- Fischgräten, Schnabelschuhe und kein Kühlschrank-
Die Kinder entdeckten auf ihrer Erkundung durch das seltsame Haus noch viele weitere Räume, die jedoch allesamt mehr Fragen aufwarfen, als sie klärten.
In einem dieser Zimmer musste der Affe Herr Fröhlich leben. Nathaniel hatte dort seinem kleinen Begleiter große Kletteräste zwischen Wand und Decke befestigt. Oben darauf befand sich eine Nesthöhle, der Schlafplatz des Tieres. Zwei Näpfe am Boden dienten ihm für Wasser und Nahrung. Allerdings lagen darin keine Reste von Obst oder Früchten, wie die Kinder es aus dem Affenhaus im Zoo kannten. Micks Taschenlampe schwenkte über abgenagte Hühnchenknochen und Fischgräten. Chris wies seine Freunde angewidert darauf hin und sie verließen das Zimmer eilig wieder.
Hinter der nächsten Tür fanden sie etwas, das man wohl am ehesten als Kleiderkammer bezeichnen konnte. Der Raum war voller überquellender Truhen, Kleiderständern, behangenen Schneiderpuppen und vollgestopfter Regale. Überall hing und lag hier Bekleidung aus den unterschiedlichsten Epochen der Geschichte. In einem wandhohen Regal standen hunderte von Schuhen, wie die Kinder sie noch nie zuvor gesehen hatten. Neben mittelalterlichen Schnabelschuhen, glitzernden Samtpantoffeln mit Troddeln und ledernen Schnürsandalen erblickten sie geschnitzte Holzpantinen, Plateauschuhe und seltsame Überzieher aus Wildleder.
Die Schneiderpuppen im Raum waren mindestens ebenso bunt angezogen. Sie trugen gleich mehrere Lagen von Kleidung und wären damit auch im tiefsten Winter nicht erfroren, wenn die Puppen so etwas wie ein Kältempfinden besitzen würden. Die unglaubliche Vielfalt der Kleidung aufzuzählen würde vermutlich die Seiten dieses Buches sprengen. Doch so viel sei dazu noch gesagt: man könnte mit den Stoffen in Nathaniels Kleiderzimmer nicht nur einen ganzen Zirkus, sondern noch mindestens zwei historische Filmteams und einen Fantasyepos ausstatten. Es begann schlicht mit braunen, leinenen Hemden, die in ihrer Einfachheit kaum mehr als alte Säcke zu sein schienen. Dann ging es über grellbunte, orientalische Pluderhosen und fein verzierten Hemden mit Stehkragen über riesige, geflochtene Kopfbedeckungen mit Pelzbesatz, ledernen Brustpanzern mit Nieten bis hin zu goldverzierten Brokatmänteln, die auch einem König angemessen gewesen wären. Die Sammelleidenschaft des Hausbewohners schien sich nicht nur auf Bücher zu beschränken.
Doch die drei Jungen interessierten sich herzlich wenig für die Kleidung, daher war ihnen der Raum auch kaum eines zweiten Blickes wert.
Daneben lag ein Musikzimmer. Die Kinder sahen altertümliche Gitarren und Lauten, eine Drehleier und eine Posaune. Zwei Geigen und ein Cello lehnten zwischen Notenständern voller handgeschriebener Partituren. Finn entdeckte auf einer Raumseite etwas, dass er als Cembalo bezeichnete. An den Wänden des Zimmers hingen Dutzende Flöten in unterschiedlichsten Farben, Formen und Größen. Dazwischen waren Fingerschellen, Zimbeln, Glöckchen und Kastagnetten befestigt. Die Jungen erspähten vier bunt bemalte, zebrafellbespannte Standtrommeln. Auf einem verschlissenen Sessel in einer Ecke lag ein Dudelsack. Mick entdeckte daneben einen asiatischen Gong, der größer als er selbst war.
Doch auch Musik konnte die Kinder nicht begeistert, daher verließen sie dieses Zimmer ebenfalls rasch wieder.
Dann erreichten sie den Knick im Korridor. Vorsichtig blickten sie um die Ecke und stockten. Jemand bewegte sich dort, nur wenige Meter von ihnen - schattenhafte Gestalten, die nun ebenfalls still verharrten und sie anstarrten. Chris Herz begann erneut zu rasen. Wer schlich außer ihnen noch in dieser Finsternis herum? Wohnten hier neben Nathaniel etwa noch weitere Menschen? Mick richtete seine Taschenlampe beherzt auf die Gestalten und alle drei Jungen lachten erleichtert auf, als geblendet wurden. Im Korridor vor ihnen stand lediglich ein riesiger, halbblinder Spiegel. Sie hatten sich vor ihren eigenen Spiegelbildern erschreckt.
Nach drei weiteren Schritten zweigte hinter einer letzten Tür ein Gang ab. Außerdem sahen sie wenige Meter vor sich endlich Treppenstufen. Die Kinder warfen noch einen kurzen Blick in den Raum zu ihrer Rechten.
