- Eine Lektion gegen die Angst -
Verzweifelt ließ sich Chris auf den Rasen sinken. Ben hatte ihm nicht mal eine Chance für eine Erklärung gelassen. Das war so unfair, so egoistisch von ihm! Er bekam wieder alles und Chris ging wie immer leer aus. Dabei hatte er doch ... ach, es war schrecklich gemein. Seine Kehle schien zu zu einem Knoten zusammenzuziehen und Tränen brachen aus ihm heraus.
Unfair! Unfair und gemein!
«Hey Chris», kam Bens Stimme sanft von oben, «hör mir mal zu.»
Er setzte sich neben ihm ins Gras und legte eine Hand auf seine Schulter. «Ich verstehe dich ja. Du hältst mich jetzt garantiert für ein riesen Arschloch.»
Chris Blick zuckte bei dem letzten, ungewohnten Wort aus dem Mund seines Bruders hoch.
Ben deutete in einer ausholenden Geste auf die Wiese: «Glaubst du, ich mache das hier nur zum Spaß? Ich reiße mir den, - Ma möge mir verzeihen - Arsch auf, um in diesem langweiligen Kaff Geld zu verdienen. Klar, ich mag die Leute hier und helfe gerne, aber ich möchte am langweiligsten Ort überhaupt bestimmt nicht den Rest meines Lebens festsitzen. Ich will hier weg, Chris. Auf mich wartet die große Welt. Ich will Abenteuer erleben, etwas von der Welt sehen, bevor ich alt werde.»
Chris sah verblüfft auf. Ben hatte bisher nie erwähnt, wegzugehen. Für ihr war es undenkbar, dass er irgendwann ohne seinen Bruder sein würde.
«Was meinst du?», fragte er erstaunt. «Du kannst doch nicht einfach abhauen.»
Ben lachte und strubbelte seinem kleinen Bruder das Haar. «Nein, einfach abhauen werde ich bestimmt nicht. Was würdest du auch ohne mich machen? Aber ich möchte studieren, an eine große Uni gehen, in eine richtige Stadt mit vielen, neuen Menschen ziehen. Und ich möchte reisen. China und Australien sehen. Ich will nach New York und zum Himalaya. Glaubst du, ich strenge mich in der Schule an, um hier später mal als Gastwirt zu versauern?» Er lachte erneut.
Chris war sprachlos.
Ben zwinkerte ihm verschwörerisch zu. «Aber das ist alles noch streng geheim. Sag bloß niemandem etwas, sonst hätte ich zu Hause keine ruhige Minute mehr. Du weißt doch, wie die beiden sind.»
«Und die Konsole?», versuchte Chris es noch einmal zaghaft. «Du kannst eh bald den Führerschein machen. Ein Auto ist doch besser als ein Rennrad.»
Aber Ben schüttelte den Kopf. «Wenn ich in zwei Jahren an die Uni gehe, brauche ich kein Auto. Dort fahren alle mit Rädern. In der Stadt gibt es Busse und U-Bahnen, mit denen man viel schneller vorwärtskommt als mit einem Auto.»
Ach verdammt! In Chris Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander. Enttäuschung und Trauer, das Gefühl von Verlust - auch wenn Ben noch nicht weg war, Ärger über sich selbst - dass er es überhaupt gewagt hatte zu hoffen, und eine vage Hoffnung, dass sein Bruder nur einen geschmacklosen Scherz gemacht haben könnte. Doch Ben unterbrach seine Gedanken.
«Komm, wir machen jetzt den Garten fertig», er stupste ihn an, «und wir teilen das Geld dafür.»
Verwirrt griff der Junge nach der Harke und zog sich daran hoch. Mechanisch fing er an, den Rasen zu harken.
Kaum eine halbe Stunde später räumten die Beiden ihre Arbeitsgeräte in den Schuppen. Am Horizont verschwand die Sonne bereits über dem Meer. Wie versprochen teilte Ben den Lohn mit seinem Bruder.
«Weiß du was», meine er, «du hilfst mir ab jetzt immer, wenn es möglich ist. Dafür bekommst die Hälfte ab und kannst dir die Konsole bald selbst kaufen.»
