nicht bemerkt, aber sie deutete an seine Schulter, von wo sich eine Spur geronnenen Blutes über seinen Arm zog. Die Wunde selbst war bereits verschlossen, so wie es sein Werwolf-Erbe bewirkte. Das würde sie bemerken und es ließe sie schaudern. So war es immer. Wenn die Menschen seine Art erkannten, fürchteten sie ihn. Und doch: dieses Weib schien anders. Es deutete ihm einen Platz beim Feuer, wo er sich dankbar niedersetzte.
„Räuber haben dich überfallen?“, begann die Frau und wirkte vollkommen gefasst. „Eher glaube ich, bist du einem Kampf entkommen. Es waren Walküren in den stürmischen Winden gegen Abend.“
Das stimmte. Doch was machte sie so sicher? Es waren zwei vollkommen unterschiedliche Dinge, an die göttlichen Töchter Odins zu glauben oder sie wirklich zu sehen und zu hören, wie Sigmund es tat. Eine Lüge hatte Sigmund dieser tapferen Frau bereits gegeben, eine zweite hatte sie nicht verdient.
„Ich bin ihnen gefolgt. Sie jagten über den Himmel und ich ihnen nach“, gab er zu und blickte ihr in die Augen. Wie seltsam blau sie waren, ganz genau wie seine. Und auch schien sie ihm auf eine Art vertraut, die der Krieger nicht recht verstand.
„Dann haben sie dich zu mir geführt“, schloss sie und fuhr damit fort, die Wunde an seiner Schulter, die keine mehr war und seinen Arm mit einem Tuch vorsichtig zu reinigen.
Wer war sie, die dies für ihn tat? Sigmund beugte sich unmerklich zu ihr und nahm ihren Duft auf. Sie war menschlich, ohne Frage, und doch war da noch mehr. Ein Geruch, den er kannte, irgendwo, irgendwie in einem verborgenen Winkel seiner Erinnerung. Süß und angenehm. Er wollte mehr davon. Ohne weitere Scheu rückte er dichter zu ihr.
„Wer bist du, Frau?“
Seine direkte Frage ließ sie innehalten und seinen Blick suchen.
„Wer will das wissen? Ich bin niemand, nichts, nur ein Weib. Das eines ungeliebten Gatten und sein armseliger Besitz.“
„Mein Name ist Sigmund und ich muss es wissen. Wie lautet dein Name?“
„Siglinde heiße ich.“
Der Name! Aber wie war das möglich? Mit einem Mal hörte Sigmund sein Herz in der Brust schlagen, so laut, dass es das Knistern der Holzscheite übertönte und auch das Prasseln des Eisregens, draußen an der Tür.