- Nächtliche Chorgesänge -
Vorsichtig folgten die Jungen dem schmalen Pfad ins hohe Gras. Zwischen wilden Büschen führte er sie an der hölzernen Fassade und den vernagelten Fenstern entlang, bis er unter der alten Weide um die Hausecke bog. Die Pflanzen bildeten hier ein geschlossenes Dach über ihren Köpfen. Sie hielten das schwache Licht der Straßenlaterne und auch den Mond ab. Bis auf ihre Lampen waren die Kinder nun von reiner Schwärze umgeben.
«Gespenstisch», kommentierte Mick, «man kommt sich wie in einem geheimen Tunnel vor.»
Sie schlichen langsam weiter. Der Weg entfernte sich vom Haus, führte sie in die dunklen Tiefen des verwilderten Gartens, bis er mit einem Mal in eine freien Fläche auf der Hausrückseite mündete. Immer wieder stolperten sie nun auf dem unebenen Boden.
«Wow, das ist jetzt wirklich mal schräg», sagte Finn plötzlich.
Er richtete seine Lampe auf ein kleines Häuschen aus Stein, das zu ihrer Rechten aus der Dunkelheit aufragte. Davor lagen Bündel vertrockneter Rosen zwischen verloschenen Kerzenstummeln und ausgebrannten Teelichtern. Die seitlich gepflanzten Büsche waren hier sorgfältig gepflegt und zurückgeschnitten. Auf der Granittür am Eingang prangte ein stilisiertes Kreuz aus Metall, darunter waren altertümliche Worte in den Stein gemeißelt.
«Ich glaube, das ist ein echtes Grab», flüsterte Mick erregt.
«Dann hatte Ben mit seiner Geschichte vielleicht wirklich recht», Chris Stimme zitterte, « und hier gibt es einen Friedhof.»
Finn trat entschlossen an den Stein heran. Vorsichtig wischte er etwas Moos zur Seite und las die Inschrift:
«Elise Duboise, *23.07.1803 †02.12.1921»
Verblüfft sah er auf: «Dann liegt hier vermutlich Nathaniels Großmutter begraben.»
Er blickte sich skeptisch um. «Aber warum legt der Voodoomann dann noch Blumen, besonders Rosen hier ab? Das erscheint mir doch recht merkwürdig.»
Chris schwieg. Er erinnerte sich an eine Geschichte, die er in der Gaststube aufgeschnappt hatte. Angeblich sollte Nathaniel seine über alles geliebte, und viel zu jung verstorbene Ehefrau hinter seinem Haus vergraben haben. Chris rechnete kurz. Aber 118 Jahre war bestimmt nicht «viel zu jung». Außerdem würde Nathaniel dann ja selbst schon seit mehr als 200 Jahren leben. Nein, etwas an dieser Geschichte konnte nicht stimmen. Es musste sich hier um ein anderes Grab handeln.
«Ey Mist, ich glaub wir stehen hier auf lauter Leichen!» Micks panische Stimme unterbrach seine Gedanken.
Der große Junge wich eilig einige Schritte zurück und leuchtete hektisch über den Boden. Um Chris und Finn herum befanden sich mehrere, ordentlich angelegte Reihen kleiner Erdhügel. Manche davon mussten schon älteren Datums sein, so wie sie mit Gras überwachsen waren. Andere dagegen wirkten neuer, zwei sogar ganz frisch. Die Erde war bei ihnen noch ordentlich plattgedrückt, man konnte sogar die Spuren der Schaufel erkennen. Es roch hier durchdringend nach feuchter Erde. Auf jedem dieser Gräber stand ein kleines Kreuz, liebevoll aus Holz gefertigt und aufwendig mit Schnitzereien verziert. Sie blickten sich entsetzt um. Es mussten Hunderte sein. Darüber waren sie eben immer wieder gestolpert, Gräber!
Keuchend wichen die Jungen zum Haus zurück.
«Verdammte Scheiße!», entfuhr es Chris. «Was ist DAS denn für ein Mist?»
Auch Mick und Finn zitterten jetzt am ganzen Körper.
«Mann», schimpfte Mick, «So viele Tote. Warum weiß denn keiner davon? Hat der die etwa alle umgebracht?»
«Aber das können keine Menschen sein», platzte es aus Finn heraus. «Dafür sind die Gräber doch viel zu klein. Entweder hat er hier unzählige Babys begraben, oder lauter kleine Tiere.»
Alle schwiegen erschüttert und blickten auf den Friedhof, der sich vor ihnen in der Dunkelheit ausbreitete.
Da kam Chris eine Idee: «Und wenn es seine Affen sind? Ich meine, wenn er doch irgendwie immer an neue Affen gelangt und die alten hier heimlich begräbt?»
«Das würde irgendwie ins Bild passen», meinte Finn. Er wirkte nun schon wieder entspannter, auch wenn er sich geistesabwesend mit dem Finger über die Nase rieb.
«Ich frage mich nur», sprach er dann weiter, «woher er all die Affen bekommt. Ich meine, die kann man ja nicht gerade bei meinen Eltern im Laden kaufen. Der Paketdienst hat meines Wissens nach auch noch nie hierhin geliefert und im näheren Umkreis gibt es garantiert kein Geschäft, das Affen verkauft.» Er sah seine Freunde an. «Wenn das überhaupt Legal ist. Die Tiere unterliegen schließlich dem Artenschutzgesetz. Da gibt es bestimmt einige Auflagen zu erfüllen, bevor man so ein Tier kaufen oder halten darf.»
Chris sah ihn abwartend an, doch Finn schwieg.
«Nicht dein Fachgebiet?», fragte Mick nach einem Moment spitz.
«Nein, noch nicht. Ich habe versucht, mehr darüber zu erfahren. Aber dazu müsste ich an die Computer in der Bücherei. Ich hatte gehofft, hier im Haus Näheres darüber herauszufinden.»
«Na dann machen wir das jetzt einfach», sagte Chris. Er war froh, den seltsamen Friedhof nicht länger anblicken zu müssen und ihn hoffentlich auch bald aus seinen Gedanken verdrängen zu können. Er drehte sich um und richtete seine Taschenlampe auf die große, verfallene Holzveranda des Hauses.
Dort gab es sogar die erhoffte Hintertür. Eine kleine, schon schief in den Angeln hängende Holztür, die nicht sonderlich stabil wirkte. Er seufzte schwer und ging darauf zu.
Über ihnen im Baum begann eine einsame Krähe zu krächzen. Die drei Jungen zuckten erschrocken zusammen. Das schnarrende Geräusch hallte erschreckend laut in der Nacht. Zusätzlich wurde es von den umstehenden Häusern zurückgeworfen, so das es nach einem ganzen Krähenchor klang. Dann antwortete wirklich ein zweiter Vogel auf den Ruf, gefolgt von einem dritten und dann ein vierter. Immer mehr Krähen krächzten von den umliegenden Dächern und Häusern. Schon bald war die ganze Nacht von ihrem schaurigen Lärm erfüllt. Voller Panik stürzte Chris auf die Veranda und riss an der alten Tür.
Später konnte er noch nicht ein Mal genau sagen, ob sie nun verschlossen gewesen war oder nur geklemmt hatte, doch nach einem zweiten, kräftigen Ruck stürzte Chris plötzlich mit dem Griff in der Hand rückwärts über Finn. Beide Jungen kugelten über die Veranda und konnten sich nur knapp zur Seite rollen, um nicht von der nachfolgenden Tür getroffen zu werden. Mick zog sie an den Armen wieder in die Höhe und gemeinsam stolperten die drei durch die finstere Öffnung ins Geisterhaus.