Frühlingserwachen
Eine kleine Fortsetzung von dem hier:
https://belletristica.com/de/books/29982-sixty-minutes-die-challenge-2021/chapter/159606-eisregen
Im Grunde reicht es zu wissen, dass hier ein geflüchteter nordischer Krieger bei einer Frau Unterschlupf findet 😉
Die junge Frau bemerkte nicht den Hagelschauer, der draußen aus gewittrigem Himmel niederfiel. Er rauschte in den Blättern der alten Esche, bevor die eisigen Körner auf das Dach der Hütte prasselten. Ihre Aufmerksamkeit galt der Wunde des fremden Kriegers, die sie mit geübten Händen versorgte. Sie spürte, auf seltsame Art vertraut, wie sein Blick sie im schwachen Schein des Herdfeuers forschend traf. Wonach suchte er?
„Wo ist dein Mann, Siglinde?“, fragte er nun und die Worte erschütterten sie mehr als er ahnen konnte. Was kümmerte es ihn überhaupt, wenn ihr Gatte sie hier in der Ödnis als leichte Beute für jeden dahergelaufenen Räuber zurückließ? Es scherte sie selbst nicht allzu sehr, denn sie hatte es schon erlebt, wenn wilde Männer kamen und sich nahmen, wonach ihnen verlangte. So nur war sie die Frau Hundings geworden. Aber der Fremde schien gütig, beinahe sanft, auch wenn sein wildes Erscheinen, inmitten der Nacht und nur mit einer gestohlenen Decke bekleidet, sie schrecken sollte. Er hatte eine bessere Antwort verdient.
„Er ist auf der Jagd“, erklärte sie nun. „Niemand würde es überleben, dem Weib Hundings etwas anzutun.“
Sie wagte, in die Augen des Mannes ihr gegenüber zu schauen, nur kurz, um sich zu vergewissern, dass er ihr Glauben schenkte. Da funkelte etwas in ihnen, was sie nicht fassen konnte. Sie waren hell, ganz gewiss blau oder sogar silbergrau, wie die ihren. Deutlich spiegelten sie den Feuerschein wider sowie ihr eigenes Bild. Woher kam er, dass er solche Augen hatte? Zuletzt hatte sie diese Farbe bei ihrer Mutter gesehen, damals, als sie noch ein Kind war. Sie konnte sich kaum erinnern, an die Zeit, vor deren Mord und ihrer Verschleppung. Doch die sterbenden Augen ihrer Mutter würde sie niemals vergessen. Wie seine …
„Aber das genügt nicht“, fuhr er fort. „Du bist mehr als deines Gatten Besitz und du verdienst mehr als ein leeres Heim in der Wildnis.“
Mit einem Mal fühlte sie die Hand des Mannes auf ihrer, die noch immer an der Stelle lag, wo seine Wunde eben noch gewesen war. Wie war das möglich? Was war er und was tat er? Sie müsste vor Furcht und Scham erschauern, doch tat sie es nicht. Irgendetwas an ihm war nicht menschlich und zugleich bot er ihr die freundlichste Geste, die sie jemals erfahren durfte. Eine Wärme ging von ihm aus, die sie sich nicht erklären konnte. Dort, wo ihre Handfläche auf seiner starken Schulter lag, begann sie zu kribbeln, da wo jeder seiner Finger ihre Haut berührte, spendeten sie Trost und Vertrauen.
„Ich kenne dich“, flüsterte sie, auch wenn sie es nicht verstand. Da erwachten Gefühle in ihr, die sie längst verloren glaubte, gerade so, als habe es sie nie gegeben. Lebendigkeit, Freude, Lust sogar, unbändig und jauchzend. All diese Wonnen hatten unter einer Schicht von Eis und Frost erstarrt gelegen und erblühten nun für ihn. Sie wollte ihn fassen, sich versichern, dass er wirklich hier war und kein Trug, den sie sich in ihrer Einsamkeit ersonnen hatte. Aber nein! Sie fuhr ihm über die wilden Locken, mit ihren Fingern erkundete sie seine Züge, seine Lippen. Er öffnete sie.
„Wer bist du, der du mir kein Fremder bist?“, brachte sie hervor und suchte die Antwort in seinem Antlitz.
„Wer du willst, das ich bin“, gab er zurück und küsste ihre Stirn.
Was sprach er noch immer in Rätseln? Sigmund war der Name, den er genannt hatte. Aber was bedeutete dies? Es war ihr längst einerlei.
„Sei du du, so wie ich Siglinde bin und keine andere“, flüsterte sie und nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände. „Ich küsse und empfange dich, als du selbst.“
„Dann komm und wisse, der Sohn des Wolfes ist es, der dich begehrt.“
„Sei mir willkommen.“
Im nächsten Augenblick trafen sich ihre Lippen.