- Ein Sack und ein Zombie -
Die Nachmittagssonne brannte erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel herab. Nur der kräftige Küstenwind blies ein wenig Gischt die steilen Klippen herauf. Immerhin dies brachte leichte Linderung, brummte der alte Leuchtturmwärter, als er mit seinem zappelnden Sack einen Bogen in die Büsche schlug. An der Küstenstraße zum Leuchtturm saßen wieder diese drei Jungen auf der moosigen Steinbank, direkt in der kleinen Ausbuchtung über der Steilklippe. Einer von ihnen, der Dunkelblonde richtete sich gerade auf und erzählte seinen Freunden gestenreich eine - vermutlich - spannende Geschichte. Der alte Mann lächelte mild. Die Drei kamen nun seit mehr als einem Jahr hierher. Er beobachtete sie gerne. Die Köpfe noch voller Unfug, war die Welt für sie lediglich ein riesiger Spielplatz. Noch ahnten sie nichts von all den dunklen Dingen, die in den Schatten lauerten. Er hoffte, dies bliebe auch noch lange so, womöglich für immer. Ein wenig erinnerten sie ihn an seine eigene Kindheit. Er jedoch war in einer gänzlich anderen Zeit aufgewachsen. In ihrem Alter hatte er bereits schwer für seinen Lebensunterhalt arbeiten müssen. Der Tod war damals allgegenwärtig. Heute jedoch lebten die Menschen unbekümmert und frei. Sie genossen Privilegien, von denen in seiner Jugend nicht einmal Könige und Fürsten geträumt hatten. Diese drei Kinder waren wahrlich in einer guten Zeit geboren worden. Und sie waren so aufmerksam wie verdammte Hasen, ausgestattet mit den blitzend-scharfen Augen von Falken. Die drei hatten ihn bereits erkannt und winkten freudig herüber. Knurrend schob er seinen Ledersack mit den Fuß tiefer in die Büsche. Auch wenn sie es sich nicht trauen würden, ihn nach dem Inhalt zu fragen, er musste ihnen damit nicht ja auch nicht gerade vor den neugierigen Nasen herumwedeln. Er erwiderte den Gruß und stapfte weiter zum Leuchtturm.
«Habt ihr den Sack gesehen?» Mick blickte fragend zu Chris und Finn.
Beide nickten bedächtig. Dann fügte der rothaarige Junge hinzu: «Ich wette, er hat sich heimlich ein paar Kaninchen gefangen und brät sie jetzt.»
Finn neben ihm auf der Bank schüttelte sich angeekelt. «Manchmal ist er fast genauso gruselig wie der Voodoomann.» Doch dann hellte sich seine Miene wieder auf. «Aber jetzt erzähl weiter Chris. Hat der Affe wirklich das Blut vom Mädchen abgeleckt?»
Chris stand vor seinen Freunden. Er war durch das Auftauchen des Leuchtturmwächters in seiner Erzählung über den Besuch im Einkaufszentrum unterbrochen worden. Also holte er noch einmal Luft, um mit dem letzten, dramatischen Satz abzuschließen, da fiel ihm Mick ins Wort:
«Und dann war der doofe Affe tot und fiel mit einem Plumps von der Kiste.» Er maulte: «Reicht es nicht langsam?»
Mick hatte die Geschichte heute schon zum dritten Mal anhören müssen und kannte inzwischen jedes Wort auswendig.
«Du kannst dir ja die Ohren zuhalten, wenn es dir zu viel ist, Mickey», sagte Chris zu seinem Freund. Der stämmige Junge knurrte und boxte ihm so fest auf die linke Schulter, dass der ganze Arm taub und kribbelig wurde.
«Ey!», schimpfte Chris.
«Nenn mich nicht Mickey!», konterte Mick.
«So bald du mich mal zu Ende erzählen lässt.» Chris rieb sich die schmerzende Schulter. «Und deine Oma müsste dir echt noch etwas Benehmen beibringen!»
«Lass meine Oma aus dem Spiel», brummte Mick.
«Warum?», klinkte sich nun auch Finn in das Gespräch ein. «Hast du Angst, sie schlägt dich wieder mit ihrem Gehstock, wenn sie erfährt, dass du am letzten Schultag noch Nachsitzen musstest?»
Mick fuhr zusammen: «Das sagst du ihr nicht!»
Doch Finn war gedanklich schon beim nächsten Thema. «Tolle Geschichte, echt, Chris. Aber der Affe ist nicht tot.»
