-Wozu man Angelschnur und Knete auch noch nutzen kann-
Chris lief beim Anblick dieser dunklen Schatten mit den glühenden Augen kalter Angstschweiß über den Rücken. Erst war es der Frosch, dann ein Wolf, und was kam nun? Was waren dies alles für schreckliche Wesen? In was waren sie hier bloß hineingeraten? Dies war kein einfaches Geisterhaus, in dem es vielleicht spukte, wo man möglicherweise nachts eine bleiche Erscheinung sah und einem ein kalter Lufthauch über den Nacken blies. Nein, dies hier war ein wahres Horrorhaus, angefüllt mit grässlichen, blutrünstigen Monstern. Und sie waren dort mitten hineingeraten, waren hoffnungslos verloren. Sie saßen hier fest, gefangen in einem rissigen Holzfass, eingekreist von schattenhaften Wesen, ohne die Chance zu einer Flucht. Und das Schlimmste daran, er - Chris - trug die Schuld an allem. Er und sein blödsinniger Wunsch nach dieser Spielkonsole.
«Ich glaube, das sind Zombies», flüsterte Mick plötzlich neben seinem Ohr.
«Was?», fragte Chris verblüfft.
«Schau doch mal hin», sagte Mick. «Ich glaube, das sind die Tiere vom Friedhof.»
Irritiert schob sich Chris näher an einen der Risse und spähte in die dunkle Küche. Er sah Dutzende von Wesen im schwachen Mondlicht, das durch die Bretter vor dem Fenster drang. Diese Tiere, wie er nun erkannte, gingen, sprangen, krochen oder schlängelten sich über die Holzbohlen. Er glaubte sogar, den Umriss eines Vogels zwischen ihnen zu erkennen. Der Geruch von frischer Erde lag in der Luft. Außerdem erschienen ihm einige der schattenhaften Wesen irgendwie ... unvollständig. Einem Kaninchen - Chris war sicher, dass es sich bei dem hoppelnden Wesen darum handelte - fehlte ein halbes Ohr. Ein Igel humpelte auf drei Beinen durch die Küche und aus einer Schlange hatte jemand in der Mitte ein großes Stück herausgebissen. Der Vogel, vermutlich ein Papagei, erinnerte Chris eher an ein gerupftes Huhn, so wenig Federn, wie das Tier noch besaß. Einige kleinere Schatten am Boden waren kaum mehr als Mäuseskelette, in lumpige Fellreste gehüllt. Doch ausnahmslos bei alle sah er diese unheimlichen, roten Augen.
Zombieaugen. Das musste es sein. Sie hatten heute schon so viel Seltsames erlebt, dachte Chris, warum also nicht. Nathaniel hatte hier demnach wahrhaftig Zombies erschaffen. Oder waren sie es sogar selbst gewesen? Chris fiel diese seltsame Maschine im Keller wieder ein. Nathaniels höllisches Musikinstrument. Damit hatte alles angefangen. Hatten sie mit ihr unabsichtlich all diese Tiere aus ihren Gräbern geweckt?
Nein, nicht sie. Mick war es gewesen. Mick hatte diesen blöden Knopf gedrückt. Mick hatte auch den Hebel verschoben, bis ihnen fast die Trommelfelle geplatzt wären.
Bis zu diesem Zeitpunkt war hier alles noch irgendwie normal gewesen. Der Frosch hatte tot im Glas getrieben, die Tiere draußen in ihren Gräbern gelegen. Letztlich war Mick es gewesen, dem sie dieses Schlamassel zu verdanken hatten.
«Du dämlicher Vollidiot!», entfuhr es Chris.
«Hmm? Waff iff lof?», wollte Mick wissen.
Reste von einem Müsliriegel flogen Chris ins Gesicht. Fassungslos starrte er Mick an.
«Wie kannst du jetzt essen?»
«Von der ganzen Aufregung», sagte dieser nun wieder verständlicher, «hab ich Hunger bekommen.» Er schob die leere Verpackung zurück in seinen Rucksack. Seine Hand zuckte zurück: «Bäh, Knete.»
