In seine Versuche vertieft, einen herumtollenden Hund mit einem kleinen Mädchen in wehendem Röckchen auf Papier einzufangen, ließ Felix seinen Kohlestift über die Seiten seines Zeichenblockes kratzen. Zufrieden war er bei Weitem nicht, wollte es dem einst so begnadet genannten Künstler schlicht nicht gelingen, den richtigen Winkel einzufangen, in dem der Hund nach dem Ball schnappte, das Lachen des Kindes fröhlich wirken zu lassen, statt wie eine entstellte Clownsfratze.
Stöhnend rieb Felix sich die Augen, hinterließ dabei ungewollt schwarze Flecken in seinem Gesicht, doch kümmerte es ihn kaum, was die anderen Leute in diesem Park von ihm denken mochten. Alles was für ihn zählte, war dieses Bild, das mit jedem vorab so gut durchdachten Strich mehr und mehr in eine einzige grauenerregende Kleckserei abdriftete. Dabei hatte er, nachdem sein Motiv gefunden war, feinsäuberlich mit kaum sichtbaren Strichen und Zahlen festgelegt, wie und wann er welche Bewegung mit der Hand ausführen wollte, welche Schraffierung, wo der Lichteinfall gesetzt werden sollte. Doch das Gesamtwerk wirkte -
"Tot", hauchte Felix betrübt, ließ den Kopf in den Nacken zurück und gegen die Rinde des Baumes Fallen, gegen den er lehnte.
Unmut überkam ihn, kroch in seine Adern und fraß sich durch sein Blut bis in seine Eingeweide. Ihm wurde schlecht, ganz fürchterlich schlecht. Unwohl wand er sich, presste sich die Hand auf seinen schmerzenden Bauch, meinte gar zu spüren, wie sein Versagen ihm den Magen verknotete.
Der Kohlestift entglitt seinen klammen Fingern und nun stieg auch die Panik in Felix auf. Was, wenn es gar nicht seine Untauglichkeit war, die ihn hier röchelnd und leidend in die Knie zwang? Ebenso könnte er an einer unerkannten Herzschwäche leiden, die nie erkannt wurde, sich nun bemerkbar machte. Der Stress, ja der Stress, hatte jetzt dazu geführt, dass er einen Infarkt erlitt! Elendig zugrunde ginge. Hatte er nicht einmal irgendwo gelesen, dass einige Menschen keinen Schmerz im Arm verspürten oder in der Brust, sondern im Bauch? So wie er! Ja, ganz genauso wie es ihm gerade erging, was auch die Kurzatmigkeit und den kalten Schweiß erklären würde, der ihm aus allen Poren drückte.
Oh große Güte, er würde hier in diesem Park als gescheiterte Existenz dahingehen und alles, was man mitnehmen würde, wäre der Gedanke daran, dass er die Leute mit seiner Kunst betrogen hatte. Dabei war es doch sein Vater gewesen! Das aber würde niemand erfahren, er würde seinen Kopf hinhalten für diese Taten. An den Verruf der Zeitungen, daran würden sich die Menschen erinnern. Daran und an seinen vermaledeiten falsch geschriebenen Nachnahmen.
"Jeger!"
Genau. Niemand konnte auch nur ein einziges Mal seinen verdammten Namen richtig aussprechen. So schwer war es nicht, wirklich nicht. Aber das war doch nun wirklich alles, was er verlangte. Wenigstens den richtigen Nachnamen auf seinem Grabstein, wenn er schon so unehrenhaft in einem Park an einer unerkannten Herzschwäche -
"Jeger, zum Geier, atme! Komm schon, ganz ruhig. Ein und aus. Sieh mich an!"
Diese warme Stimme kam Felix verdächtig bekannt vor. Nur hatte er sie bisher nie so aufgeregt vernommen. Aufgedreht, beizeiten neuerdings auch durchaus verärgert, aber nicht so.
Nur schwer gelang es dem jungen Künstler, seine Sicht zu fokussieren, erkannte dann aber Anton vor sich kniend im Gras. Die Pupillen weit, als habe er Angst, sah sein Freund ihn an, sprach noch immer scheinbar um einen beschwörenden Tonfall bemüht auf ihn ein.
Ach ja, er sollte ja atmen.
Dann wollte Felix mal nicht so sein und tat Anton diesen doch recht großen Gefallen, verlangte es seinem Körper in diesem desolaten Zustand einiges ab, genügend Sauerstoff in seine viel zu engen Lungen zu saugen. Für diesen umwerfenden Mann vor ihm wollte Felix es versuchen, denn es gefiel dem Jungkünstler ganz und gar nicht, wie sich diese hübsche Stirn in Falten gelegt hatte, auch die Blässe war nicht gesund zu nennen.
Vielleicht sollte Anton zu einem Arzt gehen?
"So ist es gut", brummte Anton tief und beruhigend, brachte Felix dadurch zu einem bestätigenden Nicken, wenn dieser auch nicht wirklich verstand, warum und auf was er da antwortete.
