-Flötenzauber-
«Wir sollten jetzt schnell verschwinden, bevor diese Zombietiere zurückkommen.»
«Zombietiere? Was denn für Zombietiere, Chris?», wollte Finn aufgeregt wissen.
Chris wies schweigend auf den stinkenden Wolfskadaver hinter sich. Mick begann wieder zu würgen. Doch Finn zurrte seinen Rucksack fest und ging neugierig zu dem toten Tier hinüber.
«Oh ja, das ist wirklich mal interessant...», begann er, bevor Chris und Mick sich seitlich bei ihm unterhakten und ihn aus der Küche führten.
Der Korridor vor ihnen war wirklich leer. Erleichtert gingen die Kinder Richtung Hintertür. Chris schilderte Finn dabei schnell, was er vom Fass aus beobachtet hatte und wie der Hund Ruby ihre Rettung gewesen war. Finn schwieg, schüttelte nur immer wieder ungläubig den Kopf.
«Und am Ende hat Ruby alle Tiere aus dem Haus gelockt», schloss Chris seinen Bericht.
Finn blieb zögernd am Ausgang stehen. Langsam streckte er die Hand aus und deutete nach draußen. «Meinst du diese Tiere?»
Mick quietsche entsetzt auf.
Die geifernde, untote Horde draußen im Garten wandte ihre Köpfe zu ihnen um. Aus Hunderten roter Augen starrten den Kindern Hunger und Gier entgegen. Verdreckte Pelze wurden geschüttelt, ledrige Haut schabte aneinander, Federn raschelten und morsche Gelenke knarrten. Es wurden Reiß-, Fang- und Nagezähne gebleckt, scharfe Schnäbel klapperten bedrohlich und uralte Knochen knackten, als sich die riesige Gruppe untoter Kleintiere wieder auf das Haus zurückbewegte.
«Verdammt, zurück!», schrie Chris. Er stürzte an seinen entsetzten Freunden vorbei zurück ins Haus. Mick und Finn folgten ihm aufkeuchend.
«Mist, Mist, Mist!» Mick schob den stolpernden Finn vor sich her. «Lauf, verdammt!»
Er schrie vor Schmerzen auf, als sich ein Zombie-Kaninchen in seinen Hosenboden verbiss.
Die drei Jungen stürzten durch den Korridor. Das Licht ihrer Taschenlampen tanzte wild über die holzverkleideten Wände. Ein untoter Kanarienvogel flatterte schrill pfeifend über Micks Kopf hinweg. Finn sah entsetzt hoch. Das kann doch nicht sein, das kann doch alles gar nicht wahr sein, dachte er immer wieder. Der Vogel über ihnen war eindeutig tot, er hatte nicht mal genug Federn an den Flügeln, um überhaupt noch fliegen zu können. Stellenweise sah man die blanken Knochen hervorstechen. Das konnte nicht real sein! Das widersprach der Biologie, der Aeronautik, der Physik, ja allen verfluchten Naturgesetzen zugleich.
Sie bogen um die Ecke. «Zur Treppe, schnell», keuchte Chris über die Schulter zu den anderen zurück.
Mick hatte es geschafft, das beißwütige Kaninchen abzuschütteln. Dafür sprangen ihm nun drei halbverweste, weiße Mäuse über die Stoffschuhe. Er trat nach den Tieren, traf eine sogar, die im Bogen gegen die Wand flog. Doch die Maus sprang sofort wieder auf, schüttelte sich lediglich und setzte dann ihre Verfolgung unbeirrt fort.
Chris erreichte die Treppe als Erster. Die zerbrochene Treppe zum oberen Stockwerk. In großen Sätzen sprang er die Stufen hinauf und stieß sich mit einem Aufschrei ab. Er überwand den klaffenden Abgrund, rollte sich auf dem oberen Absatz ab.
Der Zombie-Kanarienvogel stürzte sich pfeifend in seine Haare. Chris schrie auf, versuchte verzweifelt, das flatternde Tier von sich fernzuhalten. Doch der Vogel drang immer wieder mit Krallen und Schnabel auf ihn ein und pickte zornig nach den Augen des Jungen.
Die anderen beiden erreichten ebenfalls den Fuß der Treppe. Mick warf die Sporttasche im hohen Bogen hinauf und folgte gleich hinterher. Er sprang dabei etwas zu früh ab. Zwar gelangte er über den Abgrund, traf jedoch mit dem Brustkorb auf eine Treppenkante. Chris zog ihn hoch auf den Absatz. Sogleich griff Mick nach dem tollwütig umherflatternden Vogel. Er pflückte das aggressive Tier aus der Luft und warf es schwungvoll zurück in den Korridor, auf die näherkommen Meute zu.
«Da habt ihr! Nehmt den doch, ihr blöden Zombies!»
