-Die Federwolke-
Kurze Zeit später verließen alle vier gemeinsam mit einem Strom untoter Tiere das Haus. Samuel hatte Finns Bein notdürftig geschient und trug den verletzten Jungen vorsichtig bis zu einem Korbsessel auf der Veranda. Die Rottweilerdame Ruby saß neben der Tür und beobachtete die hervorströmenden Tiere argwöhnisch.
Noch immer erfüllten betörende Flötenklänge die Nacht. Nun endlich sahen sie auch die Quelle. Zwischen den aufgebrochenen Tiergräbern im Garten bewegte sich eine dunkle Gestalt. Die Flöte in den Händen wiegte sie sich langsam im Takt ihres Instruments. Durch die auffällige Kopfbedeckung und dem Affen auf der Schulter erkannten die Kinder in ihr unschwer Nathaniel, den Voodoomann.
«Wollte der nicht eigentlich zum Jahrmarkt?», wunderte sich Chris.
Der Leuchtturmwärter kraulte die hechelnde Ruby zwischen den Ohren. «Ich habe ihn zu Hilfe gerufen, als dieser Hund vorhin zu mir kam. Und ihr solltet dafür dankbar sein.» Samuel wies mit dem Kinn auf die Flut von Tieren, die noch immer aus dem Haus strömte: «Ich hätte diese Beschwörung hier nicht brechen können.»
Erstaunt erkannten die Kinder, wie sich die unzähligen, ehemals mordlüsternen Tiere, angelockt von der Flöte, nun friedlich zu Nathaniel gesellten. Eines nach dem anderen krochen sie wieder in die Löcher im Boden zurück, aus denen sie sich noch vor kurzem befreit hatten. Und noch etwas bemerkten die Kinder: Die zornige, rote Glut in den Tieraugen war einem milden, orangen Schimmer gewichen.
«Wie macht er das?», wollte Finn wissen. «Ist das Magie? Nicht das ich daran glauben würde, aber ich muss wissen, wie sowas überhaupt möglich ist. Es muss doch eine logische Erklärung für alles geben.»
«Das soll er dir später besser selbst erklären. Nathaniel befasst sich nämlich schon seit Jahrhunderten mit diesem ganzen Kram. Ich selbst verstehe davon rein gar nichts. Er ist der Forscher.»
Samuel schwieg kurz und sah die drei Jungen ernst an. «Ihr habt heute ziemliches Glück gehabt, wisst ihr das?»
Alle drei nickten.
Er wandte sich an Chris: «Ich habe dich gewarnt. Hier draußen ist es Nachts gefährlich. Ich sprach dabei jedoch nicht von diesen albernen Zaubertricks dort.» Er zeigte auf die letzten untoten Tiere, die sich gerade friedlich in ihre Gräber begaben. «Ich meinte andere, weitaus größere und bösartigere Mächte. Es ist hier in der Gegend nicht mehr sicher. Ihr solltet bei Dunkelheit eure Häuser nicht mehr verlassen.»
Zorn funkelte in Samuels Augen. Die Kinder senkten beschämt ihre Köpfe.
«Nathaniel und ich sind alt. Wir haben sehr, sehr viel erlebt. Viel mehr, als ihr euch vorstellen könnt. Und vor allem haben wir es überlebt. Doch in den letzten Wochen schmerzen meine Knochen wie noch nie. Das ist kein gutes Zeichen, wahrlich nicht. Ich befürchte, Schlimmes wird über uns kommen. Die Diener des Verfalls kommen in immer größerer Zahl hervor.»
Finn wollte gerade nachfragen, von welcher Art Dienern der Alte sprach, als hunderte von schwarzen Schatten lautlos aus den Bäumen fielen. Samuel sprang entsetzt auf und stieß einen Warnruf aus. Er riss sein Amulett unter dem Hemd hervor und hielt es in die Höhe. Warmes, helles Licht breitete sich über dem Garten aus. Nun erkannten die Kinder das grauenvolle Geschehen.
Ein riesiger, wirbelnder Krähenschwarm hüllte Nathaniel ein. Dort, wo noch vor Augenblicken der einsame Flötenspieler gestanden hatte, wogte nun eine Wolke aus Federn. Und sie war nun auch nicht mehr lautlos. Die Vögel krächzten und kreischten, dass es die Kinder mit kalter Angst erfüllte. Der alte Leuchtturmwärter lief schreiend los, doch es war bereits zu spät. Flügelschlagend sank die Wolke langsam in sich zusammen.
Plötzlich erstrahlte ein gleißendes Licht inmitten der Krähen. Die gesamte Umgebung wurde für einen Augenblick in grelles Weiß, noch hundertmal stärker als die Mittagssonne gehüllt. Stöhnend schlossen die Kinder ihre Augen und wandten sich ab. Doch es half nichts. Das Licht drang durch ihre Lieder und brannte sich in ihre Netzhaut.