Hinter der Tür und erblickten sie eine altertümliche, jedoch saubere und aufgeräumte Küche. Im Schein ihrer Lampen funkelten kupferne Kessel und Pfannen. Ein appetitlicher Geruch nach Schmorbraten lag in der Luft. Es konnte noch nicht allzu lange her sein, das hier gekocht worden war. Micks Magen knurrte laut in der Stille. Neben einer gemauerten Kochstelle stand ein rissiges, hölzernes Fass. An Schnüren im Raum aufgehangene Kräuter warfen im Strahl der Taschenlampen tanzende Schatten über die gefliesten Wände. Auf Regalen lagerten Gläser mit Kochzutaten, in den verschlossenen Tonkrügen darunter befanden sich vermutlich noch weitere. Zwei Holzschränke standen im Raum. Da es nirgends im Haus Strom zu geben schien, konnten sie hier auch keinen Kühlschrank oder derlei Geräte erkennen. Finn vermutete, dass Nathaniel seine verderblichen Lebensmittel in einem Kühlkeller aufbewahrte.
Sie verließen die Küche. Jetzt blieben nur die Abzweigung und die Treppen.
Der Gang zu ihrer Rechten führte zur vorderen Eingangstür. Von dieser Seite der Tür aus konnten sie nun die stabile Stahlkette und das riesige Vorhängeschloss erkennen, das sie sicher verschloss. Auch bemerken sie jetzt die Eisenstange, die Nathaniel zusätzlich vorgelegt hatte. Nein, an dieser Stelle wären sie ohne Brecheisen niemals ins Haus gelangt - und nicht ohne zumindest den halben Ort zu wecken.
Aus dem Augenwinkel bemerkte Chris plötzlich einen dunklen Schatten, draußen vor der Eingangstür. Eine unförmige Gestalt richtete sich hinter den Glasscheiben auf. Erschrocken keuchte Chris auf und deutete dorthin. Die drei Jungen starrten gebannt zur Tür. Sie hörten ein leises Schnauben durch den schmalen Spalt. Die Tür rumpelte, wurde ein wenig aufgeschoben. Ein großes, weißliches Auge spähte durch den Schlitz. Ein erneutes Schnauben, dann sank die Gestalt wieder in sich zusammen. Sie begann an der Tür zu kratzen und am Schloss zu rütteln.
«Egal wer oder was das ist, durch diese Tür kommt es jedenfalls nicht durch», sagte Mick zuversichtlich. Doch Chris meinte einen Hauch von Unsicherheit in der Stimme seines Freundes zu bemerken.
Finn erklärte leise, dass es sich bestimmt um ein Tier, womöglich ein Waschbär handelte, der nur kurz an der Tür hochgeklettert war. Vermutlich hatte das Tier die Dünste aus der Küche wahrgenommen, als sie die Tür eben geöffnet hatten.
«Für einen Waschbär war der Schatten aber ziemlich groß», gab Chris zu bedenken.
Ein tiefes, kehliges Knurren antworte draußen auf seine Worte. Das grollende Geräusch bewegte sich über den Boden. Chris glaubte noch, seine Zehnägel vibrieren zu spüren. Das klang eher nach einem schweren Schiffsmotor denn einem Tier.
Chris begannen die Knie zu schlottern.
«Oder möglicherweise ein Wolf?», überlegte Finn inzwischen nüchtern weiter. «Obwohl es hier angeblich keine Wölfe gibt. Weiter im Inland ja, dort sind schon welche gesichtet worden. Aber hier an der Küste nicht. Ausserdem sind diese Tiere sehr scheu und flüchten beim Anblick von Menschen.»
«Das Vieh da hat jedenfalls keine große Angst vor uns», sagte Mick.
«Euch ist schon klar, dass der Hintereingang weit offen steht?», gab Chris mit bebender Stimme zu bedenken.
«Stimmt, das könnte wirklich zu einem Problem werden», sagte Finn nachdenklich, «aber andererseits führt unser Weg vom Grundstück ebenfalls an dieser Tür vorbei. Wir sitzen also sowieso schon in der Falle.»
Durch den Türspalt drang Schnauben und Schnüffeln zu ihnen. Erneut grollte das Wesen und ließ das Holz vibrieren.
Mick zog den Holzpflock und sein Taschenmesser hervor: «Wir sind aber nicht wehrlos. Und wenn es ein Werwolf ist, dann habe ich noch das hier dabei.» Er zog seine Kette hervor. «Echtes Silber, wirkt totsicher!»
Finn überging die Worte und sprach weiter. «Was ich sagen will: wir könnten jetzt auch einfach in den Keller gehen, wo wir doch jetzt die Treppen gefunden haben und dort weitermachen. Wenn wir zurückkommen, ist der Waschbär oder Wasauchimmer-Wolf hoffentlich wieder verschwunden.»
Chris war bei diesen Gedanken gar nicht wohl. Er musste Finn jedoch zustimmen. Ihr Fluchtweg war im Augenblick versperrt. Womöglich konnten sie jedoch später aus einem Fenster in der oberen Etage klettern. Die alte Fassade wies bestimmt genug Löcher für Hände und Füße auf.
«Okay», sagte er in die Runde und ging entschlossen auf die Treppen zu, «dann ab in den Keller.»
Das Wesen hinter der Tür schien eingesehen zu haben, dass es sich nicht durch das massive Holz kratzen und graben konnte. Es warf sich nun heulend mit seinem schweren Körper dagegen, dass die Kette klirrte.