- Wozu ist denn dieser Knopf da? -
«Verdammt!» Chris zuckte zusammen, als das Wesen ein zweites Mal gegen die Tür krachte.
«Das kommt da doch niemals durch», versuchte Mick seinen Freund zu beruhigen.
Vor ihnen glitt der Strahl von Finns Taschenlampe über die Treppenstufen: «Links geht es hoch ins obere Stockwerk, aber die Treppe ist zerbrochen. Da fehlen ein paar Stufen, seht ihr das?»
Kritisch betrachteten die drei Jungen die Treppe.
«Da kann man hochspringen», meinte Mick. «Mit ein bisschen Anlauf geht das schon. Es fehlen doch nur drei Stufen oder so.»
«Und dann bricht der Rest der morschen Treppe dabei auch noch unter dir zusammen und du stürzt ab», erwiderte Chris. «Eine wirklich saublöde Idee.»
Mick wollte ihm dafür gerade wieder auf die Schulter boxen, da krachte es erneut an der Eingangstür. Die Jungen erschraken so sehr, dass Mick seine Absicht vergaß.
«Rechts führt die andere Treppe in den Keller runter», sagte Finn aufgeregt und leuchtete in die Dunkelheit hinab.
«Da mal los! Bloß weg hier.»
Chris drängte vorwärts in die Schwärze. Er wollte weg von der Eingangstür und dem Wesen mit dem weißen Auge. Die anderen beiden folgten ihm eilig und beleuchteten den Weg. Zusammen stiegen sie in den Keller hinab.
Nach dem ersten Absatz sank die Temperatur merklich.
«Das nennt man eine Kältebrücke», erklärte Finn. Sein Atem kondensierte zu kleinen Wolken. «Alte Häuser haben so etwas manchmal. Darum braucht Nathaniel auch keinen Kühlschrank.»
Mick klapperte mit den Zähnen. «Das ist trotzdem ganz schön gruselig.»
Chris konnte ihm nur zustimmen. Es fühlte sich fast so an, als würden sie aus der Sommerhitze in einen riesigen Eisschrank klettern.
«Das kommt euch nur so schlimm vor, weil es oben so warm ist.» Trotz seiner Worte schlang Finn fröstelnd die Arme um den Oberkörper. «Ich habe gelesen, dass viele Berichte von seltsamen Erfahrungen in Geisterhäuser auf genau diesem physikalischen Phänomen beruhen. Und heute darf ich es sogar selbst erleben. Das ist ganz schön spannend.»
Kopfschüttelnd sahen Chris und Mick ihren Freund an und stiegen angespannt weiter hinab.
Nach der letzten Stufe spürte Chris festgestampften Lehm unter seinen Schuhen. Mick und Finn traten neben ihn und hoben ihre Lampen.
Der Keller schien riesig. Hohe, gemauerte Backsteinwände führten Dutzende Schritte geradeaus. Links und rechts zweigten weitere Seitengänge ab. Überall gab es hier verschlossene Türen. Der Keller musste größer als die Grundfläche des Hauses sein. Wenn man die Lage betrachtete, dann führte dieser Gang direkt unter den Garten. Und damit auch unter den Friedhof, dachte Chris schaudernd.
Mick hatte sich bereits an der ersten Tür zu schaffen gemacht. Er fummelte irritiert an dem altertümlichen Türöffner herum, bis er den geschmiedeten Ring probeweise anhob. Das alte Holz schwang knarrend zur Seite und gab die Sicht auf staubige Möbel frei. Wurmzerfressene Tische und Stühle waren dort bis unter die gemauerte Decke gestapelt worden. Ein altes Sofa lehnte aufrecht an der Wand, seine rostigen Sprungfedern drangen durch die mottenzerfressenen Polster. Enttäuscht schloss Mick die Tür wieder.
Drei Türen weiter entdeckten sie wirklich eine Kühlkammer. So wie Nathaniel oben im Haus ein ganzes Kleiderzimmer statt nur eines Schranks besaß, so nahm sein Kühlschrank hier unten ebenfalls einen ganzen Raum ein. Finn hüpfte begeistert auf der Stelle, da er seine Theorie bestätigt fand. Chris und Mick sahen jedoch nur Lebensmittel, wie sie sie auch von Hause kannten. An Joghurt und Milch, Fleisch und Käse war nichts Geheimnisvolles, nichts Magisches oder Gruseliges. Wobei Chris auch auf das Letzte verzichten konnte. Davon hatte er heute mehr als genug erlebt.