Chris spähte wieder durch den Riss: «Ich glaube, es werden weniger Tiere.» Ein vager Hoffnungsschimmer wuchs in ihm. «Wenn wir noch etwas warten, ist der Weg vielleicht wieder frei.»
Plötzlich schob sich ein riesiger, schwarzer Schatten in sein Sichtfeld. Chris zuckte erschrocken zurück. Der Wolf! Er hatte den schrecklichen Wolf beim Anblick der anderen Tiere für kurze Zeit vergessen.
Schnüffelnd erkundete die trockene und rissige Nase das Fass. Das Tier blies seinen fauligen Atem ins Innere. Chris unterdrückte einen Hustenanfall. Mick hielt sich krampfhaft schluckend die Hand vor den Mund. Der Wolf knurrte leise, stupste das Fass mit der Schnauze an. Dann war die schnüffelnde Nase wieder da. Das Tier schien sie zu wittern, seine Atmung wurde hektischer. Der Gestank nahm zu. Chris hielt verzweifelt die Luft an, doch Mick begann leise zu würgen.
Ein Scheppern ließ den Wolf knurrend herumfahren. Chris konnte hören, wie seine Krallen über den Holzboden klackten. Unwillkürlich blickte er hinaus und musste ein Lachen unterdrücken. Der dreibeinige Igel war in einen Blecheimer geklettert und mühte sich nun ab, um dort wieder hinaus zu gelangen. Aber immerhin hatte er den Wolf abgelenkt.
«Ich glaub, wenn der nochmal hier reinschnauft muss ich kotzen», stieß Mick weinerlich hervor. Er rülpste leise.
Der Wolf drehte die Ohren und wandte sich langsam wieder zum Fass um.
«Mist, sei bloß leise», zischte Chris.
Doch er hatte eine Idee. Auch wenn es abwegig erschien, es könnte funktionieren. Leise griff er in Micks Rucksack und zog den Klumpen Knetmasse hervor. Damit verstopfte er vorsichtig die Risse im Fass, bis die zwei Jungen in völliger Dunkelheit saßen. Erneut begann der Wolf das Fass von außen zu beschnüffeln. Doch diesmal drang kein weiterer Gestank zu ihnen hinein. Jetzt mussten sie nur noch abwarten, bis die Tiere wieder verschwanden. Irgendwann würde hoffentlich auch der Wolf verschwinden.
Doch dann begann der Wolf zu knurren. Er stieß ein tiefes, kehliges Grollen aus, bis das ganze Fass vibrierte. Es fühlte sich wie auf der Ladefläche eines Lieferwagens an, der im Leerlauf tuckerte. Jetzt allerdings ließ es die Herzen der Jungen zu Eis erstarren. Wahrscheinlich würde das Tier gleich das Fass umwerfen und sie fressen. Chris griff nach Micks schwitziger Hand. Immerhin würde er nicht allein sterben. Vielleicht überlebte ja wenigstens Finn in seinem Schrankversteck.
Doch dann hörten sie Hundegebell, das rasch lauter wurde, als der Verursacher sich ihnen durch das Haus näherte. Der Wolf jaulte erschrocken auf. Etwas Schweres schlug außen gegen das Fass und ließ sie zusammenzucken. Die Jungen hörten wildes Knurren und Jaulen, schnappende Kiefer und seltsame, reißende Geräusche. Dort draußen tobte eindeutig ein Kampf. Erneut wackelte das Holzfass, und wieder erklangen wilde Knurrlaute. Chris konnte nicht anders, er zog ein Stück Knete aus einem Riss und sah hinaus.
Auf dem Boden rollte ein wildes Knäul aus Fell, Klauen und Zähnen durch die Küche. Die kleineren Tiere wichen zurück. Ein Funke Überlebenswille schien in ihren untoten Köpfen verblieben zu sein.
Die Kämpfenden wogten ineinander verbissen umher, Zähne blitzen auf und verschwanden wieder zwischen Haaren, zerrten an Läufen und schnappten nach der Kehle des Gegners. Kurz trennten sich die Kontrahenten, um sich gegenseitig anzuknurren, bevor sie sich wieder geifernd aufeinander stürzten.
