-Vom Schrecken tief drunten-
«Ich sollte meine Erzählung wohl mit dem Orden beginnen. Denn schließlich ist er der Dreh- und Angelpunkt dieser Geschichte. Wenngleich der Orden gegründet wurde, um den Verfall einzudämmen und zu bewachen. Daher sind beide Dinge wohl untrennbar miteinander verbunden und ich muss euch auch von beiden berichten. Doch fangen wir mit dem Orden an, dem Zusammenschluss von Forschern, Jägern und Hütern. Zunächst einmal solltet ihr wissen, der Orden dient vor allem dem Schutz der Menschheit. Man könnte sagen, wir - die Kuratoren - hüten aus dem verborgenden heraus die gesamte Existenz.»
Der alte Leuchtturmwärter deutete mit einem Schwenk auf die Regale ringsum: «Ich für meinen Teil beispielsweise hüte diesen Turm und die Geheimnisse darunter. Nebenbei auch noch diese Bücher und das Wissen darin. Das sind meine großen Aufgaben.»
Chris und Mick sahen den alten Mann nur verständnislos an. Finn dagegen blickte immer wieder mit großen, hungrigen Augen auf die Bücher und Pergamente ringsum.
«Für euch mögen es nur beschriebene, alte Seiten sein, aber in ihnen stehen Dinge, die die Menschheit verändern könnten, nicht nur zum Guten. Es sind dunkle Geheimnisse, die jedem Rechtschaffenen den Schlaf rauben und Machtgierigere anlocken würde. Aber sie erzählen auch von der Hoffnung auf eine bessere Zeit und dem fortwährenden Kampf gegen den Verfall. Wobei wir gerade schon in einer besseren Zeit, ja in der besten bisher leben. Und dies verdanken wir den stetigen Bemühungen des Ordens. All dies ist hier zwischen den Buchdeckeln festgehalten worden.»
Finn begann hektisch mit seinem gesunden Bein zu wippen, bis Mick ihm in die Rippen stieß.
Der alte Leuchtturmwärter sah zu Finn: «Immerhin du weißt noch den Wert von geschriebenen Worten zu schätzen. Aber ich wollte euch ja vom Orden erzählen.» Er zwinkerte.
«Der Orden, wie ich ihn nenne, wurde im 13. Jahrhundert unter der Bezeichnung curatorium ab exito securitatis gegründet. Doch im Laufe der Zeit passte man sich an. Die modernere Bezeichnung lautet Das Kuratorium des Verfalls. Es handelt sich dabei um die größte Vereinigung von Forschern, Erfindern und wagemutigen Abenteurern, die man sich nur vorstellen kann. Überall auf der Welt existieren heute Stützpunkte, die im Geheimen über die Dunkelheit wachen und das Leben behüten. Bis zur Gründung gab es, wenn man diesen alten Aufzeichnungen hier glauben schenkt, nur gelegentliche lose Zusammenschlüsse von Forschern, die sich damals noch Alchemisten nannten. Davor waren es Schamanen, Zauberer und Heilkundige, die manchmal einen kleinen Teil des geheimen Wissens errieten, oder von anderen überliefert bekamen. Aber bleiben wir beim Mittelalter, denn dort beginnt unsere Geschichte. Zu dieser Zeit breitete sich eine schreckliche, bis dahin niemals in diesem Ausmaß gekannte Krankheit in Europa aus.»
«Die Pest!», platzte es aus Finn heraus.
Samuel nickte. «Das ist richtig. Und wer von euch weiß, wie sie sich verbreitete?»
Mick sah gelangweilt zum Affen hinüber, der mit den Fransen eines geknüpften Teppichs spielte. Finn dagegen rutschte unruhig auf der Couch umher, was Chris belustigt an eine durchschnittliche Schulstunde erinnerte.
«Hinter der Pest, der Pestilenz oder auch dem Schwarzen Tod», plapperte Finn schnell, «verbirgt sich nach dem heutigen Stand der Wissenschaft der Yersinia-pestis-Erreger. Dies ist - oder war - ein Bakterium, welches...»
«Ratten», unterbrach Chris seinen Freund, bevor dieser sich in einem ausufernden Monolog verlor.