Die drei aufdringlichen, weißen Mäuse hatten Finn als ihr neues Ziel erkoren. Fiepend und zischend versuchten sie, an dessen Bein in die Höhe zu klettern, während Finn noch mit den Trägern seines riesigen Rucksacks kämpfte. Er stand vor der Bruchkante der Treppe und begann wild zu hüpfen, um die bissigen Tiere abzuschütteln. Endlich bekam er den letzten Träger gelöst. Der Rucksack fiel polternd die Treppenstufen hinab, mitten in die anstürmende, kreischende Zombiehorde hinein. Ein flügellahmer Papagei und eine Perserkatze mit drei Beinen und mörderischen Haarausfall wurden von dem schweren Rucksack überrollt. Sofort verbiss sich ein hechelnder Dackelzombie in den Brustgurt und begann knurrend daran zu schütteln.
«FINN! SPRING ENDLICH!»
Chris und Mick schrien und gestikulierten wild mit den Armen. Finn blickte sich panisch um, sah die geifernde Meute auf sich zustürzen und stieß sich ab. Ohne Anlauf geriet sein Sprung jedoch zu kurz. Er streckte im Flug noch die Hände aus, verfehlte allerdings die obere Kante und fiel schreiend in die Tiefe. Entsetzt blickten ihm die anderen Jungen hinterher.
Krachend schlug er auf dem Boden auf. Der zerbrach unter dem Aufprall und Finn stürzte zusammen mit den Trümmern noch weiter in die Schwärze hinab.
Die heranstürmende Zombiehorde stoppte an der Treppenkante. Einige Tiere wurden von den nachdrängenden hinabgestoßen und purzelten kopfüber quietschend hinter Finn her.
Unten ertönte ein gepeinigter Aufschrei.
Chris und Mick starrten in das dunkle Loch hinab. Tief unten im Keller bewegte sich ein zitternder Lichtstrahl.
«FINN!», rief Chris erleichtert und warf sich bäuchlings an die Kante.
«Alles ok», erklang die leise Antwort aus dem Loch, gefolgt von einem unterdrückten Aufschrei. «Oder vielleicht auch nicht. Ich glaube, mein Bein ist gebrochen.»
Die untote Horde hatten sich jetzt von der Treppenkante abgewandt. Die zwei Jungen dort oben waren für sie unerreichbar. Stattdessen näherten sie sich dem gezackten Loch im Boden und starrten gierig zu Finn hinab.
«Lasst mir das Seil runter», rief Finn.
«Welches Seil?», wollte Chris wissen.
Mick stöhnte auf.
«In meiner Sporttasche ist ein Kletterseil. Wenn ich mir das umbinde, könnt ihr mich damit hochziehen», erklang es von unten.
Chris öffnete die Sporttasche. Dort war kein Seil.
«Mist. Ich hab´s vorhin ausgepackt», murmelte Mick unglücklich. «Woher sollte ich auch wissen, dass wir sowas wirklich brauchen?»
Chris sah seinen Freund entsetzt an. «Was hast du?»
«Na, die blöde Tasche war so schwer. Und da hab ich mir gedacht, ich pack halt ein paar Sachen aus, die eh keiner braucht.»
Chris stöhnte auf. Mick sah bedrückt zu Seite. Chris glaubte, seinen Freund im Schein der Taschenlampe erröten zu sehen.
«Au! Verdammter Mist, lass mich in Ruhe!», drang Finns Stimme zu ihnen hoch.
Die beiden Jungen sahen hinab. Sie erkannten im Strahl von Finns Lampe zwei untote Frettchen und ein Eichhörnchen, das nur noch aus losen Fellresten, vermoderndem Fleisch und Knochen bestand. Die drei Tiere versuchen, den verletzten Jungen auf dem Kellerboden einzukreisen. Jedoch wichen sie jedes Mal fauchend zurück, wenn Finn seine Lampe auf sie richtete.
«Sie meiden das Licht», erkannte Finn verblüfft. Dann rief er laut nach oben: «Ihr könnt sie mit der Taschenlampe vertreiben. Sie weichen vor dem Licht aus!»
Finn schwenke den Strahl wieder auf das Eichhörnchen, das sich sofort fauchend ins Dunkel zurückzog.
«Ihr müsst die Lampe benutzen!», rief er noch einmal zu seinen Freunden hinauf, die das Ganze ebenfalls staunend beobachteten.
Die restliche Zombiehorde schien inzwischen begriffen zu haben, dass eine Treppe in den Keller führte. Sie wälzte sich hinab. Nicht lange, dann würde sie Finn erreichen. Gegen so viele hungrige Monster konnte der Junge dort unten alleine mit seiner Taschenlampe nichts mehr ausrichten.
«Mist, verdammter!», rief Mick und sprang erneut über den Abgrund auf die Stufen unter sich. «Warte Finn, Captain Trubek eilt zu deiner Rettung!»
Mit Hilfe von Micks Taschenlampe bahnten sie sich einen Weg durch die wuselnde und schnappende Menge. Micks Lichtstrahl schnitt ihnen regelrecht einen Weg frei.