Die Jungen waren mit ihrer weiteren Erkundung fast am Ende des langen Backsteingangs angekommen, da stöhnte Finns plötzlich laut auf. Er hatte eine der alten Holztüren geöffnet und leuchtete aufgeregt in den Raum. Irritiert gingen seine Freunde zu ihm herüber. Sie hatten gerade den gefühlt zwanzigsten leeren Kellerraum erkundet.
Finn stand mit aufgerissenen Augen im Türrahmen. Der Strahl seiner Lampe zitterte leicht.
«Was ist denn?», wollte Mick wissen. Er trat neben Finn, schob die Tür zur Gänze auf und pfiff anerkennend. «Bingo!»
Chris schob sich zwischen sie und erschrak. Genau dies hatte er gehofft, hier nicht zu finden.
Mittig im Raum befand sich ein abgewetzter, hölzerner Tisch. Die seitlich herunterhängenden Lederbänder mit Schnallen und das Beistelltischchen mit Skalpellen, Scheren und Zangen ließ keine Fragen offen. Hier führte Nathaniel seine grausamen Versuche durch. Chris fühlte bei diesem Anblick eine heiße Übelkeit in sich aufsteigen. Dann war doch alles wahr. Der Voodoomann war ein verrückter, alter Kerl, der hier verbotene Dinge trieb, über die Chris nicht einmal genauer nachdenken wollte.
Finn dagegen betrat den Raum staunend. Mick hielt sich an seiner Seite und auch Chris folgte den beiden notgedrungen. Ganz allein mochte er nicht draußen bleiben.
An einer Wand waren drei große Regale aufgebaut. Darin standen staubige Gläser. Gläser voller Dinge. Ekelige Dinge. Ekelige, eingelegte Dinge.
Und doch übten sie eine seltsame Anziehungskraft auf Chris aus. Er sah automatisch genauer hin. In einem davon glaubte Chris, einen toten Frosch in der Flüssigkeit zu erkennen. So etwas kannte er aus der Schule und fand es dort schon widerlich. Im Glas daneben schienen sich kleine Knochen zu befinden. Vielleicht war dies mal eine Maus, oder ein Hamster, dachte Chris. Als er allerdings im Glas daneben einen riesigen, schwimmenden Augapfel entdeckte, zuckte er zurück. Seine Neugierde erlosch augenblicklich.
Dafür flackerte über seinem Kopf plötzlich ein oranges Licht auf. Summend und knisternd erwachte die merkwürdig anmutende Glaskugel an der Decke zum Leben. Die kopfgroße Lampe war mit milchigem Rauch gefühlt, der nun leuchtend zum Leben erwachte. Er waberte und bewegte sich langsam in dem Glas, als wäre er lebendes Wesen. Kleine elektrische Ladungen und blaue Blitze zuckten im Inneren. Zwei blanke, kupferne Drähte führten von der Lampe die Decke entlang, an der Wand hinab bis zu einem Regal. Dort stand Finn, die Hand noch auf einem breiten Wandschalter. Er grinste zufrieden wie ein Kind, das sich zum ersten Mal die Schuhe selbstständig zugebunden hatte.
Er deutete auf die flüssigkeitsgefüllten Glaskolben hinter sich: «Das sind selbstgemachte Batterien!»
«Cool!», sagte Mick wenig beeindruckt, «kann man damit auch echte Monster zum Leben erwecken? So wie Frankenstein?» Er hielt sich die Zeigefinger seitlich an die Schläfen und verdrehte die Augen: «Brrzzzzzzt.»
Finn konnte über so viel Unsinn nur den Kopf schütteln.
Im Licht der flackernden Lampe erkannten Chris einen halb zwischen den Regalen verborgenen, schmalen Durchgang. Während Finn versuchte, Mick die Unterschiede von Volt und Ampere zu erklären, trat Chris in den nächsten Raum.
Hier standen weitere Regale an den Wänden. Jedoch befanden sich keine Gläser mit schwimmendem Inhalt auf den Brettern, sondern hier lagerten uralte Notenblätter und vergilbt Schriftrollen. Ein verschlissener Stuhl vor dem Schreibtisch in der Ecke bewies, dass der Hausherr hier viel Zeit verbracht haben musste. Offene Partituren und handgeschnitzte Flöten lagen unordentlich auf dem Tisch verteilt. Tintenfass und Federkiel ließen erahnen, das Nathaniel hier auch selbst Melodien notierte. Ebenso lagen einige merkwürdige Papierrollen auf dem Tisch, in die Reihen von Löchern gestanzt worden waren. Sie wirkten in ihrer Unregelmäßigkeit ein wenig wie Blindenschrift, zumal Nathaniel zusätzlich handschriftliche Notizen zwischen den Lochreihen vermerkt hatte.