Finn schnaubte und sah Chris aus zusammengekniffenen Augen an.
Samuel nickte zustimmend. «Wobei inzwischen klar ist, der ursprüngliche Erreger war noch wesentlich älter und stammte aus unterirdischen, lichtlosen Gefilden. Zur Bekämpfung genau dieses Übels wurde der Orden gegründet.»
Er hielt kurz inne. Jetzt hatte er die volle Aufmerksamkeit der Kinder.
«Tief unter uns, im Inneren der Erde verborgen existiert eine schreckliche Macht. Sie ist eine primitive, ja eine urtümliche Kraft, die dort wahrscheinlich schon so lange existiert, wie es Leben hier oben auf der Erde gibt. Und diese Macht ist hungrig. Unersättlich giert sie nach all jenem Leben, das die Oberfläche bevölkert. Genauer gesagt, nach der Energie, der Lebenskraft aller atmenden Kreaturen. Sie verschlingt alles, dessen sie habhaft werden kann.»
Er kniff die Augen zusammen, sah die Jungen eindringlich an. Dann deutete er zu den Fenstern und auf die hellen Muster, die das einfallende Licht auf den Boden warf.
«Doch das Licht der Sonne, das unser Leben erst ermöglicht, genau dieses Licht ist die natürliche Grenze für jene schreckliche Macht aus der Tiefe, dem Verfall. Diesen Namen trägt sie nämlich nicht ohne Grund. Wenn die Macht sich an unserer Lebenskraft nährt, uns aussaugt, dann verfallen wir. Wir welken dahin wie Blätter im Herbst. Uns wird zunächst innerlich kalt, wir verlieren die Lust am Leben. Geschieht dies dann öfters, altern wir schnell und sterben weit vor unserer Zeit. Wir verfallen. Doch im Licht der Sonne verlischt diese gierige Macht. Sie löst sich auf wie Morgennebel.»
Chris erschauderte plötzlich. Er musste an die Begegnung mit der Ratte im Keller des Gasthofs denken. War es ihm dort nicht genau so ergangen? Hatte ihn nicht jegliche Freude und Lebenskraft verlassen, als ihn dieses Tier angestarrt hatte? Zögernd sah er zu Samuel, der sich gerade seine Pfeife stopfte.
«Ich glaube, ich weiß, was Sie meinen.»
Der Leuchtturmwärter und die Freunde sahen Chris erwartungsvoll an.
Er schluckte, dann sagte er: «Vor zwei Tagen, im Keller, da war diese schwarze Ratte...»
Verdammt, warum war das so schwer? Schon der Gedanke daran ließ ihn wieder innerlich zu Eis erstarren.
«Die Ratte hat ... einfach dort gestanden und mich angesehen. Und es war so ... ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.»
Mick richtete sich erregt auf: «War es, als ob dir deine Wärme entzogen wurde? So, dass du dich nicht wehren konntest und du nur noch schwach und müde warst?»
Finn sah seine Freunde entgeistert an, dann wandte er sich aufgeregt an Samuel: «Sind es denn immer nur Ratten? Ich meine, können nur Ratten so etwas tun oder auch andere Tiere?»
Der alte Mann schüttelte bedächtig den Kopf. «Nein, Kinder. Ihr habt es doch letzte Nacht selbst erlebt. Es sind nicht nur die Ratten. Der Verfall kann sich auch in der Form von Krähen manifestieren.»
Alle drei Jungen starrten ihn entgeistert an. Einige Sekunden lang erfüllte nur das Ticken der alten Standuhr die Stille.
Dann flüsterte Finn: «Bei meinem Opa saßen damals immerzu Krähen auf der Fensterbank, bis er gestorben war. Sie haben mir Angst gemacht. Immer wenn sie da waren, wurde es kalt und trostlos im Raum.»
Mick fuhr etwas lauter fort: «Gestern Morgen waren im Garten von Frau Jakobs eine Krähe und eine Ratte. Sie haben mich beide angesehen. Naja, eigentlich eher die Frau. Mir war nur ein bisschen kalt. Aber Frau Jakobs ging es danach richtig schlecht. Ihr habt es ja selbst gesehen. Da musste der Arzt kommen.»