Chris war verblüfft. Das war ein Hund, dort draußen. Ein echter, lebendiger Hund. Auf jeden Fall hatte er keine roten Augen. Und Chris kannte nur ein solches Tier. Wenn er sich nicht täuschte, dann war dies Ruby, der Rottweiler.
Gebannt sah er dem Kampf zu. Ruby war viel massiger und schwerer als der Wolf. Dieser jedoch wendiger und schneller. Leichtfüßig umtänzelte er die Hündin, sprang sie von hinten an, um sich in ihrem Nacken zu verbeißen. Laut aufjaulend warf sich Ruby nach hinten. Sie wälzte sich auf dem Wolf, bis dieser seinen Biss wieder lockerte. Ruby nutzte ihr Gewicht, um den wild schnappenden Gegner weiter am Boden zu halten. Dann drehte sie sich blitzartig und biss zu.
Ihre Kiefer schlossen sich krachend um das Genick des Wolfes. Chris hörte Knochen brechen. Das unheimliche Leuchten in den Augen der Bestie erlosch. Schlagartig wurde es still in der Küche.
«Was ist passiert?», flüsterte Mick.
«Ein Wunder», seufzte Chris. «Ich glaube, jetzt wird doch noch alles gut.»
Er schob den Deckel vom Fass und richtete sich auf. Mick sah ihn ungläubig an, folge ihm jedoch nach kurzem Zögern. Ruby betrachtete die auftauchenden Jungen schwanzwedelnd. Sie kläffte kurz auf, setzte sie dann abwartend vor das Fass.
Chris konnte es nicht fassen. Dieser Hund hatte sie gerettet. Der böse, alte und halbblinde Hund, vor dem er solche Angst gehabt hatte. Er sah Ruby an und erkannte nun auch das milchigweiße Auge wieder, das sie vorhin durch die Eingangstür gesehen hatten. Es war dieser Hund gewesen, von dem sie alle sich gefürchtet hatten. Genau der Hund, der vorhin schon versucht hatte, zu ihnen ins Haus zu gelangen. Und jetzt hatte er sie auch noch gerettet.
Chris verspürte große Dankbarkeit für das Tier. Umständlich kletterte er aus dem Fass. Der tote Wolf lag mitten auf dem Küchenboden. Nun erkannte Chris erst, in welchen erbärmlichen Zustand sich der Körper befand. Dieses Tier musste schon lange Zeit begraben gewesen sein. Viel Fleisch war nicht unter dem räudigen Fell verblieben. Sein Geruch war kaum zu ertragen.
Ruby trat auf ihn zu, ließ sich von ihm kraulen und rieb ihren Kopf an seinem Bein. Chris ging auf die Knie nieder und umarmte die alte Rottweilerdame mit Freudentränen im Augenwinkel. Sie ließ es sich gefallen, leckte ihm sogar die salzigen Tränen aus dem Gesicht.
Leises Pochen ließ ihn aufhorchen.
«Chris? Mick? Alles klar da draußen? Was ist passiert? Seid ihr noch da?», drang eine zaghafte Stimme aus dem Schrank.
Chris sprang hoch. Verdammt, Finn war ja noch im Schrank.
«Ich komme», rief er seinem Freund zu. Er eilte los und zog an der Tür, doch sie ließ sich nicht öffnen. Hinter ihm polterte Mick kopfüber aus dem Fass.
«Moment, Moment, bin gleich da. Ich hab zur Sicherheit abgeschlossen. Du musst nur den Schlüssel drehen.»
Chris sah das Schloss an. Da war nichts.
«Welcher Schlüssel?», wollte er wissen.
«Na, der in der Tür», sagte Mick. Dann: «Oh, hier liegt ja ein Wolf. Der ist ja ... Scheisse! Ich glaub, ich muss kotzen.» Mick begann wieder zu würgen.
«Reiß dich mal zusammen», fuhr Chris ihn an.
Mick schluckte schwer, umrundete den toten Wolf in respektvollem Abstand und kam herüber. Er sah die Schranktür verwirrt an: «Oh.»
«Was ist denn jetzt? Macht ihr nun endlich auf?», wollte Finn wissen.