Seine zwei Freunde blickten den schmächtigen Jungen erstaunt an.
Finn rieb sich aufgeregt die Nase. «Ich hab ihn am Morgen noch gesehen, müsst ihr wissen.»
Er stockte, als ihn Chris weiter ungläubig anschaute. Für einen Moment erklang nur das auf- und abschwellende Rauschen der Wellen, die sich tief unten an den Klippen brachen.
Dann brach es aus Finn heraus. «Na ich hab halt am Morgen bei uns hinten die Zeitschriften sortiert. Der Voodoomann stellt doch seine Drehorgel immer hinterm Haus ab, wenn er bei uns reinkommt. Meistens kauft er ja doch nur Kaugummis. Manchmal aber ...»
«Ja und?», platzte Chris in den Wortschwall.
«Und heute ist mir der blöde Affe ans Gitter vor der Scheibe gesprungen. Er hat mich angekreischt und an den Stäben gerüttelt. Ich hab mir fast in die Hose gemacht, wisst ihr. Einmal war nämlich ...»
«Moment», unterbrach Chris ihn erneut, «bist du sicher, dass es der gleiche Affe war?»
«Du hättest ihn vielleicht nach seinem Namen fragen sollen», feixte Mick.
Finn winkte ab. «Glaubst du etwa, der hat Ersatzaffen da hinten im Geisterhaus? Ich sag dir, das war dass gleiche kleine Monster wie immer. Wenn ich darüber nachdenke, es hatte auch diesen Goldring im Ohr.»
«Ersatzaffen», prustete Mick. «Was meinst du, lagert er die Ersatzteile in Schuhkartons oder eher ganze Affen eingefroren in einer Truhe? Huuuuuh! Zombieaffen, die nur darauf warten, aufgetaut zu werden.»
Finn schüttelte sich. «Lass den Mist. Sowas gibt es nicht in Wirklichkeit. Nur in deinen blöden Comics.»
«Hört doch auf!», rief Chris dazwischen. «Mir ist egal, was ihr glaubt. Der Affe war gestern tot. Und ich finde das auch nicht lustig.»
Mick und Finn schwiegen.
«Mein Bruder war auch dabei. Wenn ihr mir nicht glaubt, könnt ihr ihn auch danach fragen.»
«Und wenn er wie die Aliens in Horror-Stories 157 aus unterschiedlichen Tierteilen etwas Neues...», begann Mick.
«Hör auf!», riefen die anderen im Chor.
Mick schluckte: «Vielleicht ist er ja in Wirklichkeit ein echter, verrückter Voodoopriester? Ich meine, man nennt ihn doch nicht umsonst so.»
Chris lief es eiskalt über den Rücken. Irgendwoher musste der Name stammen, da hatte Mick schon Recht.
«So ein Blödsinn», sagte Finn sofort aufgebracht. «Voodoo ist viel mehr als nur Zombies. Es handelt sich dabei um eine komplexe Vermischung von Katolizismus und Naturreligionen. Und Zombies sind nur ein ganz kleiner Teil davon.»
«Ach jetzt kommt das wieder.» Mick verdrehten die Augen.
«Na offensichtlich bin ich ja hier der einzige mit ein wenig Verstand. Ihr mit euren blöden Vorurteilen», empörte Finn sich.
«Und was war jetzt mit den Zombies?», versuchte Chris ihn zu beruhigen.
«Na wenn ihr es unbedingt wissen wollt. Man vermutet, der Zombiemythos beruht auf dem uralten afrikanischen Strafsystem. Daher kamen nämlich die Sklaven ursprünglich, die später den Voodoo erfunden haben. Schwerkriminelle wurden damals angeblich mit dem Gift Atropin zu gefügigen Arbeitern gemacht. Mit der Zeit wurde eine gruselige Geschichte über lebende Tote daraus. Sonst nichts.»
«Mist, Zeit!», fuhr Chris zusammen. «Wie spät ist es?»
Mick zuckte nur mit den Schultern, doch Finn blickte auf seine hochmoderne Armbanduhr.
«Gleich Fünf Uhr. Warum?»
«Oh nein», stöhnte er, «Ich soll doch ab Fünf im Gasthof helfen. Ben ist noch beim Bürgermeister, daher muss ich heute ran.»
Winkend verabschiedete er sich eilig von seinen Freunden und lief in Richtung der Häuser.