In dieser Nacht lernte Felix, dass es sich mit schlechtem Gewissen schwer schlief. Gut, dazu sei gesagt, dass der junge Nachwuchskünstler nur selten seine Ruhe in den stillen Stunden fand, in denen Normalsterbliche gedachten, ihre Kraftreserven wieder zu erneuern, um dann am Morgen frisch und fröhlich den neuen Irrungen und Wirrungen des Lebens zu trotzen.
Felix hingegen bevorzugte es, Stunde um Stunde Gedanken von einer Seite auf die andere zu wälzen, zu betrachten, sie auseinanderzunehmen, ja geradezu zu sezieren. Schließlich wusste man nie so genau, ob sich hinter den Tücken der von seinen Gedanken fabrizierten Schauerszenarien nicht doch ein Quäntchen Wahrheit versteckte. Da ließen sich so einige denkbare Möglichkeiten finden, um ihm seinen dringend benötigten Schlaf zu rauben.
"Erstens", zählte er leise auf, "Verwirrung."
Wie zum Beispiel, dass Anton nun, nachdem er von Felix' scheinbarer Abfuhr stark getroffen in alkoholisiertem Zustand nachhause wankte, in seinen eigenen Gedanken versunken vor einen Bus geraten sein könnte. Unaufmerksam genug war der andere Mann allemal.
"Zweitens", führte der Blondschopf seine Liste an tragischen Schicksalsschlägen weiter und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit seines Hotelzimmers, "Zorn."
Oder er könnte vor Wut über Felix' ungehobelte Art ein Ventil gesucht haben. Genau! Ein Rausch senkte bekanntlich bei einigen Menschen die Hemmschwelle für Aggressionen, hatte er mal gehört. Anton war vielleicht in eine Schlägerei geraten. Mit einem Gegner, der ihm körperlich überlegen war - oder sogar zwei oder vier Gegnern. Ohne eine Chance wäre er seinen Verletzungen erlegen.
"Drittens", trieben Felix' Sorgen ihn nun auf den Gipfel seiner Angst um Anton, "Resignation."
Seine Zurückweisung - die doch eigentlich gar nicht so gemeint gewesen war, hätte Anton ihn doch nur vorgewarnt - war für den Bildhauer ein so herber Schlag gewesen, dass dieser daran Zugrunde ging. Ohne den altbekannten Silberstreif am Horizont könnte er - sich - am Ende -
"Nein", hauchte Felix erschrocken in die Leere seines Zimmers.
Das durfte nicht sein. Konnte nicht. Doch nicht der robuste und dickköpfige Anton Fuchs! Vehement schüttelte er den Kopf, versuchte diese Vorstellung zu vertreiben, doch die Bilder der verschiedensten Szenarien fluteten seine Vorstellung.
Mit rasendem Puls setzte Felix sich in dem viel zu weichen Bett auf und presste sich die Hände auf die Brust. Keuchend schwang er die Beine über die Matratze, stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel und barg das verschwitzte Gesicht in den Händen. Schließlich griff er zum Telefon. Nach einigen endlos erscheinenden Klingelzeichen, sprang Antons Mailbox an. Erneut wählten seine Finger wie von selbst die Zahlenfolge, die er auswendig gelernt hatte.
Er fand es merkwürdig, seinem Smartphone das Denken für sich zu überlassen und im Ernstfall vollkommen planlos dazustehen und lediglich die Festnetznummer seiner Eltern nennen zu können, die ihm als Kind eingetrichtert worden war. Also hatte Felix die Marotte entwickelt, sich alle neuen Telefonnummern einzuprägen, indem er zu jeder eine Art 'Malen nach Zahlen' entwickelte. Jede Nummer ergab das Portrait des Besitzers.
»Hier ist der Anschluss von Anton Fuchs. Leider bin ich gerade zu faul, um deinen Anruf entgegen zu nehmen. Quatsch mir was drauf. Wenn du Pech hast, rufe ich zurück.«
Schniefend schüttelte Felix den Kopf. Warum ging dieser Mann denn nicht an sein Telefon?!
"Toni?", kiekste er, "bitte, wenn du das hier hörst, dann ruf' mich an. Es - tut mir so ... Gott, es tut mir so unfassbar leid, okay? Bitte, ich will nur -"
"Jeger?", wurde er so abrupt in seiner anrührenden Bettelei um Gnade und Vergebung unterbrochen, dass Felix hörbar die Luft einsog und sich hektisch daran verschluckte. Es endete mit einem unrühmlichen Schluckauf für ihn und einem brummigen Fuchs auf der anderen Seite der Leitung, der wiederholt nachfragte, ob der werte Herr denn heute noch vorhabe, einen vollständigen Satz heraus zu stammeln.