«Bald?!» Er sah seinen Bruder entsetzt an. «Dafür brauche ich doch Jahre!» Er wedelte mit dem Schein herum.
Ben zog sich fröstelnd sein Shirt über und schüttelte den Kopf. «Warte nur ab. Wenn es sich erst rumgesprochen hat, dass du tüchtig bist, werden sich die Leute bald um dich reißen.» Er feixte. «Besonders, wenn ich jetzt mein Fahrrad bekomme und nicht mehr jeden Job annehme.»
«Ich find´s trotzdem nicht fair!», Chris schob die Fäuste trotzig in seine Hosentaschen.
Die beiden Jungen gingen zur Straße und wandten sich Richtung Gasthof.
«Ich finde es sogar ziemlich fair», sagte Ben in die abendliche Stille. «Du bist alt genug und kannst dir dein Geld selbst verdienen. Dinge gewinnen an Wert, wenn du sie dir selbst erarbeitest und nicht nur geschenkt bekommst.»
In diesem Augenblick schlug der Hund vom alten Hoffmann hinter dem Zaun an. Chris keuchte erschrocken auf und sprang panisch auf die Straße. Sein Bruder betrachtete ihn nur kopfschüttelnd. Der wild geifernde Hund hinter dem Zaun fixierte Chris. Ben, der viel näher am Zaun ging, wurde vom Tier ignoriert. Der großgewachsene Junge schlenderte lässig noch einige Schritte weiter, bevor er sich zu seinem schlotternden Bruder drehte. Chris hielt sich angespannt auf der Straßenmitte, den gefährlichen Hund nicht aus dem Blick lassend.
«Du bist zu ängstlich», meinte Ben.
«Na was soll ich denn sonst sein?», erwiderte Chris von der Straße. «Glaubst du, ich will mich beißen lassen?»
Ben drehte sich ruckartig zum Hund um und trat einen Schritt auf den Zaun zu. «Ruby, aus!»
Der Hund hörte augenblicklich auf zu bellen, wich verblüfft zurück und betrachtete den großen Jungen irritiert.
«Da», meinte Ben, «du musst nur selbstbewusst auftreten. Rücken gerade, die Brust raus und den räudigen Köter ignorieren.» Er kicherte.
Chris prustete bei dem Ausdruck auf. «Und das ist alles?», fragte er, als er wieder Luft bekam.
«Du darfst keine Angst zeigen», sagte Ben. «Und natürlich nicht weglaufen, dann hat der Hund gewonnen.»
«Zeigst du es mir?», Chris trat einen zögernden Schritt näher. Sofort knallte der Hundekopf wieder gegen den Holzzaun und das Gebell begann von erneut. Hinter zwei umliegenden Fenstern wurden die Gardinen zur Seite geschoben. Fragende Gesichter blickten auf die zwei Jungen. Von irgendwo erklang ein Ruf: «Jetzt verpisst euch und lasst den scheiß Hund in Ruhe. Ich will pennen!»
Ben kicherte wieder und zog Chris am Arm weiter. «Lass uns nach Hause gehen. Ich hab Hunger.»
Auch Chris verspürte schlagartig wieder das Loch in deiner Mitte.
«Wer zuletzt ankommt muss abspülen», forderte er seinen großen Bruder heraus. Wohlwissend, dass er selbst heute Spüldienst hatte und somit nichts zu verlieren. Die zwei Jungen fielen in einen lockeren Trab. Ben ließ sich immer wieder spielerisch zurückfallen und holte dann ohne Anstrengung auf. Als Chris den Krummen Weg passierte, blickte er kurz über seine Schulter nach hinten und übersah dabei einen knienden Jungen an der Hausecke. Er prallte mit ihm zusammen und stolperte noch drei Schritte, bevor er stürzte.
Der andere - Chris erkannte jetzt seinen Freund Finn - kroch zunächst erschrocken zurück.
«Was machst du denn hier?», fragte Chris ihn atemlos, seine Knie reibend.
Von hinten kam Ben heran. «Ja wirklich, verfolgst du jemanden oder warum hockst du hier?»
Finn stand auf, schob seine Brille hoch und warf einen gehetzten Blick den Weg hinab. Er strich sich aufgeregt über die Nase. «Haltet mich für dumm, aber ich habe noch mal über deine Worte von vorhin nachgedacht, Chris.»
