- Wie man an drei Eintrittskarten gelangt -
Die drei Jungen standen aneinandergedrängt in der engen Gasse neben dem Krämerladen, direkt beim vergitterten Fenster zu Finns Lesekammer. Dort hatte Mick seine beiden Freunde nach der kopflosen Flucht angetroffen. Er erzählte ihnen - jedenfalls teilweise- von seiner unheimlichen Begegnung mit den zwei Tieren. Logischerweise ohne zu erwähnen, dass er am Ende weggelaufen war.
«Mist», entfuhr es Mick, «Ich hab die blöde Tasche liegen gelassen.»
«Was denn für eine Tasche?», wollte Finn sofort wissen.
«Die mit dem Strickpullover. Darum hat Oma mich doch eben aus dem Bett geworfen.»
Chris und Finn blickten sich grinsend an. Sie kannten Micks Angewohnheit, bis spät in die Nacht zu lesen. Wenn man dass Durchblättern von Comicheften als Lesen bezeichnen konnte.
«Kann es sein, dass dich die Tiere eben erschreckt haben?», bohrte Finn nach.
«Ach, wie kommst du denn darauf?», erwiderte Mick demonstrativ desinteressiert und machte eine wegwerfende Geste.
Chris schwieg grinsend. Er wusste, was nun folgen würde.
«Na, normalerweise bekommst du doch Trinkgeld für die Botengänge. Außerdem ist heute Dienstag und du hast noch immer nicht nach dem neuen Horror-Comic gefragt.» Finn grinste breit: «Und zum Dritten, du hast zugegeben, die Tasche fallen gelassen zu haben. Für mich ist der Fall sonnenklar. Du hattest Angst.»
Chris fühlte sich unbehaglich. Ihn erinnerte Micks Schilderung unangenehm an seine gestrige Begegnung mit der Ratte im Keller. Er hatte seinen Freunden nichts davon erzählt, denn Mick würde sich auf die Geschichte stürzen und seine Ängste ins Lächerliche ziehen. Jetzt ganz besonders, wenn er damit von seiner eigenen Furcht ablenken konnte.
«Chris bekommt übrigens eine Spielkonsole», plauderte Finn munter weiter.
Mick bekam große Augen. «Echt jetzt? Einfach so?»
Verdammt, dass Finn auch nie den Mund halten konnte. Chris sah ihn grimmig an. Doch der blonde Junge fuhr bereits fort: «Sozusagen. Er muss nur einmal ins Geisterhaus. Sonst nichts.» Nach einer kurzen Pause ergänzte er: « Um Mitternacht.»
Mick klopfte Chris auf die Schulter. «Du bist echt mutiger, als ich dachte. Einfach so Nachts den Voodoomann besuchen. Mann, ey.»
Jetzt fühlte sich Chris mehr als unbehaglich. Er hatte gehofft, dieses Thema nicht ansprechen zu müssen. Auch hier wollte er - aus den eben bereits genannten Gründen - Mick gegenüber keine Blöße zeigen. Verzweifelt überlegte Chris, wie er das Gespräch in eine andere Richtung lenken konnte.
Wie zu seiner Rettung trug der auffrischende Wind einen bekannten Geruch heran. Eine Mischung aus Weihrauch, Mottenkugeln, feuchtem Keller und einem überquellenden Mülleimer in der Augustsonne, welche die drei Jungen sofort erkannten. Sie starrten entgeistert auf den bunten Holzkasten, der auf seinen Rändern um die Ecke geschoben wurde.
«Ich wünsche einen Guten Morrrgen, die Herrrren.» Nathaniel lüftete seinen Zylinder und verbeugte sich dramatisch. Der Affe auf der Drehorgel kreischte wild auf und fletschte die Zähne.
«Ich bitte darum, Herrrr Frrrröhlich sein Verrrrhalten nachzusehen. Derrr Gute ist heute noch nicht in den Genuss eines Frrrrrühstück gekommen. Vielleicht wärrre es Besserrr, ein wenig Abstand zu wahrrren.»
Der Affe keckerte zur Antwort und starrte die Jungen aus gemeinen Knopfaugen an. Nathaniel kitzelte ihn unter dem Kinn. «So ein putzigerrrr Geselle, findet ihrrrr nicht auch?»
Keiner antwortete ihm darauf. Die drei wichen etwas tiefer in die Gasse zurück, bis sie mit den Rücken an die Mülltonnen stießen. Sie sahen dem Drehorgelspieler zu, wie er unter seltsamen Verrenkungen Münzen aus seinen Taschen zusammensuchte. Dabei plauderte er munter weiter auf die Jungen ein. «Ihrrr müsst wissen, Herrr Frrröhlich und ich sind auf dem Weg nach Barrrren. Derrr dorrtige Jahrrmarrkt soll heuerr gahrrr ausserrgewöhnlich sein. Gerradezu exorrrbitant!»
