- Als in Chris ein großes Verlangen erwacht -
«Mensch Chris, halt doch mal deine Füße still», erklang die barsche Stimme des Vaters von vorn.
Schuldbewusst zuckte der Junge hinter dem Fahrersitz zusammen.
Sein großer Bruder Ben sprang ihm zur Seite: «Ach Pa, Chris ist doch nur aufgeregt. Er freut sich schon seit einer Woche auf diesen Ausflug.» Der großgewachsene Junge grinste den vier Jahre jüngeren neben sich verschwörerisch an.
«Trotzdem kann er mir nicht von hinten gegen den Sitz treten, sonst kommen wir nicht heil in St.Buckenam an.» Die Stimme des Vaters klang streng, wie jedes Mal, wenn es seinen Zweitgeborenen betraf.
Chris schwieg und zog den Kopf schuldbewusst zwischen die Schultern. Ben blickte seinen Bruder noch immer an, verdrehte die Augen und wandte sich dann zur anderen Seite um. Er griff nach der Hand des braunhaarigen Mädchens neben sich, doch sie entzog sich ihm. Aufgeregt deutete sie aus dem Wagenfenster.
«Da hinten ist das Einkaufszentrum!» Sie klang ehrfürchtig, als sie weitersprach. «Habt ihr schon mal so viele Autos auf einem Haufen gesehen?»
Vom Beifahrersitz her tönte die belustigte Stimme der Mutter: «Wenn du schon vom vollen Parkplatz begeistert bist, dann sollte ich dich gleich im Einkaufszentrum wohl besser am Arm halten, damit du mir nicht umfällst, Nelly.» Sie sprach gespielt ernst weiter: «Dein Vater hat mich am Morgen noch besucht, um mich daran zu erinnern, heute auch ja gut auf dich achtzugeben.»
Das Mädchen wurde feuerrot und blickte schnell zu Seite, damit Ben es nicht bemerkte. Vermutlich war ihr Vater lediglich auf einige Bier vorbeigekommen, wie an fast an jedem Morgen. Nachmittags und Abends, wenn seine Tochter selbst im Gasthof kellnerte, verdarben ihm ihre vorwurfsvollen Blicke die Lust am trinken.
Chris am anderen Ende der Rückbank seufzte. Wieder eine, die auf den Charme seines Bruders hereingefallen war. Er hatte kein Verständnis für dieses ganze Getue, die heimlichen Küsse und dem unweigerlichen Liebeskummer am Ende. Irgendwo tat ihm Nelly leid. Sein Bruder war da jedoch gänzlich anders. Vor ihm war kaum ein Mädchen im Ort sicher. Doch er wurde auch von der Hälfte der Mädchen an ihrer Schule heimlich angehimmelt. Ben, die Sportskanone, der daheim Pokale und Medaillen im Regal ihres Zimmers sammelte. Ben, der sonntags als Messdiener in der Kirche half und der auch sonst überall im Ort einsprang, wenn jemand Hilfe benötigte. Die zwei Brüder waren so unterschiedlich, wie Geschwister es nur sein konnten. Chris war weder im Sport herausragend, noch seit Jahren regelmäßig Klassenbester - oder neuerdings sogar Schulsprecher, - wie sein großer Bruder. Egal wie sehr Chris sich auch bemühte, er würde immer in Bens Schatten stehen. Der Junge seufzte. Die Welt war ungerecht.
«Ich habe gehört, dort gibt es sogar einen Laden, der ausschließlich Sportartikel verkauft», unterbrach Ben die trüben Gedanken.
«Nicht nur das», erwiderte Chris sofort, «der Elektronikmarkt ist fast 680 m² groß. Dort gibt es alles!»
«Alles?», fragte der Vater spöttisch. «Auch etwas, das deine Mathenoten verbessert oder dein Zimmer aufräumt?»
