- Das Vorhaben gedeiht -
«Jetzt wird mir endgültig klar, ich liege noch im Bett und träume schlecht!» Mick hob eine Hand und rieb sich die Augen, als wollte er den Schlaf vertreiben. «So verrückt kann die Wirklichkeit nicht sein.» Fragend blickte er seine Freunde an, suchte in ihren Gesichtern nach Bestätigung. Was er dort fand, war jedoch etwas gänzlich anderes.
Finn betrachtete ihn mit grimmiger Entschlossenheit. Eine Hand zur Faust geballt wippte er wild auf den Zehenspitzen. Mit der anderen rückte er immer wieder seine Brille zurecht. Der kleine, blonde Junge schien zu allem bereit.
Chris dagegen betrachtete bedrückt die Eintrittskarte in seiner Hand. Er drehte das Papier nachdenklich herum. «Ich will da aber nicht rein.»
«Was meinst du?», wollte Mick wissen.
«Das Geisterhaus», Chris deutete die Straße hinab, auf die Einmündung des Krummen Weges. «Es macht mir Angst. Was ist, wenn uns dort weitere dieser Ratten und Krähen, oder womöglich sogar noch Schlimmeres erwartet?» Er sah seine Freunde fragend an.
Finn und Mick lief es trotz der sommerlichen Temperaturen kalt über den Rücken. Finns Entschlossenheit schwand wie ein Schneemann im August. Schweigend blickten beide auf ihre Füße.
«Mein Bruder behauptet, ich muss meine Ängste überwinden. Aber wie soll das gehen? Schon wenn ich daran denke, werden meine Füße bleischwer, mein Magen verkrampft sich und...»
«Magen!», unterbrach Mick ihn, «Ich hab heute noch gar nichts gegessen! Wenn ich jetzt nicht sofort etwas zwischen die Zähne bekomme, werde ich auch zum Zombie!» Mit einem Knurren versuchte er spielerisch nach seinen Freunden zu greifen, die grinsend zurückwichen.
Micks alltägliche Sorge durchbrach die unangenehme Situation und brachte die drei zurück in die Normalität. Chris formte lachend mit den Fingern ein Kreuz: «Weiche!»
«Das gilt doch nur für Vampire, weißt du denn gar nichts?», belehrte ihn Mick. «Aber ich verschwinde jetzt nach Hause.»
«Vorher gehen wir zusammen zu Frau Jakobs. Denn du bekommst bestimmt kein Frühstück von deiner Oma, wenn du ohne das Geld zurückkommst», erinnerte Chris ihn.
An Frau Jakobs schien der Vorfall im Garten ebenfalls seine Spuren hinterlassen zu haben. Sie schob sich gerade zwei Kopfschmerztabletten in den Mund, als die Jungen um die Hausecke bogen. Die Tasche mit dem Pullover lag noch immer im Gras neben der Hängematte. Die alte Dame hatte es bisher nicht einmal bemerkt. Mick erklärte ihr reumütig, er habe sich eben erschreckt und sei daher weggelaufen. Es schien zu funktionieren. Frau Jakobs gab Mick geistesabwesend das Geld für den Pullover. Er stellte ihr die Quittung aus und erhielt sogar ein großzügiges Trinkgeld. Fahrig bat Frau Jakobs die Jungen, Doktor Anderson zu suchen und ihn zu ihr zu schicken. Möglicherweise bekam sie eine Sommergrippe. Die drei versprachen es feierlich und gingen schnell wieder.
Mick verabschiedete darauf sich mit knurrendem Magen von seinen Freunden. Er schwor, er wolle zu der Bank an den Klippen zu kommen, sobald Oma ihn ließ.
«Komm», sagte Chris zu Finn, «ich hab fürs Erste genug», und wollte schon zu den Klippen, als dieser ihn am Arm hielt.
«Erst der Doc. Oder hast du Frau Jakobs schon vergessen?»
«Stimmt!» Chris blickte erneut auf die Karte in seiner Hand. «Bin wohl etwas durcheinander.»