Verunsichert blickten sich die Kinder an. Ein lauter Knall ließ sich zusammenfahren.
"Ach du tolpatschiges Tier", schimpfte der Alte los.
Der Affe hatte bei einem Sprung wohl die Entfernung falsch abgeschätzt und war gegen die Seitenwand eines Bücherregals geprallt. Nun saß er benommen am Boden und blickte sich kopfschüttelnd um. Dann verschwand er zwischen den Regalen. Es wurde still.
Samuel entzündete ein Streichholz. Die Jungen zuckten bei dem Geräusch erschrocken zusammen. Leichter Schwefelgeruch breitete sich in der Bibliothek aus.
Als die Pfeife brannte, sprach der alte Mann weiter: «Dann wisst ihr ja schon, wovon ich spreche. Das ist gut, denn damit spare ich mir viele Erklärungen.
Kommen wir also zum Kern der Sache. Diese Macht, der Verfall, er lauert unter der Erde. In dunklen Nächten allerdings dringt er aus Rissen bis an die Oberfläche. Er nimmt dort dann die Form von Krähen oder Ratten an. In diesen Tierformen kann er nahezu überall auf der Welt aus dem Verborgenen agieren, ohne dabei aufzufallen. Durch diese Manifestationen, wie wir sie nennen, wird es dem Verfall auch möglich, bei Tage auf der Erde zu verweilen. Starkes Sonnenlicht setzt ihm in diesen Tierformen jedoch noch immer zu. Es blendet ihn und nimmt ihm die Fähigkeit, sich an der Lebenskraft anderer zu laben. Doch die Manifestationen vergehen dadurch nicht, sondern sie flüchten einfach und warten im Verborgenen auf ihre nächste Gelegenheit. Ja, unter natürlichen Bedingungen scheinen sie in diesen Tierformen regelrecht unsterblich zu sein.»
Pfeifendunst lag schwer in der Luft. Die drei Jungen erschauderten.
Chris blickte auf: «Aber was kann man dann dagegen tun? Werden es nicht immer mehr Krähen und Ratten, wenn sie nicht sterben können?»
Samuel sah ihn wohlwollend an. «Das ist eine gute Frage. Und ja, du hast Recht. Genau dies ist nämlich im Mittelalter geschehen. Zusammen mit den Manifestationen brachte der Verfall plötzlich noch die Seuche, die Pest an die Oberfläche. Vielleicht war es nur ein Zufall. Oder die Menschen waren schon so vom stetigen Entzug ihrer Lebensenergie geschwächt, dass sie anfällig für Krankheiten wurden. Doch die Seuche breitete sich aus, immer mehr Menschen starben an ihr. Fast schien es, als ob die Menschheit damals für immer vergehen würde.»
Der alte Mann blies einige Rauchschwaden in die Luft.
«Jedoch genau zu diesem Zeitpunkt wurde dann der Orden gegründet. Er fand damals schnell heraus, dass die Tiere die Verursacher der Seuche waren. Jedenfalls waren sie direkt daran beteiligt. Der Verfall strömte damals ungehindert aus unzähligen Rissen an die Oberfläche - dadurch entstand eine gewaltige Rattenplage. Jede Nacht krochen Hunderttausende neuer Krähen und Ratten aus dem Inneren der Erde hervor. Es hätte damals nicht mehr lange gedauert, und das gesamte Leben wäre von ihnen verschlungen worden.»
Chris hatte die Finger in die Armlehne der Couch vergraben, Mick kaute an seinen Nägeln.
«Und was hat der Orden dann getan?», fragte Finn atemlos.
«Die Alchemisten hatten erkannt, dass es die Risse in der Erde waren, aus denen das Übel hervordrang. Doch erst zusammen mit den besten Erfindern gelang es ihnen letztendlich, diese Risse wieder zu verschließen. Sie bauten darauf besondere Türme, Türme des Lichts. Getarnt als Leuchttürme.»
«So wie dieser hier?», wollte Finn wissen.
«Genau. So wie dieser. Es sind Leuchttürme und gleichzeitig auch Wachtürme, Bollwerke gegen den Verfall.
