"Alles klar, du musst aufhören mich zu mästen. Ich passe bald nicht mehr in meine Hosen", stellte Anton am nächsten Morgen fest, als er die Treppenstufen hinunter trottete und Felix sich ernsthaft sorgte, ihn jede Sekunde hinabstürzen zu sehen, war der Mann doch viel zu beschäftigt, sich abzumühen, den Gürtel um seine Hüften in das gewünschte Loch zu schnallen. Vergeblich, wie der Maler nicht umhin kam mit leichtem Amüsement feststellen zu müssen, war Anton in der Tat in den vergangenen Wochen, die er nun hier sein durfte, ein wenig üppiger geworden. Nicht dick, oh nein, davon war Anton noch weit entfernt, aber Felix gefiel es durchaus, wie sich der Bauch des Älteren ganz sanft wölbte, war es doch eine Hommage an seine Kochkünste, mit denen er sich für die Beherbergung bedanken konnte. Schließlich trug er sonst rein gar nichts zum Zusammenleben oder der Freundschaft bei, die sie unterhielten, trug Anton doch die gesamte Last auf seinen starken Schultern, wobei Felix stets den Part des Anlehnens übernahm.
"Dann lass den Gürtel einfach aus", meinte Felix frech und zwinkerte mutig in Antons Richtung, wurde dafür gar mit einem hinreißenden Augenrollen und drohendem Zeigefinger belohnt.
Sich eine dieser süßlich riechenden Zigaretten ansteckend, lümmelte der Bildhauer sich zu ihm auf die Couch, schlug ein Bein über das andere und die Zeitung auf, um die Schlagzeilen zu überfliegen. Wie jeden Morgen.
Felix hingegen eilte beim Piepsen des Timers in die Küche, um die fertigen Eier zu verarbeiten, die Teller hübsch anzurichten, die Sauce Bernáise abzuschmecken, die Dekoration ansehnlich gestaltend zufrieden alles zu ihren Plätzen zu tragen und sich in die Kissen kuschelnd das Buch zu schnappen, das er zu lesen begonnen hatte. Einträchtiges Schweigen erfüllte den gemeinsamen Morgen. Ein Ritual. Ein herrliches, ganz ungezwungenes Ritual, nicht geknüpft an angsterfüllte Gedanken, die beruhigt werden wollten, Horrorszenarien, die verscheucht werden mussten oder verhindert werden konnten, indem er eine bestimmte Abfolge von Dingen auf bestimmte Weise ausführte. Nein, das hier war schlicht -
"Schön", murmelte Felix.
"Hast du was gesagt?"
Eilig schüttelte er den Kopf, versteckte sein glückliches Lächeln hinter seinem Buch und einer Gabel perfekt zubereiteter Egg Benedict. Auch Anton schien es wieder einmal sehr gut zu schmecken, doch als er sich plötzlich zu ihm herum drehte und durchdringend ansah, befürchtete Felix, das Salz mit dem Zucker verwechselt zu haben. Weiterhin verweilten die nebelgrauen Augen auf seinem Gesicht, bis er begann, sich zu winden und unruhig auf seinem Platz hin und her zu rutschen. Was hatte Anton denn nur plötzlich? Warum sah er ihn an, als habe er eine Todsünde begangen? Hatte er ihn doch zu sehr beleidigt, weil er nicht direkt abgeblockt hatte, als Anton angedeutet hatte, er werde zu dick?
"Meine Eltern haben angerufen", polterten die Worte ungestüm über die Lippen des Bildhauers, mit einer Nervosität und einem Zittern in der Stimme gesprochen, die Felix so nicht kannte, die ihn gar irritierte.
Nickend legte er das Buch beiseite, drehte sich halb auf dem Sofa, um Anton direkt gegenüber sitzen zu können. Scheinbar war dies ein sehr wichtiges Thema, welches er nun mit Felix besprechen wollte, daher war es dem jungen Künstler wichtig, Anton zu vermitteln, dass er dies verstanden hatte und bereit war, ihm zuzuhören.
"Du kannst dich natürlich auch verpiesln, wenn es dir lieber ist, aber -"
"Aber", unterbrach Felix seinen Freund milde lächelnd, "eigentlich willst du mit deinen Eltern ungern allein sein."
Ein leichtes Schulterzucken und das so selten gesehene rote Glühen der Ohrmuscheln des dunkelhaarigen Großmauls, das plötzlich kaum wusste, wohin mit sich, brachte Felix dazu, eine Hand auf den schwarzen Jeansstoff zu betten, kurz sacht darüber zu fahren und sich dann aufspringend auf den Weg zu machen. Wohin er denn wolle, war Antons erstaunte Reaktion, die Felix nur damit abtat, dass sie ihren hohen elterlichen Besuch nun wirklich nicht ohne leckeren Kuchen bewirten könnten.
So stand Felix den restlichen Vormittag in der Küche, rührte und knetete, verzierte und strich ein, immer darauf bedacht, noch genügend Teig vor Antons frechen Fingern zu sichern, die sich immer wieder zum Probieren in die Schüsseln verirrten. Widerlich, dieser Mann war einfach widerlich!
Mit der Heiterkeit war es dann zum großen Bedauern vorbei, schellte doch pünktlich zur Kaffeestunde die Wohnungsglocke. Im gleichen Maße fasziniert wie beunruhigt beobachtete Felix, wie in seinem sonst so unbeschwerten Zwangsmitbewohner eine Verwandlung vonstatten ging, das stets schelmische schiefe Grinsen einer starren Maske und die locker-lässige Körperhaltung steifen Schultern und geradem Rückgrat wich.