Das Haus des Doktors befand sich am oberen Ende des Krummen Wegs, so dass Chris das Geisterhaus aus der Entfernung im Tageslicht betrachten konnte. Finn blieb neben ihm an der Eingangstür des Arztes stehen und sah ebenfalls auf das verfallene Haus hinab: «Schaut doch gar nicht so schlimm aus.» Er stupste Chris aufmunternd an.
Hier jedoch schien das Leben verstummt. Niemand war auf den Straßen unterwegs. Selbst der Gesang der Vögel in umliegenden Bäumen waren erstorben, lediglich eine einsame Krähe krächzte in der Ferne eine traurige Klage. Der aufkommende Wind pfiff leise sein körperloses Lied, ließ die Antennen singen und die Blätter in den Bäumen rascheln. In einem Vorgarten ratterte ein einzelnes Windrad. Die Jungen sahen gebannt zum Geisterhaus hinab.
Ein morscher Fensterladen schwang dort umher. Selbst auf die Entfernung hörten sie die Scharniere protestierend kreischen und die dumpfen Geräusche des Ladens, der immer wieder gegen den Fensterrahmen schlug. Die geborstene Scheibe klirrte ihre Antwort dazu.
Chris schüttelte sich. «Und das nennst du nicht schlimm? Ich finde es hier gespenstisch.»
«Ach komm schon, das ist nur ein wenig Wind. Du tust ja so, als ob du vom Inland kommst. Es sind Ferien. Die Leute hier sind lediglich im Urlaub oder gerade arbeiten.»
Dann betätigte Finn den altmodischen Türklopfer an der Arztpraxis. Das dumpfe Pochen hallte durchs Haus. Müde kam Doktor Anderson an die Tür geschlurft. Sie erklärten ihm, wer sie geschickt hatte und worum es ging. Er versprach, sich gleich auf dem Weg zur alten Dame zu machen. Somit war dies auch erledigt.
Als Chris und Finn sich der Bank an den Klippen näherten, sahen sie Mick dort bereits sitzen. Glücklich auf einer dicken Scheibe Brot mit Speck kauend winkte er ihnen zu.
«Ich warte hier schon ewig», begrüßte er sie. «Also wann geht’s los?»
«Ihr wollt das wirklich machen?» Chris sah beide an.
Finn und Mick nickten heftig.
«Sieh es mal so», sagte Finn, «du musst nicht alleine hinein. Und für dich winkt doch am Ende sogar eine Belohnung.»
«Schlimmer als in Horror-Comics Nummer 49 kann es auch nicht werden», ergänzte Mick. «Dort gab es ein Portal zur Hölle und ...»
«MIIIIHIIIIICK!», kreischten seine Freunde auf.
«Was denn?» Er sah sie an. «Ihr seid manchmal solche schrecklichen Angsthasen.» Damit schob er sich den Rest des Brotes in den Mund. «Und außerdem wartet doch dein großer Bruder draußen, oder?»
Chris nickte. «Klar, ich soll ihm ja mit der Taschenlampe leuchten.»
«Dann ist es beschlossene Sache!» Mick rieb sich die Hände.
«Auf jeden Fall!» Finn nickte entschlossen.
«Ihr seid doch beide total verrückt!», stöhnte Chris. «Aber dann muss ich wohl mit.» Er blickte hoffnungsvoll auf: «Oder könntet ihr vielleicht meinem Bruder mit der Taschenlampe leuchten und ich warte ... ?»
Finn und Mick schüttelten grinsend die Köpfe.
Chris stöhnte: «Euch als Freunde zu haben ist echt anstrengend. Ich meine, ich bin euch echt dankbar, dass ihr das für mich machen wollt. Aber...»
«Wann geht´s los?», wollte Mick wissen.
«Lass uns vorher überlegen, was wir alles an Ausrüstung benötige», erwiderte Finn.
Und so planten die Jungen ihren nächtlichen Besuch im Geisterhaus.