Chris biss sich frustriert auf die Zunge. Er wollte seinen Vater nicht noch weiter verärgern. Jedoch freute er sich, endlich einen Blick ins 21 zigste Jahrhundert zu werfen. Plasmafernseher! Stereoanlagen! Er wollte sich alles genau ansehen, was er bisher nur aus Zeitschriften und Erzählungen kannte. Zu Hause lebten sie noch wie im Mittelalter. Ihr Vater besaß ein altes Radio, das hinter der Theke in der Wirtsstube stand und Oldies abspielte. Und der brummende Röhrenfernseher befand sich im Raucherzimmer nebenan. In erster Linie trafen sich dort die alten Männer aus dem Ort bei Bier und Fußball. Nicht einmal funktionierende Handys gab es bei ihnen daheim. Der Bürgermeister wehrte sich bisher erfolgreich, einen Funkmast anbringen zu lassen. Vermutlich wäre der alte Samuel, an dessen Leuchtturm der Mast dann angebracht würde, ebenfalls nicht begeistert. Und über einen Internetanschluss brauchte Chris überhaupt nicht nachdenken. Von so etwas hielten seine Eltern rein gar nichts.
Dann bogen sie auf den bereits halb vollen Parkplatz ein. Chris Herz schlug wild, wenn er daran dachte, was ihm einer der Stammgäste seines Vaters gestern Abend berichtet hatte. Im Elektromarkt waren mehrere Konsolen mit Videospielen aufgebaut worden. Dort konnte man die neuesten Spiele testen.
Spielen, man durfte dort wirklich an diesen Geräten spielen!
Chris bekam feuchte Hände. Bisher kannte er dies alles nur aus gedruckten Bildern und Texten in Zeitschriften, oder aus Erzählungen einiger anderer auf dem Schulhof.
20 Minuten später hatten sich Chris und Ben von der restlichen Gruppe getrennt. Die beiden Jungen wollten zunächst den Elektronikmarkt aufsuchen. Ben würde im Anschluss beim Sportgeschäft nach einem Fahrrad Ausschau halten. Er wünschte sich seit langem ein Rennrad. Dafür sparte er bereits seit einem vollen Jahr sämtliches Geld, das er bei seinen Hilfsarbeiten bekam.
Ben hatte ihrer Mutter versprochen, auf Chris zu achten und sich gemeinsam mit ihm um Punkt 16 Uhr wieder am Auto einzufinden. Nelly schien sich zwar für Ben , jedoch weder für Fahrräder noch für Unterhaltungselektronik zu interessieren. Sie blieb bei den Eltern der Jungen und wollte zusammen mit deren Mutter die Boutiquen, Parfümerien und Schuhgeschäfte besuchen. Also waren die Jungen alleine losgezogen.
Zwischenzeitlich hatten sie einen Stopp beim großen Eröffnungsgewinnspiel des Zentrums eingelegt. Unter zahlreichen Werbetafeln und Hinweisschildern verteilte dort ein Mann im Bärenkostüm Karten an die Besucher. Mit Glück und Geduld konnte man mit diesen Losen bei der stündlichen Drehung am Glücksrad Kleinigkeiten aus der Tombola gewinnen. Es gab Handcremes und Bürsten, Gutscheine und Rabattmarken, Stofftiere und Essenskörbe zu ergattern. Oder aber man schrieb seinen Namen, die Adresse und die Telefonnummer auf die Rückseite, nannte noch sein Lieblingsgeschäft hier im Einkaufszentrum und warf die Karte in die große Lostrommel. Am Ende des Tages sollten hier die Gewinner eines Autos, mehrerer Fernseher, eines Wäschetrockners und anderen Elektrogeräten, von Einkaufsgutscheinen nach Wahl und auch - zu Chris großer Freude – einer modernen Spielkonsole gezogen werden. Natürlich nahmen Ben und Chris am Gewinnspiel teil.