Seine linke Hand wanderte tastend in die rechte Innentasche des mottenzerfressenen Fracks. Mit einem Ratsch vergrößerte er das dortige Loch, schob seine Hand hindurch und dann weiter in die rechte Gesäßtasche.
«Sapperrlott, irrrgendwo muss err doch abgeblieben sein. So eine Unflat! Vermaledeiterr Fetzen.»
Er hielt sich an seiner Drehorgel fest, als er die Finger tiefer in die Tasche schob.
«HEURRRREKA!»
Die Jungen fuhren bei dem Ausruf zusammen.
Die Hand des Voodoomanns war in der Tasche zur Faust geballt. Er zog heftig. Nun jedoch klemmte die Faust in der Tasche. Also ließ er seine Drehorgel los und begann schimpfend auf einem Bein im Kreis zu hüpfen. Fassungslos betrachteten Chris, Mick und Finn das groteske und lächerliche Schauspiel. Endlich gelang es dem Mann, seine Hand zu befreien. Mit einem triumphierenden Grinsen hielt er einen zerknitterten Geldschein in die Höhe.
«Nun kann derrr Einkauf starrrten. Ein wenig Rrreiserrroviant wirrrd wohl fürrrr die nächsten Tage vonnöten sein!»
Er lüftete den Hut erneut. «Seid doch mal liebe Buben und gebt kurrrz auf Herrrr Frrrröhlich acht. Errr ist so ungerrrn allein.» Damit schob er die Drehorgel mitten in die Gasse und versperrte den Jungen jede Fluchtmöglichkeit. Fassungslos starrten die drei dem Mann hinterher, als dieser im Laden verschwand.
Natürlich war es Finn, der als erster die Stille brach. «Habt ihr gehört? Er ist auf dem Weg nach Baren. Und heute ist erst Dienstag. Der Jahrmarkt dort geht noch die ganze Woche. Das ist die Gelegenheit.»
«Ja und wozu?», fragte Mick. Ratlos blickte er zu Finn.
«Alle beide Blödmänner», brummelte Chris.
Mick boxte ihm auf die Schulter. «Nenn mich nicht immer Blödmann. Und nun sagt schon, was meint ihr?»
Der Affe zischte sie an. Das Tier hatte sich zwischen den Heiligenfiguren auf der Drehorgel zusammengekauert und ließ die Jungen nicht aus den Augen. Keine ihrer Bewegungen schien ihm zu entgehen.
«Aua! Und seid bloß leise», raunte Chris, «wer weiß, ob uns der Zombieaffe nicht doch belauscht und ihm gleich alles erzählt.»
«Was denn?», wollte Mick noch immer wissen.
Wieder war es Chris, der antwortete. Er funkelte Finn vorwurfsvoll an und flüsterte zu Mick: «Klein-Finny hier will vorschlagen, heute Nacht ins Geisterhaus zu gehen, jetzt wo die Bewohner einen Ausflug machen. Er hat nämlich gestern den Affen aus der Nähe gesehen und glaubt mir nun, dass das Tier tot ist. Aber anstatt sich fern zu halten, will er eine Expedition ins Haus starten und herausfinden, wie Nathaniel den Affen wiederbelebt hat.» Er seufzte schwer.
Der Affe verhielt jetzt sich ganz still. Seine klugen Augen fixierten Chris.
«Was?», entfuhr es Mick, «Heute?»
«Psssst!», machten Chris und Finn gleichzeitig, als die Tür des Ladens krachend aufgestoßen wurde.
«Keine Zitrrronenkekse. Sehrrr, sehrrr betrrrüblich.»
Wieder verstummte ihre Unterhaltung. Alle drei starrten auf den Voodoomann, der beladen um die Ecke kam. Er verstaute zwei Packungen Waffeln und einen großen Käse, drei Tafeln Nuss-Schokolade und zwei Rollen Cracker in einem Seitenfach der Drehorgel. Dann warf er dem Affen ein Stück einer Salami zu, der Rest verschwand ebenfalls in dem Fach. Das Tier fing das Stück geschickt auf und schlug seine Zähne hinein.
Auf einem Thunfischsandwich kauend dankte Nathaniel den Jungen. Er zog unter geheimnisvollen Worten und seltsamen Gesten drei Karten unter seinem Hut hervor. Sich erneut verbeugend überreichte er sie den Jungen.
«Gauklerrr und Feuerrrspuckerrr, ein Rrriesenrrrad und Wurrrfbuden, wilde Achterrbahnen und Zuckerrrrwatte! Was könnten drrrei Jungen wie ihrr mehrrr begehrren? Mit diesen Billetts errrhaltet ihrr auf dem Jahrrmarrkt frrreien Eintrrritt und alles weiterrre, was ihrrr errwünscht.»
Er rollte wild mit den Augen, stieß ein irres «Huhuhuarrrrr» aus ... Und ging.
Sprachlos standen die drei in der Gasse und lauschten dem Rappeln der sich langsam entfernenden Drehorgel. Nathaniel pfiff eine schräge Melodie und der Affe stieß ab und an einen schrillen Schrei aus.