Sein Herzinfarkt jedoch schien wie durch ein Wunder verpufft, bekam er inzwischen wieder besser Luft und auch die glühenden Schmerzen in seinem Bauch verebbten allmählich. Nur seine Hände taten ungewöhnlich weh. Nicht, dass der Blondschopf keine schmerzenden Fingergelenke gekannt hätte, war es doch das Schicksal eines jeden Künstlers gefühlt unter permanenter Sehnenscheidenentzündung zu leiden, würde es ihn auch nicht wundern, eines Tages an verschleißbedingter Arthrose vor Schmerz zu vergehen. Vorsichtig tastende Finger schlichen sich über seinen Handrücken, umschlossen die seinen und verblüfft schielte Felix hinunter auf Antons T-Shirt, in das er sich ohne sein willentliches Zutun verkrallt zu haben schien.
Verlegen blickte er dem Bildhauer ins Gesicht, traf dort auf betrübte Sturmaugen und mit einem Mal fand Felix sich in einer starken Umarmung wieder. Wie eine kraftlose Puppe hing er in Antons Armen, ohne jegliche Gegenwehr, als habe er schlicht keine Kraft mehr übrig, um einen Protest auszustoßen, ergab er sich der Wärme und dem Trost, die diese einfache Geste bot, schmiegte sich gar enger an ihn und vergrub sein Gesicht an der Halsbeuge des Dunkelhaarigen. Atmete tief ein, schloss die Augen, als er den Duft nach Sandelholz und Sägespänen wahrnahm.
Anton, das war sein Toni und irgendwie war das hier wohl okay. Für diese kurzen Sekunden war das in Ordnung.
Als Felix begann, in der Umarmung herumzuzappeln, gab Anton ihn frei, entließ ihn wieder in den plötzlich so kalten Sommernachmittag, griff stattdessen nach der Zeichnung, um sie eingehend zu studieren. Bewusst in die entgegengesetzte Richtung schauend, zog Felix die Knie eng an die Brust, schlang seine Arme um die Knie, studierte die vorbeiflanierenden Passanten.
"Ist doch ganz gut geworden", urteilte Anton, erntete dafür nur ein entrüstetes Schauben von Felix, der nun doch seinen Kopf wieder zurück zu seinem Freund drehte, ihn aus kaffeebraunen Augen dunkel anfunkelte.
"Fang nicht an, mich anzulügen, Toni. Wage es nicht", brachte er mit krächzender Stimme heraus.
Nickend seufzte Anton, sank neben ihn in auf seinen Hosenboden, die Zeichnung in der Hand. Leicht stieß der Bildhauer ihn mit seinem typischen schiefen Lächeln auf den Lippen mit der Schulter an.
"Ist Murks", kam es ehrlich, "hast du schon mal drüber nachgedacht, einen neuen Zugang zur Kunst zu finden?"
Verwirrt blickte Felix Anton von der Seite an, nicht sicher, was dieser ihm damit sagen wollte, schon gar nicht sicher, ob ihm der kommende Vorschlag behangen würde.
"Ich meine damit nicht, dass du jetzt anfangen sollst, mir wirklich Konkurrenz zu machen, du Ochse", lachte Anton und Felix atmete erleichtert auf.
Nein, handwerkliche Arbeiten standen ihm nicht gut zu Gesicht, da hatte er doch wahrlich zwei linke Hände. War Felix doch froh, wenn er es schaffte, mit seiner Schleifmaschine und dem Drechsel vernünftige Rahmen für seine Werke zu kreieren.
"Aber", fuhr Anton fort, "du könntest mit anderen Techniken experimentieren. Denk mal drüber nach."
Damit erhob der andere Mann sich, zog Felix doch glatt ungeniert am Schlafittchen mit auf die Füße.
"Mal ein anderes Thema, Jeger. Ich will mich da nicht einmischen - ist ja Familiensache und so ... aber bei was ging's denn da im Telefonat mit deiner Mama, hm? Klang nicht gerade gut."
Eine zarte Röte überzog Felix' Wangen, war es ihm doch ausgesprochen peinlich, was sein Vater mit ihm abgezogen hatte. Niemals könnte er dies jemandem erzählen, schon gar nicht Anton. Dieser wollte am Ende noch, dass er die Exekutive einschaltete.
Nein, keines Falls! Lieber ein ruinierter Ruf und gescheiterter Künstler, als die Schmach, von seinem eigenen Vater über den Tisch gezogen worden zu sein. Vermutlich schon über Jahre hinweg, wusste Felix doch nicht, wie lange Johann Jeger ihn bereits hintergangen und sich heimlich an ihm bereichert hatte, während er ihn angehimmelt hatte und für seine Liebe und Unterstützung dankbar gewesen war.
"Das übliche", winkte Felix daher wage ab, als sie zurück zu Antons Heim schlenderten, "kleine Reibereien in der Familie. Wie das eben so ist."
"Mhm."
Ungewöhnlich für Anton, nicht nachzuhaken, doch hatte der jüngere Künstler das unbestimmte Gefühl, wieder einmal auf einen wunden Punkt gestoßen zu sein. Was war das nur mit Anton und dessen Eltern?