- Von Geflügelzucht und seltsamen Gerüchen -
Finn grübelte über Chris Worte, während er die alten Zeitungen im Lager sortierte. Neben den vielen anderen Gedanken, die dem quirligen Jungen dabei parallel durch seinen Kopf purzelten.
Ein Zombieaffe, pah. Die Idee war einfach absurd und widersprach allen Naturgesetzen. Aber Chris hatte völlig überzeugt gewirkt, als er vom Tod des Affen berichtete. Und von Videospielen hatte er erzählt, von Videospielen und von Konsolen. Neben dem Erdbeben. Die Erbauer des Einkaufszentrums hätten wissen müssen, das die Gegend hier gewissermaßen die Mutter aller Erdbeben-Epizentren war. Vielleicht waren die Geschäftsinhaber ja sogar gegen die Schäden versichert. Hoffentlich, sonst wären sie schnell bankrott. Wobei, welches vernünftige Versicherungsunternehmen würde dementsprechende Verträge hier in der Gegend abschließen?
Gab es eigentlich auch eine Versicherung für den Tod eines Haustieres? Oder hatte Nathaniel daher den Affen wiederbelebt? Ach Blödsinn! Aber Chris war sich doch sicher gewesen. Hatte der Voodoomann womöglich doch ...
Uff! Finn glaubte, ihm würde gleich der Kopf platzen. Er musste zunächst seine rasenden Gedanken beruhigen, bevor er weiter über Drehorgelmänner und Zombieaffen nachdachte. Im Moment sprangen die Bilder und Wortfetzen wie hundert brennende Flummis gleichzeitig durch seinen Kopf. Doch Finn kannte dieses Gefühl gut. Mit der Zeit hatte er Mittel und Wege gefunden, das Gedankenchaos zwischen seinen Ohren zu besänftigen. Manchmal reichte es, sich kurz auf den Zehenspitzen zu stellen und die Luft anzuhalten. An anderen Tagen genügte es, sich eine Zeitlang die Nase zu reiben. Das war gerade in der Schule im Unterricht hilfreich. Wobei er sich dabei seltsamerweise vorstellte, in einem weichen Kopfkissen zu versinken.
Doch heute gab es nur eine vernünftige Lösung, so wild und sprunghaft waren die Ideen und Fragmente im Kopf. Er musste etwas Spannendes lesen. Sich in einem Text verlieren und neues Wissen aneignen. Das half immer!
Dafür befand er sich zum Glück am besten Ort, den er sich vorstellen konnte. Von der öffentlichen Bücherei natürlich mal abgesehen, an die kam nichts heran. Aber das Papierlager seiner Eltern hatte andere Vorteile. Es war für ihn rund um die Uhr verfügbar und er brauchte nicht erst in einen Bus steigen. Grinsend griff er in einen Karton und zog ein Heft hervor. Eine Ausgabe von Moderne Psychologie trat zum Vorschein. Enttäuscht legte er das Heft zur Seite. Er hatte es bereits gelesen. Abgesehen von dem Titelthema Angst wurde darin die Intelligenz von Tieren behandelt. Die direkten Vergleiche neuronaler Gehirnvernetzungen verschiedener Arten und die Effektivität der Nutzung jener im Vergleich zum Menschen. Ein faszinierendes Thema, wie Finn fand. Er legte eine Vormonatsausgabe des Segelmagazins darauf (Das Katamaran-Special), das vierteljährig erscheinende Fachblatt für Archäologie und den wöchentlich erscheinenden Wissensquiz. Langweilig. Denn er kannte sie bereits alle. Doch womöglich fand sich in der Kiste dahinter etwas bisher Unentdecktes. Das abgelaufene Astronomie-Magazin wanderte zur Seite, gefolgt vom Pflanzen- und Heilkundeblatt. Alles äußerst spannend wenn man es noch nicht kannte, jedoch für Finn nicht mehr neu. Dann stieß er auf etwas, das sich bisher vor seinem Wissensdurst verborgen hatte: das Geflügelzüchtermagazin. Es war zwar die Ausgabe von letztem Frühjahr, doch Finn strahlte glücklich. Er öffnete das vergitterte Fenster, um die kühle Abendluft in die stickige Kammer zu lassen und setzte sich zwischen den Kartonstapeln auf den Boden.
