-Kohleaugen-
Finn und Mick folgten ihrem vorauseilenden Freund durch den Kellergang. Gemeinsam erklommen sie die Stufen in die alte Villa. Mit jedem Schritt kam Chris die Luft wieder etwas frischer und lebendiger vor, glaubte er, aus einer schrecklichen Gruft entflohen zu sein. Jetzt, da sie den Entschluss gefasst hatten, das Haus zu verlassen, fühlten sich alle drei, als sei ihnen eine schwere Last von den Schultern genommen worden.
Inzwischen hatten sie das Erdgeschoss erreicht. Nur der dunkle Korridor trennte sie noch von der Freiheit. Sie passierten den Wandspiegel, bogen eilig um die Ecke und prallten erschrocken zurück.
Vor ihnen stand ein Hund. Nein, kein Hund, dachte Chris, das musste ein Wolf sein. Das Tier, das dort am Ende des Korridors von ihren Lampen angestrahlt wurde, war ein struppiger, graubrauner Wolf. Er hob seinen Kopf und blickte die drei Jungen abschätzend an. In seinen Augen glomm das bereits bekannte, rote Feuer. Er duckte sich knurrend unter dem Licht, wich nach hinten aus und bleckte gelbe Zähne. Ein blutrünstiger Frosch war eine Sache, aber dies hier war ein echter Wolf. Er war es gewohnt, seine Beute zu jagen, zu stellen. Er war ein Jäger. Ein Räuber und ein Mörder.
«SCHEISSE!» Chris wich langsam zurück, den Blick weiter auf das Tier gerichtet. Er schob seine Freunde hinter sich her. Die Gedanken rasten fieberhaft. Was hatte ihm sein Bruder noch erklärt? Keine Angst, er durfte keine Angst zeigen. Wer Angst zeigte, hatte bereits verloren. Also starrte Chris dem Wolf weiterhin fest in die unheimlichen Augen. Doch wo konnten sie jetzt hin? Sobald sie sich umwandten, würde sich das Tier auf sie stürzen. Zurück in den Keller zu flüchten war keine Lösung, so viel war klar. Er ging einen weiteren Schritt rückwärts. Sein Rucksack stieß an die Klinke der Küchentür. Die Küche. Ja, warum nicht. Dort wären zunächst einmal in Sicherheit, könnten ihr weiteres Vorgehen planen.
Langsam streckte Chris die Hand aus, griff nach der Klinke. Der Wolf kam geduckt näher. Noch bewegte er sich zögerlich, wich dem Licht aus. Es konnte sich aber nur noch um Sekunden handeln, bis er sich auf sie stürzte. Chris drückte die Klinke hinunter.
«Wenn ich jetzt sage, springt ihr beide in die Küche», flüsterte er nach hinten.
Er verlagerte sein Gewicht vorsichtig gegen die Tür, bis sie Spalt breit offen stand. Argwöhnisch betrachtete ihn der Wolf. Das Tier knurrte und duckte sich zum Sprung.
«JETZT!»
Chris riss die Tür auf und sprang hinein. Mick folgte ihm, zog Finn am Trageriemen mit sich. Dann schlug Chris die Tür hinter ihnen zu. Keine Sekunde zu spät. Der Wolf krachte in dem Augenblick dagegen, als der Riegel wieder einschnappte.
Keuchend standen die Jungen in der dunklen Küche und sahen sich an. Chris begann zu kichern, dann aus vollem Hals zu lachen. Er konnte nicht anders, es brach einfach aus ihm hinaus. Zunächst sahen ihn die anderen befremdlich an, fielen dann aber mit ein.
«Ich dachte eben», gluckste Chris, als er wieder Luft bekam, «es wäre mit uns allen aus.»
«Viel hätte nicht gefehlt, dann wären wir Hackfleisch gewesen. Sozusagen durch den Wolf gedreht worden», sagte Mick.
Erneut prusteten sie los.
Dann wurde Mick plötzlich ernst. «Und was jetzt? Warten wir, bis Nathaniel zurückkommt?»
«Ich weiß nicht», sagte Chris. «immerhin sind wir zunächst mal in Sicherheit.»
«Ihr zwei wisst aber schon, Wölfe können Türen und Fenster öffnen», meldete sich Finn zu Wort.
An der Küchentür erklang ein Kratzen. Beide Jungen sahen ihren Freund genervt an.
«Das musstest du jetzt sagen, oder?», fragte Chris.
«Na wenn es doch wahr ist», verteidigte sich Finn.
«Also, was machen wir jetzt?», wollte Mick erneut wissen.
Das kratzende Geräusch an der Tür erklang wieder. Harte Krallen schabten über das Holz. Der Wolf war eindeutig dahinter. Und er wollte zu ihnen. Knarrend wanderte die Klinke ein kleines Stück nach unten, um dann wieder in die Höhe zu federn.
«Mist. Diesmal hätte ich gerne Unrecht behalten», murmelte Finn.
«Okay, kämpfen oder verstecken?», fragte Chris.
Sie blickten sich um. Mitten im Raum befand sich die gemauerte Kochstelle. Eher eine Art übergroßer Grill mit Rauchabzug. Darin konnte man sich jedenfalls nicht verstecken. Bis auf die zwei Schränke und das leere Fass bot ihnen der Raum erschreckend wenige Möglichkeiten.
Mick öffnete den ersten Schrank. Er war voll mit Porzellangeschirr.
«Ich sehe hier auch nirgendwo Küchenmesser», sagte er dann verzweifelt, «nichts, womit wir uns verteidigen könnten. Oder wollt ihr den Wolf mit Pfannen verprügeln?»
Die Türklinke wurde erneut knarrend herabgedrückt. Sie konnten das Tier hinter dem Holz hecheln hören. Es sprang nun mit den Vorderläufen an der Tür hoch. Die Krallen schabten über das Holz.
«Verdammt, sucht euch endlich ein Versteck!» Chris Stimme klang schrill.
Mick riss den zweiten Schrank auf. Besen und Eimer fielen ihm entgegen. Er schob alles mit dem Fuß beiseite. Dann griff er sich den hektisch umherblickenden Finn am Rucksack, schob ihn kurzerhand in den Schrank und schloss die Türen. Sicherheitshalber drehte er den Schlüssel um. Dann wandte er sich zur letzten Versteckmöglichkeit.
Er half Chris, über den Rand ins Fass zu klettern, warf die Taschen hinein und zwängte sich selbst hinterher. Chris zog den hölzernen Deckel über ihre Köpfe. Zitternd hockten sie im Dunkel.
«Glaubst du echt, der findet uns hier drin nicht?», flüsterte Mick.
«Weiß nicht. Hätte jetzt aber nichts dagegen, wenn Nathaniel ...», konnte Chris noch sagen, dann schwang die Küchentür langsam auf.
Das Fass war alt und rissig. Durch die größeren Risse sahen die Jungen einen vierbeinigen Schatten, der langsam in die dunkle Küche schlich. Die roten Augen des Tieres glommen von einem inneren Feuer. Aber noch viel schlimmer, hinter ihm folgen weitere, kleinere Schatten. Und alle besaßen diese glühenden Kohlenaugen.