Danach waren beide staunend in den Elektronikmarkt gestolpert. Hier standen ferngesteuerte Rennwagen und Hubschrauber, Computer, Videokameras und sprechende Roboter, die Chris bisher nur aus Zeitschriften kannte. Selbst Ben war von der Größe der modernen Fernseher und dem Klang der Geräte beeindruckt.
«Das ist wie ein richtiges Kino, nur für zu Hause», hatte er ehrfürchtig gemurmelt. «Wenn wir so etwas hätten, dann würden alle zu uns kommen, nur um im Gasthof fernzusehen.»
Sein Bruder konnte nichts erwidern, so sehr nahm ihn der Anblick all der Wunder mit. Zwei Gänge weiter erreichten sie einen freien Bereich. Frei in dem Sinne, dass hier keinerlei Regale mit Waren standen. Jedoch drängten sich dort Dutzende von aufgeregten Kindern und Jugendlichen. Sie bildeten einen johlenden Kreis, wie er sonst nur bei einer Schulhofschlägerei üblich war. Doch eine solche war hier wohl kaum möglich, bei den ganzen Sicherheitsleuten, die argwöhnisch durch die Gänge strichen.
«Was ist hier los?», fragte Chris ein Mädchen, das er aus der Schule kannte.
«Erik ist jetzt in Level 14 und hat kein Extraleben mehr. Gleich kommt der Endboss», kam die knappe Antwort, bevor sie sich wieder in die Menge drängte.
«Da steht ein Junge an einer dieser Spielkonsolen», erklärte ihm Ben, der aufgrund seiner Körpergröße über die Versammelten blicken konnte.
«Oh verdammt!» Chris schnaufte aufgeregt. Er folgte dem Mädchen schubsend und drängelnd. Ben griff noch vergeblich nach seinem Arm, Chris war jedoch bereits im quirligen Haufen verschwunden.
Im Mittelpunkt stand ein schmächtiger Junge, kleiner und jünger noch als Chris. Er schätzte ihn auf höchstens 10 Jahre. Der abgerissene Bursche trug sein Cape lässig verkehrt herum. Mit verbissenem Blick hämmerte der Kleine auf die Tasten eines Controllers. Er zuckte dabei immer wieder mit dem Oberkörper, als die Figur vor ihm auf dem Bildschirm von einem Felsen auf den nächsten sprang. Fast schien es, als ob er glaubte, selbst die Figur zu sein. Unterwegs sammelte sie dabei klingelnde Münzen und blinkende Steinchen ein. Dann tauchten plötzlich fünf grimmig dreinblickende Figuren auf. Sie schoben sich bedrohlich von rechts ins Bild. Der Junge an der Konsole hielt inne, während die umstehenden Zuschauer schon zu tuscheln begannen. Die Knöchel seiner Hände wurden weiß, so fest umklammerte er den Controller. Dann stieß er einen keuchenden Atemzug aus. Die Spielfigur auf dem Fernseher sprang dem ersten Gegner im hohen Bogen auf den Kopf. Sie flog weiter zum Nächsten und dem Übernächsten. Das Murmeln der Umstehenden verstummte. Gebannt starrten alle auf das digitale Schauspiel. Bei jedem weiteren Sprung erklang ein einzelnes, gedämpftes «Uff» vom Jungen aus der Mitte, gefolgt von einem ehrfürchtigen «Aaaah» aus der Menge rundum. Als alle fünf Gegner schließlich am Boden lagen, jubelte das begeisterte Publikum. Der Junge zog sein Cape vom Kopf und strich sich das feuchte Haar zurück. Er legte den Controller ab, verschränkte die Hände und ließ ein Knacken ertönen.
Chris war hingerissen. So etwas MUSSTE er auch haben. Koste es, was es wolle. Er würde seinem Bruder bei jeder Hilfsarbeit im Dorf zur Hand gehen, vielleicht sogar dem Bürgermeister das Auto waschen. Er würde den Fischern nach der Schule ihre Netze flicken und freiwillig auf Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke verzichten. Notfalls würde er sogar weiter in seinen löchrigen Schuhen rumlaufen. Doch so eine Konsole brauchte er, sonst würde er unweigerlich sterben, das wusste Chris jetzt.