"Du bist nicht tot", brachte Felix dann endlich über die Lippen.
Dass nun Anton der Sprache für kurze Zeit nicht mehr mächtig schien, zeigte sich, als man für eine kleine Ewigkeit nur den beständig fortschreitenden Sekundenzeiger der sehr nervigen Uhr in Felix' Hotelzimmer hören konnte.
"Nein", kam es dann ganz trocken von seinem Rivalen.
Das war alles, mehr sagte er nicht. Gut, zugegeben, blieb dazu vermutlich auch nicht ganz so viel, was der andere Mann so aus dem Stehgreif hätte ausführen können. Schließlich war sein ganz offenkundig durchaus lebendiger Gesamtzustand allein an der Tatsache ableitbar, dass er nicht nur das von Felix in die Wege geleitete Telefongespräch angenommen hatte, nein, er hatte gar mit ihm höchstpersönlich gesprochen.
"Warum zum Geier terrorisiert du mich um halb drei in der Früh, um festzustellen, ob ich noch atme? Was stimmt denn nur nicht mit dir, Jeger?!"
Eilig hielt sich Felix den Hörer etwas auf Abstand, als Anton seinem Ärger Luft machte. Doch das Grinsen, das an seinen Mundwinkeln zupfte, konnte der Künstler nicht verhindern.
"Ich habe mir nur Sorgen gemacht", führte er an und unterbrach damit ganz selbstverständlich das andauernde Gezeter Antons, das ihm entgegenscholl, "weil du nicht mehr nüchtern warst und ich nicht sicher, ob du es unversehrt heim geschafft hast."
Diese Information nahm dem anderen scheinbar den Wind aus den Segeln, blieb es doch wieder kurz still, bis Felix ein Räuspern vernehmen konnte. Dann raschelte es, als sei Anton dabei, es sich in seinem Bett etwas bequemer zu machen.
"Das ist - nett - schätze ich", kam es zögerlich von Anton.
Schmunzelnd ließ auch Felix sich nun mit einem Kissen im Rücken gegen das Kopfende seines Bettes sinken und zog die viel zu bauschige Decke über seine Beine.
"Mhm. Außerdem wollte ich mich für meine komische Aktion am Abend entschuldigen. Es ging nicht gegen dich, Toni. Ich -"
Seufzend schloss Felix die Augen. Es war nicht wirklich leicht, seine sonderlichen Verschrobenheiten zu erklären. Er hatte sie sich mit der Zeit irgendwie angewöhnt. Ganz harmlos hatte es mit akribisch geführten Listen angefangen, um bloß keine Kleinigkeiten zu vergessen. Dann unbedenkliche Rituale, um sorgenvolle Gedanken, die ihm plötzlich in den Kopf schossen, zu besänftigen. Aufsummiert ergab sich heute daraus das Bild eines gelinde gesagt exzentrischen jungen Mannes.
"Schon gut."
Anton überraschte Felix mit dieser in ihrer Einfachheit aber akzeptierenden Charakter gefärbten Aussage.
"Ich würde es trotzdem gern wieder gut machen", bestand er auf eine offizielle Versöhnung, "darf ich dich auf einen Kaffee oder so einladen?"
Ängstlich wartete er auf Antons Antwort. Als sie kam, hörte er zu seiner Erleichterung ein Schmunzeln in dessen warmer Stimme.
"Ein Kaffee wird mir nicht reichen. Morgen wirst du mir das Zeug schon intravenös verabreichen müssen, nur um mich halbwegs Mensch nennen zu können. Aber im Gipfelstürmer gibt es sonntags Brunch. Das könnte ich mir gefallen lassen."
"Deal", sagte Felix freudig zu.
"Schön, dann hol mich um elf Uhr an meinem Atelier ab."
Ein freudiges Rieseln durchlief seinen ganzen Körper. Wie froh er war, dass er noch eine Chance bei Anton bekam.
"Oh und Jeger", vernahm Felix gerade noch Antons Stimme, bevor er den Hörer auflegte, "wenn du mich noch einmal zu dieser unchristlichen Stunde wecken solltest, dann trete ich dir dahin, wo die Sonne nie hinscheint."