Auf einer Werkbank am anderen Ende des Raumes stand zwischen unordentlich verteiltem Werkzeug, Brettern und Schrauben ein seltsamer, hölzerner Kasten. Offensichtlich bastelte Nathaniel hier an etwas herum. Chris trat neugierig näher. Er konnte im Kasten eine Art Gitarrenhals erkennen. Stahlsaiten waren daran aufgezogen, jedoch fehlte der Korpus. Hinter einigen Zahnrädern und Riemen war ein Blasebalg angebracht worden, der über Röhren zu einer Miniaturorgel führte. Mehrere kleine Pfeifen waren im Gerät verbaut worden.
Konnte dies vielleicht eine Art Drehorgel sein? Eine Selbstentwicklung von Nathaniel? Chris erkannte im Gerät eine Halterung, in der einer dieser seltsamen Lochstreifen vom Schreibtisch hing. Damit wurde vermutlich die Musik irgendwie abgespeichert.
«Was ist das denn Schräges?» Mick war neben ihn getreten und sah ebenfalls auf den Holzkasten hinab.
«Is ja krass. Ob das ein Wecker mit eingebautem Toaster ist? Sowas wollte ich nämlich immer schon erfinden. Und wozu ist denn der Knopf da?», fragte er neugierig, trat vor und drückte einen rot lackierten Knopf an der Seite der Maschine.
Augenblicklich begannen die Zahnräder zu schnurren und der Blasebalg zu pumpen. Die Halterung schnappte zu, der Lochstreifen wurde zu einer Rolle geführt. Die Maschine begann zu arbeiten.
Seltsame unrhythmische und dissonante Töne klangen durch den Keller. Die Gitarrensaiten darin schienen nicht gestimmt und jaulten wie verliebte Kater in der Nacht. Die Orgelpfeifen kreischten schrill, als ob ein kleines Kind mit aller Kraft in eine Flöte blasen würde. Tiefe Basstöne brachten den Boden zum Zittern. Erschrocken hielt sich Mick die Ohren zu.
«AAARH! WAS IST DAS?», kam Finn aus dem Nebenzimmer gelaufen. «WAS HABT IHR GEMACHT?»
Entsetzt starrte er auf die hölzerne Kiste, aus der es lärmte und jaulten, krachte und pfiff. Die Zahnräder im Inneren drehten sich immer schneller, Qualm drang aus dem Gerät.
«MACHT ES AUS!» Nun hielt auch Finn sich die Ohren zu.
Das seltsame Getöse erzeugte merkwürdige Bilder vor dem inneren Auge, ließ ihre Haare zu Berge stehen und die Mägen zittern. Chris bekam eine schmerzhafte Gänsehaut. Er schob Mick an, der reglos vor der Maschine stand. Der Junge zuckte zusammen und streckte hektisch den Arm aus, um den Knopf erneut zu drücken. Er stieß dabei jedoch an einen Hebel an der Seite des Kastens und schob diesen nach hinten. Der Lärm im Keller steigerte sich weiter zu infernalischer Lautstärke und rasender Geschwindigkeit. Die Gitarrensaiten jaulten alle gleichzeitig. Leuchtende Rauchwolken schossen aus den schreienden Pfeifen im Inneren. Das dumpfe Pochen im Boden war zu einem Presslufthämmern angeschwollen. Nun qualmte der Kasten nicht nur, auch Funken stoben daraus hervor. Chris trat neben Mick. Seine Faust traf den roten Knopf.
Es war es vorbei.
Stille.
Und sein Herz setzte aus. Entsetzt starrte er auf das Gerät.
Dann schlug das Herz wieder. Erst einmal, dann langsam und zögernd ein zweites Mal. Es setzte erneut kurz aus und begann dann wild zu rasen, als wollte es all die versäumten Schläge nachholen.
Die drei Jungen sahen sich mit aufgerissenen Augen an.
«Verdammt, was war das?» Finn brach als erster die Stille.
«Woher soll ich das denn wissen?», gab Mick zurück. «Chris war zuerst hier. Ich wollte nur den Knopf ausprobieren.» Er schob die Unterlippe schmollend vor. «Hast du doch nebenan auch gemacht.»
«Ich habe auch vorher die Batterien erkannt und wusste, was ich tat. Aber das hier war total unwissenschaftlich. Du weißt doch garn...» Finn brach ab, als nebenan Glas klirrend zerbrach.