Chris hob fragend eine Braue.
«Na, ich meine über den Affen», fuhr er fort. «Ein wenig merkwürdig ist das alles ja schon. Und dann war der Voodoomann eben wieder bei meinen Eltern. Der Affe hockte direkt unter dem Fenster.»
Er beugte sich vor und flüsterte verschwörerisch: «Ich hab weiße Knochen an seinem Arm durchschimmern gesehen. Das könnte wirklich ein Zombieaffe sein.»
«Ein Zombieaffe?», Ben lachte auf. «Jungs, ihr habt echt zu viel Fantasie.»
Chris sah seinen Bruder an: «Aber du warst doch gestern dabei, als der Affe tot umgefallen ist.»
Doch Ben war anderer Meinung: «Ich glaube da nicht dran. Vielleicht hat er den Affen auch einfach trainiert sich totzustellen und es war eine - zugegeben morbide - geplante Aufführung. Was weiß ich denn. Oder der Affe hat irgendeine Art von Anfall gehabt.» Er schnaubte.
Finn fühlte sich in seiner Forscherehre gekränkt: «Ich habe es zunächst auch nicht glauben wollen. Aber ich sage euch, ich habe es eben wirklich gesehen. Und auch gerochen!»
Triumphierend hob er den Finger: «Ich glaube, der Voodoomann verbrennt diese stinkenden Räucherstäbchen nur, um den süßlichen Verwesungsgeruch vom Affen zu überdecken.»
Ben grinste noch immer breit: «Zombieaffe, echt jetzt? Ihr Jungs lest zu viele schlechte Comics.»
Finn rümpfte die Nase: «Ich bin nicht Mick.»
Doch Chris kam ein anderer Gedanke: «Und darum verfolgst du ihn jetzt?» «Ich meine, du schleichst alleine dem gruseligen Voodoomann hinterher? Hast du keine Angst?»
Finn blickte ihn empört an: « Was soll das den heißen? So etwas nennt man Feldforschung. Für die Erkenntnis ist kein Preis zu hoch. Dr. Jane Goodall hat auch jahrelang unter gefährlichen Schimpansen gelebt. Das ist wahrer Forschergeist.»
Er seufzte, als Chris ihn fragend ansah. «Oder meinetwegen auch Indiana Jones, obwohl es sich dabei nur eine erfundene Figur handelt.» Finn wippte auf den Zehenspitzen. «Der ist eigentlich auch ein Professor und unterrichtet an der Universität. Nur nebenbei untersucht und forscht er zusätzlich in aller Welt nach Artefakten. In den Filmen wird das alles total überbewertet.»
«Also glaubst du mir jetzt doch?», fragte Chris.
«Naja, ich ziehe es in Betracht, dass deiner Erzählung ein gewisser Wahrheitsgehalt zugrunde liegt», grinste Finn. Nach einer kurzen Pause fügte er ein zögerliches «Ja» hinzu.
Ben stöhnte gekünstelt auf: «Können wir jetzt nach Hause? Ich hab echt Hunger nach der Arbeit. Und ich bekomme Kopfschmerzen bei soviel Blödsinn.»
Chris warf einen letzten Blick auf das Geisterhaus am Ende des Weges. Die Straßenlaterne dort unten war schon seit Jahren kaputt, doch niemand kümmerte sich darum. Er konnte daher kaum mehr als einen lauernden Schatten in der Finsternis ausmachen. Wieder hoben sie Härchen auf seinen Armen. Ihm schauderte. «Ich würde dort niemals hingehen», meinte er. «Im Dunkeln mag ich noch nicht mal hier stehen und es mir ansehen.»
In Bens Augen blitzte es auf: «Weiß du was», sagte er verschmitzt, «ich schenk dir die Konsole, wenn du morgen dort reingehst und um Mitternacht aus dem Dachfenster mit der Taschenlampe blinkst!»
Chris keuchte entsetzt auf. «Du spinnst!»
«Nein», meinte Ben ruhig, «ich meine das völlig Ernst. Du musst lernen, deine Angst zu überwinden. Und ich helfe dir dabei.»
Damit drehte er sich um und schlurfte nach Hause.