Versunken in einem Artikel über den bemerkenswerten Versuch einer Kreuzung zweier Taubenrassen mit dem Ziel, effektivere Brieftauben zu schaffen, bemerkte er den süßlichen Geruch zuerst nicht. Doch dann darauf aufmerksam geworden, konnte er ihn nicht mehr ignorieren. Er drängte sich regelrecht in seine Nase, füllte die Nebenhöhlen und stach hinauf bis ins Gehirn. Finn meinte sogar, einen pelzigen Belag auf der Zunge spüren zu können. Er kämpfte gegen den aufkommenden Würgereiz an. Der Geruch weckte Erinnerungen. Schlimme Erinnerungen.
Sie hatten Finns Opa letzten Herbst beerdigt, drüben an der Kirche. Der alte Mann war nach langer Krankheit gestorben und letztlich waren alle insgeheim erleichtert gewesen, dass es vorbei war. Finn und seine Eltern hatten sich um den Großvater gekümmert, als er zittrig und vergesslich wurde, ihn liebevoll gepflegt. Später dann auch gefüttert und gewickelt, als der alte Mann nur noch zusammenhanglose Worte brabbelnd im Bett gelegen hatte. Parkinson, das war die Diagnose des Arztes gewesen. Ein fortschreitender Verfall des Gehirns, gegen das es kein Heilmittel gab. Finn hatte zu der Zeit viel darüber gelesen und sich vorgenommen, Forscher zu werden, um dies zu ändern. In den letzten Tagen des alten Mannes hatten schwarze Krähen fast jeden Tag lauernd auf dem Fensterbrett gesessen und ins Zimmer gestarrt. Sie hatten den Raum mit eine Kälte und Trostlosigkeit erfüllt, dass Finn das Herz in der Brust gefror. Er hatte die Tiere immer wieder verscheucht, doch sie kehrten bereits nach kurzer Zeit zurück. Er hatte es seinen Eltern erzählt, doch nur Kopfschütteln und verständnislose Blicke geerntet. Es schien damals so, als ob nur er die Tiere hatte sehen können. Das war gruselig gewesen. Nach der Beisetzung waren sie jedoch verschwunden und nie wieder aufgetaucht.
Wegen des anhaltenden Herbststurms hatte die Beerdigung jedoch am Ende verschoben werden müssen. Der Großvater war kühl gelagert worden, doch die Verwesung war nicht aufzuhalten gewesen. Finn hatte die Leiche schließlich riechen können. Er schüttelte sich.
Und es war genau der gleiche, verdammte Geruch gewesen, der nun durch das Fenster drang. Finn richtete sich hustend und würgend auf auf. Draußen erkannte er die alte Drehorgel. Der bunt bemalte und verzierte Holzkasten auf Rädern stand direkt an der Mauer. Auf ihr hockte der schreckliche Affe und blickte Finn starr ins Gesicht. Das Tier hob eine Hand und kratzte sich am Ellenbogen. Sofort wehte eine weitere Wolke des Gestanks herein. Der Affe war die Quelle, erkannte Finn jetzt. Und noch etwas fiel ihm auf. Der Affe kratzte sich nicht am Ellenbogen, jedenfalls nicht richtig. Er sah genauer hin. Nein er kratzte an etwas anderem, etwas Weißem.
An einem Knochen.
Zwischen dem verklebten Pelz schimmerte eindeutig ein Stück Knochen hervor, erkannte der entsetzte Junge. Chris hatte womöglich doch recht gehabt, dachte er erschaudernd. Das war ein Zombieaffe. Wie sonst sollte man das erklären?
Als hätte das Tier seine Gedanken erraten, bleckte es die spitzen Zähne und fauchte ihn an. Finns Knie wurden weich. Er sank auf den Boden zurück. Das war so falsch, das konnte doch nicht sein! Es widersprach jeglicher Logik.