Mick suchte vergeblich am Schrank nach einer Lücke für seine Finger. «Kann nicht mehr lange dauern», sagte er aufmunternd zu Finn.
«Hast du den verdammten Schlüssel vielleicht eingesteckt?», wollte Chris von ihm wissen.
Mick schüttelte verzweifelt den Kopf. «Nein, hab ich bestimmt nicht.»
Aus dem Schrank klang erneut Finns Stimme: «Der Schlüssel müsste vor der Tür liegen. Ich bin mir sicher, ihn eben klimpern gehört zu haben. Und es wäre schön, wenn ihr mich jetzt langsam hier raus holen könntet.»
Mick kniete sich nieder. Er leuchtete über den Boden und unter den Schrank: «Hier ist aber nichts.»
Dann bemerkte er eine Lücke zwischen zwei Bodendielen.
«Verdammt! Ich hab ihn gefunden!» Mick hielt die Taschenlampe senkrecht und leuchtete in den Spalt.
Chris blickte ebenfalls hinein. Dort lag das Ding, 20 Zentimeter unterhalb der Bodendielen. «Und wie kommen wir da jetzt ran?»
Mick griff nach einem Besenstiel. «Ich brech das auf.»
«Warte mal», Chris hatte eine bessere Idee. Er griff in seinen Rucksack und zog die Angelschnur hervor.
Der Blecheimer neben dem Schrank schepperte. Verblüfft zuckten die Jungen zurück. Eine kleine Nase schob sich schnüffelnd über den Rand. Ihr folgten ein kleiner Kopf mit zwei glühend roten Augen. Kaum hatten diese die Jungen erkannte, fauchte das Tier und zeigte seine nadelspitzen Zähne. Der Eimer schaukelte, als der Igel im Inneren zu toben begann.
«Was ist denn jetzt da draußen los?», wollte Finn wissen.
«Äh, ein kleines Problemchen», stammelte Mick. Er hielt den Besenstiel wie eine Waffe vor sich.
«Was da wäre?», erklang wieder die Stimme aus dem Schrank.
Doch niemand antwortete ihm. Immer mehr tote Tiere mit roten Augen kamen aus ihren Verstecken gekrochen. Aus dem Korridor strömten Weitere dazu. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann waren Chris und Mick umzingelt.
Laut bellend stürzte sich Ruby zwischen sie. Sie schnappte nach den Tieren, schüttelte sie und warf sie gegen die Wände. Doch es waren so viele. Immer noch kamen Weitere durch die Tür in die Küche und warfen sich todesmutig auf die Hündin. Ruby jaulte auf, als sich ein untoter Hamster in ihrem Ohr verbiss. Überall hingen jetzt kleine Tiere an dem Hund und versuchten, ihn zu Boden zu ringen. Chris musste unweigerlich an die Geschichte von Gulliver denken, der bei seiner Reise auf der Insel Liliput gestrandet war und von diesen zwergenhaften Menschen gefangen genommen worden war. Laut aufbellend sprang Ruby in die Höhe. Sie schüttelte sich. Mäuse, Frettchen und Dutzende weitere kleiner Tiere flogen durch den Raum.
«Yeah!», stieß Mick jubelnd hervor. Der Rottweiler blickte sich um und sprang dann in langen Sätzen kläffend aus dem Raum. Die rotäugigen Tiere folgten der Hündin fauchend und zischend.
Zombies, dachte Chris. Das waren echte Zombies. Er sah sich um. Alle Tiere waren weg. Sie waren jetzt wieder allein in der Küche. Das Hundegebell und die anderen Tierlaute entfernt sich immer weiter von Ihnen. Das war ihre Chance.
«Leuchte mir mal», wies er Mick an. Gemeinsam angelten sie den Schlüssel aus dem Spalt.
Kurz darauf fiel ihnen ein leicht verstört dreinblickender Finn in die Arme. Mit großen Augen blinzelte er sie durch die Brille an. «Können wir jetzt bitte nach Hause gehen? Ich glaube, die Feldforschung möchte ich dann doch lieber anderen überlassen.»
Chris und Mick lachten auf und alle drei fielen sich erleichtert in die Arme.