«Nimm das, Abschaum! Stirb, du elender Zombie!» Mick schien jetzt wieder furchtlos und voller zorniger Entschlossenheit. Die Taschenlampe wie eine Waffe schwenkend stürmte er vorwärts.
Immer, wenn sein Lichtstrahl die untoten Wesen erfasste, wichen diese panisch zu den Seiten aus. Und doch glich ihr Weg in den Keller hinab eher einem Spießrutenlauf zwischen schnappenden Kiefern und Schnäbeln.
Es war fast zu spät, als sie Finn endlich erreichten. Dutzende Tiere hatten den Jungen bereits eingekreist. Er lag mit einem seltsam verdrehten Bein auf dem Lehmboden und schwenkte seine Taschenlampe wild im Kreis. Chris kniete sich neben seinem verletzten Freund, der ihm schluchzend die Lampe gab. "Chris, ich will hier raus."
Rücken an Rücken standen Mick und Chris im Keller, schwenkten ihre Taschenlampen umher. Hunderte roter Augen starrten sie aus der Finsternis an. Überall um sie herum erklang Knurren und Fauchen, Zischen und Fiepen. Es schien, als seien sämtliche Kreaturen der neun Tierhöllen selbst entwichen, um sie zu verschlingen.
«Lange halten wir das nicht durch», stellte Finn matt fest.
«Hast du vielleicht einen Lösung?», fragte Chris, ohne den Blick von der untoten Horde abzuwenden.
Doch Finn schwieg.
Schlagartig verstummten die wilden Tierlaute um sie herum. Die glühenden Augen wandten sich von ihnen ab, blickten plötzlich nach oben. Auch die Kinder sahen auf. Ein sanfter Lichtschimmer war in der gezackten Öffnung über ihnen erschienen. Sie hörten eine leise, betörende Melodie. Irgendwo dort oben spielte jemand auf einer Flöte. Es war eine langsame, schwermütige Melodie, doch hatte der Klang etwas magisches an sich. Er lockte und rief nach den Kindern, zog sie zu sich und versprach ihnen Glück und Zufriedenheit, wenn sie doch nur endlich kämen. Chris Herz war von einer drängenden Sehnsucht erfüllt. Er wollte näher zum Flötenspieler, wollte ihm zu Füßen sitzen und dem wunderbaren Lied ewig lauschen.
Er ließ die Taschenlampe fallen und machte sich auf den Weg zur Treppe. Um ihn herum bewegten sich die Tiere. Auch sie folgten nun dem verlockenden Klang der Flöte. Chris stieß auf der Treppe mit einem Hasen zusammen, doch das Tier sah ihn nicht einmal an. Sie alle folgten nur noch der Musik. Neben ihm ging Mick. Chris sah in seinen Augen die gleiche Sehnsucht, die auch er empfand. Die Jungen halfen einigen weißen Mäusen die Stufen hinauf, damit auch sie schnell zum Flötenspieler gelangen konnten.
Alles würde nun gut werden.
Am oberen Ende der Treppe saß Samuel, der Leuchtturmwärter. Amüsiert blickte er die Jungen an, als sie die Treppe hinaufgestolpert kamen. Jeder der beiden hielt inzwischen Dutzende von kleinen Tieren in den Armen, die alleine kaum die Treppenstufen hochkamen. Der alte Mann richtete sich bei ihrem Anblick ächzend auf. Seine Hand glitt unter das Hemd und er zog einen leuchtenden Stein hervor. Damit berührte er die beiden Jungen nacheinander an der Stirn.
Sofort fiel der Zauberbann von ihnen ab.
Mick quietschte entsetzt auf, riss die Arme in die Höhe und ließ die Tiere zu Boden fallen. Chris blieb verwirrt stehen. Die Tiere sprangen von ihm herunter und liefen weiter, dem Flötenspiel hinterher.
«So», murmelte Samuel, «das hätten wir dann schonmal. Wo ist der Dritte von euch? Noch dort unten?»
Chris konnte nur nicken. Ihm war jetzt schrecklich kalt. Eben noch hatte ihn ein Hauch von Wärme und Zufriedenheit erfüllt, doch sie waren nun verschwunden. Jetzt war da plötzlich nur noch ein großes, dunkles Loch in ihm. Leer, er fühlte sich so leer und müde. Die Flötenmelodie erklang noch immer. Sie drang durch den Korridor, kam irgendwo von draußen aus dem Garten. Doch sie berührte ihn nicht mehr so, wie noch vor wenigen Augenblicken. Ihr Bann schien gebrochen. Jedoch nur für Chris und Mick. Noch immer strömten unzählige rotäugige Tiere aus dem Keller. Sie liefen an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten, folgten dem Klang des Liedes.
«Kommt», sagte Samuel, «wir sehen jetzt besser nach eurem Freund.»