Nun auch nervös, richtete der Blondschopf ein letzte Mal die fein säuberlich hergerichtete Tafel, die er im mit einem Erkerfenster ausgestatteten Esszimmer gezaubert hatte, arrangierte die Sachertorte etwas mittiger, bis er eine unterschwellige Zufriedenheit verspürte hinsichtlich der Betrachtung der perfekten Symmetrie, die er geschaffen hatte.
Aufgeschreckt wurde er von dem harschen Ton einer spindeldürren Frau Ende fünfzig mit akkurat gestecktem Haarknoten und funkelnden grüngrauen Augen, die zunächst die Tafel und dann ihn mit einem Naserümpfen musterte.
" ... Ich verstehe nur nicht, weshalb du dich nun auch noch verstümmeln musstest."
Anton folgte hintendran, die Augen gar ohne die hingebungsvolle Leidenschaft, vielmehr ernsthaft einer nervlichen Verzweiflung nahe in den Hölen rollend.
"Das Piercing habe ich bereits seit einem Jahr, Mutter. Was du wüsstest, wenn ihr euch dazu bequemt hättet, mal hier aufzutauchen", kam es ätzend und schroff von dem sonst so warmherzigen Mann.
Erschrocken sah Felix zu Anton, vollkommen verunsichert. Sollte er intervenieren? Sich vorstellen? Gab es keinen Herr Fuchs zu dieser Familie? Denn Anton hatte am Morgen doch von seinen Eltern gesprochen, wenn er sich recht entsann?
"Sag amal, wie ist das eigentlich", erklang da eine tiefe Bassstimme aus dem Flur, schob sich sogleich ein großer und stattlicher Mann mit graumelierten Schläfen zu intelligent funkelnden schiefergrauen Augen in Felix' Blickfeld, "wie lange willst für den Gauner eigentlich noch den Samariter spielen?"
Groß und weit wurden Felix' Augen bei diesen Sätzen, wusste er nun wahrlich nicht mehr, wie er reagieren sollte. Anton zischte seinen Vater an, den Mund verzogen, die Schultern angespannt.
Sich räuspernd machte Felix nun die Initiative ergreifend auf sich aufmerksam, beschloss, die Flucht nach vorn anzugehen, bevor noch weitere böse Worte gewechselt werden konnten.
"Herr und Frau Fuchs, ich würde mich gern Vorstellen. Mein Name ist -"
"Verdammich, Anton", unterbrach ihn Herr Fuchs unsanft, "hast jetzt eine Jugendherberge aufgemacht? Bist überhaupt schon volljährig?"
Mit der letzten Frage wandte der alternde Mann sich ganz offenkundig entrüstet an Felix, Anton empörte sich derweil lautstark.
"I-ich bin zwanzig", stotterte der junge Künstler, darauf hoffend, dass damit nun bitte alles geklärt sein möge.
Zumindest setzten sich alle endlich an den Tisch. Hektisch - so ungewohnt, so untypisch, dass Felix beinahe selbst die Nerven verlor - wuselte Anton hin und her, schenkte Kaffee ein und Schnitt den Kuchen an.
Drückende Stille, nur durchbrochen durch das Klappern der Gabeln auf Porzellan, dem leisen Schlürfen der Gäste und hier und dort einem Schluckgeräusch.
"Wie ist der Kuchen?", wagte Anton einen leisen Vorstoß, entlockte Felix ein kurzes Lächeln in dessen Richtung, ahnte der Jungkünstler doch, dass dieser damit ein Lob aus den Eltern herauskitzeln wollte.
"Schmeckt komisch", lautete das ernüchternde Urteil des Herrn Fuchs, Felix' Lächeln fiel in sich zusammen, "nicht richtig. Ist der aus der Tiefkühltruhe?"
"Den habe ich gemacht", flüsterte Felix kleinlaut.
Er meinte zu vernehmen, wie der Mann etwas murrte, dass nach 'das erklärt es' klingen mochte. Anton nahm sich ein extra großes zweites Stück.
"Muss das sein, Anton?", schalt ihn seine Mutter mit schneidender Stimme, "du bist eh so dick geworden. Und immer dieses Schwarz. Kannst du nicht mal was Fröhliches anziehen? Es reicht doch, dass du hier mit diesem ... Mann wohnst, aber -"
"Halten Sie den Mund!"
Schneiden. Die Luft war zum Schneiden. Felix war über seinen Ausbruch selbst erschrocken, doch hatte er nicht mehr mit anhören können, wie seine Eltern diesen wunderbaren Mann, der ihm so viel bedeutete, runterputzten.
Ruckartig erhob sich Frau Fuchs, schoss einen eisigen Blick auf ihren Sohn nieder, beachtete Felix hingegen nicht weiter und verließ, gefolgt von ihrem Mann, das Esszimmer.
Unerwartet sprang Anton auf und lief hinter seinen Eltern her, sprach beruhigend auf sie ein, vollkommen unverständlich für Felix, der sich zögernd erhob, doch abwartend am Tisch zurückblieb. Sein Freund kam nach einigen Minuten allein zurück. Zorn funkelte in dessen Augen, verwirrte Felix zusätzlich.
"Tu das nie wieder", fuhr der Bildhauer ihn an, drehte sich abrupt herum und stürmte hinaus, krachend schlug er die Haustür hinter sich zu. Felix hörte den aufbeghrenden Motor der Höllenmaschiene und wusste, dass er seine Sachen packen sollte. Seine Zeit in Wien war vorüber.