Die Risse, bemerkten die Kuratoren damals, entstanden nämlich nur an Orten, wo die Elemente Wasser und Erde mit großer Kraft aufeinandertrafen, an Küsten. Daher war es logisch, die Türme als Leuchttürme zu tarnen. Mit ihnen verschloss man die großen und tiefen Risse. Kleinere Öffnungen in der Erde wurden dann mit dem Licht der Türme beschienen, bis sie sich wieder von alleine schlossen.»
Samuel legte seine Pfeife zur Seite und beugte sich vor. Er senkte die Stimme zu einem Flüstern: «Die Erfinder entwickelten damals Schlösser, mit denen sie diese Risse abriegelten. Tief unter uns verborgen liegt ein solcher, gewaltiger Riss. Diese Uhr dort hinten», er wies auf die alte Standuhr zwischen zwei Regalen, «verschließt den Zugang in die Unterwelt. Sie ist eine Pforte in das Reich des Verfalls.»
Die Kinder drehten die Köpfe. Die Uhr dort sah zwar alt aus, schien aber doch nur eine ganz gewöhnliche Uhr zu sein.
«Wie kann das sein?», verlangte Finn zu wissen. «Das klingt alles sehr merkwürdig. Das ist doch nur eine normale Uhr.»
«Wie genau dies alles funktioniert, kann ich dir nicht sagen. Nathaniel hätte es gekonnt, denn er war der Forscher und Erfinder in meiner Gruppe. Laut den Aufzeichnungen in den Büchern wurden jedenfalls im 14. Jahrhundert die ersten, präzisen Uhrwerke in Europa entwickelt. Doch eigentlich war dies nur eine nebensächliche Erfindung bei den Versuchen, die Risse zu verschließen. Aber mit diesen neuen Schlössern hatten die Kuratoren plötzlich die Möglichkeit, die Manifestationen, die Ratten und Krähen, wieder in das Innere der Erde zu verbannen. Es bildeten sich damals rasch große Gruppen von Jägern, die all diese Ratten und Krähen einfingen und zu den Türmen und den dortigen Hütern brachten. Millionenfach wurden sie durch die Pforten wieder zurück unter die Erde geschickt.»
«Wow!», entfuhr es Mick staunend. Dann fiel ihm etwas ein: «Wir haben Sie letztens draußen mit einem Sack gesehen. Fangen sie auch noch solche Mannifetti ... äh, ich meine, Ratten und Krähen?»
Samuel nickte. «Oh ja, natürlich. Mein Jäger ist schon lange nicht mehr da, und einer muss sich schließlich darum kümmern. Bei dem Erdbeben vor drei Tagen sind viele neue Risse entstanden. Aus ihnen kamen auch die Krähen letzte Nacht.»
Er unterbrach sich. Der Affe kam zu ihm hinüber, bettelte um einen Hundekeks und verschwand dann wieder zwischen den Regalen.
Samuel sah die Jungen lange an, bevor er weitersprach: «Ohne Nathaniels Hilfe schaffe ich es vermutlich nicht allein. Vorher war es schon schwer, doch ohne den Jäger und nun auch ohne meinen Forscher bin ich hier verloren. Ich habe schon beim Orden um Unterstützung gebeten. Doch wie es scheint, werden die Kuratoren immer weniger, während jedoch immer neue Risse überall entstehen. Ich habe Angst, dass es erneut zu einem großen Ausbruch kommen könnte.» Der Alte senkte den Blick.
Die Jungen blickten sich an. Man sah geradezu, wie sie alle das Gleiche dachten. Dann schienen sie eine stillschweigende Übereinkunft getroffen zu haben. Sie nickten sich feierlich zu.
Chris ergriff das Wort: «Bitte lassen Sie uns helfen. Wir können das bestimmt. Bringen sie uns alles bei, dann werden wir diesen Verfall gemeinsam besiegen!»
Mick und Finn stimmten heftig nickend zu.
Samuel hob seinen Kopf und sah in drei entschlossene Gesichter. Ihm entfuhr ein erleichterter Seufzer. «Ihr drei seid eine Wohltat für mein altes Herz. Ich hoffe nur, ihr werdet dieses Angebot nicht bereuen.»