Dann, so schnell wie es gekommen war, war es auch schon wieder vorbei. Schwärze legte sich erneut wie ein Leichentuch über den Garten. Schwärze und Stille.
Chris öffnete die Augen, erkannte jedoch zunächst nichts, da ihn das grelle Licht geblendet hatte. Erst nach einer kleinen Ewigkeit hatten sich seine Augen erneut an die Dunkelheit gewöhnt und er konnte mehr als Schemen erkennen. Vor ihm stolperte Samuel halb blind auf die Stelle zu, an sich gerade noch Nathaniel befunden hatte. Und auch die schreckliche Wolke aus Krähen. Dort, wo diese Licht explodiert war.
Chris trat vor und half Samuel hoch, als dieser erneut strauchelte. Als sie die Stelle erreichten, erkannten sie einen geschwärzten, qualmenden Bereich. Das Gras war kreisförmig zu Asche verbrannt, der Boden dunkel verfärbt. Von den Vögeln waren lediglich einige verbrannte Federn übrig geblieben. Es stank erbärmlich. Mick näherte sich zögernd und blickte entsetzt auf den verbrannten Boden. Samuel hob eine zerrissenen, halb geschmolzene Silberkette ins Licht. Nathaniel Kette.
Das eigene Amulett hing dem Alten offen an der Brust. Es beleuchtete müde und tränengefüllte Augen.
«Was ... was war das?», stammelte Mick.
Er deutete zitternd auf die dunkle Stelle am Boden.
«Lasst mich das hier kurz untersuchen», bat Samuel.
Er tastete weiter den Boden ab. Chris griff Mick wortlos am Arm und zog ihn ein Stück zurück. Voller Grauen dachte er an die Vögel in den Bäumen, deren Rufe sie noch vor kurzen in dieses alte Haus getrieben hatte. Wie leicht hätten sie Opfer dieser Tiere werden können.
Die Jungen gingen mit weichen Knien zurück zu Finn, der sich trotz seiner Verletzung aufgerichtet hatte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte er alles zu beobachten. Doch entgegen seiner sonstigen Gewohnheit schwieg er.
Mit versteinerter Miene kehrte Samuel zu ihnen zurück. Er wischte sich mit dem rußigen Handrücken über das Gesicht, warf einen prüfenden Blick in die umliegenden Bäume und verbarg dann seinen Anhänger wieder unter dem Hemd.
Schwer seufzend baute er sich vor den drei Jungen auf. Er blickte sie schweigend der Reihe nach an, bevor zu sprechen begann: «Nathaniel ist verschwunden. Keine Ahnung, was er da genau gemacht hat. Mir scheint, er hat all das Licht seines Steins schlagartig freigesetzt. Ich kann es kaum glauben. Vermutlich hat er uns alle damit das Leben gerettet. Genau diese Gefahr habe ich eben gemeint. Wir hätten es besser wissen müssen."
Seine Stimme verlor sich in der Nacht. Müde Augen blickten zu dem, was von Nathaniels Kette übrig war.
Dann strafft er sich: "Und ich fürchte, ich bin euch eine Erklärung schuldig. Vermutlich noch weit mehr als das. Dies sollt ihr auch bekommen. Jedoch erscheint es mir gerade weder die richtige Zeit noch der passende Ort dafür zu sein.»
Er hielt kurz inne, dann sah er zu Mick: «Du läufst am besten gleich zu den Eltern deines Freundes und bringst sie zum Arzt. Erzähl ihnen ruhig, ich hätte euch zu einer Nachtwanderung überredet. Wenn sie weiter fragen, dann ist dein Freund dabei in eine Erdspalte gefallen.»
Er blickte streng in die Runde: «Habt ihr verstanden? Der dumme, alte Leuchtturmwärter hat euch dazu überredet. Wenn jemand fragen sollte, warum ihr in der Nacht draußen unterwegs wart. Und über Nathaniels Verschwinden wisst ihr absolut nichts. Das müsst ihr mir versprechen.»
Alle drei nickten eifrig.
«Gut. Dann bringen wir diesen verletzten Jungen jetzt endlich zu Doktor Anderson. Und morgen kommt ihr zu mir zum Leuchtturm und bekommt eure Erklärungen. Ihr könnt dann so viele Fragen stellen, wie ihr wollt. Aber nicht zu früh, Kinder. Ich brauche nun etwas Schlaf.»
Er wischte sich erneut einige Tränen aus dem Gesicht. Dann hob er Finn vorsichtig hoch und gemeinsam verließen sie das verwilderte Grundstück.