Dann bebte der Boden. Nur ganz leicht, wie es hier an der Küste regelmäßig geschah. Ihr Erdkundelehrer nannte es Plattentektonik. Er hatte ihnen erklärt, dass sich hier unter ihnen zwei Kontinentalplatten trafen, die sich aneinander rieben. Dies löste die regelmäßigen, leichten Erdbeben aus. Normalerweise beachtete in dieser Gegend kaum jemand diese kleinen Stöße. Man lachte darüber, wenn die Tassen und Gläser in den Regalen und Vitrinen klingelten. «Horch, wer läutet denn da?», erklang es dann scherzhaft. Man rückte das Bild an der Wand wieder zurecht, ordnete seine Figürchen im Setzkasten neu und wischte notfalls die Milch vom Boden, wenn ein Kind leichtsinniger Weise ein Glas zu nah an der Tischkante abgestellt hatte. Niemand hier in der Gegend war sonderlich beunruhigt, wenn der Boden bebte.
Nun jedoch fielen hier Stereoanlagen krachend aus den Regalen, zerbrachen Fernseher auf dem Boden. An einer Wand regnete es bunte Plastikhüllen voller Filme, die gleich zu Hunderten in den Gang prasselten. Die Lampen unter der Decke schaukelten und warfen tanzende, wilde Schatten.
Erschrocken hielten die Kinder inne und sahen sich um. Nur der Junge in der Mitte starrte weiter verbissen auf den Fernseher. Er rang noch immer hektisch mit dem Controller. Vermutlich hatte er das Beben überhaupt nicht bemerkt. Seine Figur auf dem Fernseher sprang und tänzelte in diesem Moment um einen riesigen Kraken, der mit seinen Tentakeln auf den Boden trommelte.
Dann fiel der Strom aus.
Absolute Schwärze erfüllte die Gänge des Geschäftes. Ein kollektives Stöhnen erscholl im Einkaufszentrum. Trübe Notbeleuchtung erwachte flackernd unter der Decke. Eine gelangweilte Lautsprecherdurchsage bat alle Kunden, sich «Bitte geordnet zum nächstgelegenen Ausgang zu begeben.»
Stöhnend löste sich die Traube aus Kindern auf und strebte Richtung Ausgang. Chris blickte sich suchend nach Ben um. Er konnte ihn nirgends entdecken, daher folgte er den anderen Kindern. Spätestens auf dem Parkplatz würde er Ben, seine Eltern und Nelly am Auto wiederfinden. Er wollte sich gerade in das Gedränge am Ausgang des Geschäftes quetschen, als ihn jemand von hinten am Arm packte. Erschrocken zuckte er zurück. Doch es war nur Ben, der ihn zu Seite zog.
«Dort hinten ist ein Notausgang», rief ihm sein Bruder ins Ohr, um den Lärm der Menschen zu übertönen. Er wies auf eine unscheinbare Tür, halb versteckt hinter mehreren Pappaufstellern. Darüber prangte das grüne Zeichen des Notausgangs. Niemand schien diese Tür zu beachten. Ben grinste Chris breit an. «Dort kommen wir garantiert schneller raus.»
Sie legten die Hebel an der Tür um. Ein warnender Summton erscholl über ihnen. Ben stieß die doppelflügelige Tür schwungvoll auf.
Für einen Moment blinzelten die beiden Jungen durch erhobene Hände in das grelle Sonnenlicht. Vor ihnen befand sich eine breite Gittertreppe, die auf der Rückseite des Gebäudes herab führte. Unter lautem «Tong-Tong-Tong» ihrer Schuhe auf den Stufen liefen sie hinab. An der Laderampe blieben sie kurz stehen und sahen sich um. Dann umrundeten sie den riesigen Gebäudekomplex.