Mit gespreizten Fingern fuhr sich Felix sechs Tage nach dem Auftrieb spendenden Videochat durch sein frisch geschnittenes dunkelblondes Haar, ließ es sich anschließend durchaus frech wieder zurück in die Stirn fallen und sah sich mit müden Augen auf dem zu dieser frühen Stunde doch überraschend gut besuchten Bahnsteig um. Unwillkürlich sog er den Duft nach Veränderung tief durch die Nase ein, nahm das Aroma der Verheißung auf neuerliche Chancen in sich auf. Es roch nach -
"Knoblauch", stellte Felix ernüchtert fest.
Zurückzuführen war der Duft des Neuanfangs scheinbar auf einen türkischen Spezialitätenladen ganz in der Nähe des Bahnsteiges, an dem der Nachtzug gehalten hatte. Nun gut, vielleicht war dies nicht der rühmliche Beginn, wie er ihn sich seit seinem Entschluss, die verordnete Auszeit wörtlich zu nehmen und diese nicht nur fernab der Arbeit sondern auch seiner Heimat und der Familie - ja, vor allem seines bei ihm in Ungnade gefallenen Vaters - zu verbringen, doch verblasste dieser leise Dämpfer neben der Aussicht auf ein persönliches Wiedersehen mit dem einen Menschen, der Felix wieder ein wenig fröhlicher würde stimmen können.
Neugierig die anderen Personen am Zug musternd, spähte der junge Künstler mit seiner zugegeben etwas groß geratenen Reisetasche eng am Mann umher, immer auf der Suche nach dem heiß ersehnten dunklen Schopf oder einem Erhaschen aufblitzender strahlend heller Augen, denen ein beinahe schon nervtötender Schalk innewohnte.
Doch so sehr sich Felix auch auf die Zehenspitzen stellte und den Nacken in die bizarrsten Winkel verrenkte, blieb Anton doch verschwunden, verschollen, ja geradezu unauffindbar.
"Nur nicht in Panik verfallen", wagte es Felix, sich selbst Mut zuzusprechen, war es doch töricht, nach so kurzer Dauer bereits von einer Katastrophe auszugehen. Richtig?
Und doch - und doch - kroch die nackte Angst ihm den Nacken empor, setzte sich in seinen Eingeweiden fest und fraß sich glühend durch seine Adern. Denn kannte er Anton nicht gut genug? War dieser Mann nicht dafür bekannt, leichtsinnig jede Vorsicht lächelnd abwinkend in den Wind zu schlagen? War es da nicht nur folgerichtig, dass Anton eher früher als später das Glück nun doch verlassen hatte und er schlussendlich dem Unglück in die Arme gelaufen war?
Jetzt hatte Felix sich doch glatt soweit in seine Angst um diesen so verflucht nervtötenden, weil sorglosen Mann hineingesteigert, dass er mit wild klopfendem Herzen und schweißfeuchten Händen und Achseln gar nicht anders konnte, als mit keuchend aus seinen Lungen gepresstem Atem über den Bahnsteig zu stolpern, die Menschen, die ihm begegneten robust aus dem Weg zu schubsen und dabei mit fiebrigem Blick die dunklen Ecken, gefährlichen Kanten und Spalten zwischen Zug und Bahnsteig abzusuchen.
Zwischen seinen immer schriller werdenden "Anton, Anton!"-Rufen, versuchte Felix sich mit seinem altbewährten System davon zu überzeugen, dass er keine Möglichkeiten außer Acht ließ, seinen Freund aufzuspüren, sollte dieser wie vermutet tatsächlich verunglückt sein. Schließlich zählte jede Sekunde!
"Erstens", begann er und spähte sogleich hinter ein Neonschild, "Kollaps."
Anton war aufgrund seines doch recht ungesunden Lebenswandels in einen so oder so gearteten lebensbedrohlichen Zustand geraten, einen Kreislaufzusammenbruch und lag nun hilflos und ohne Bewusstsein in einer dunklen Ecke, in der er aufgrund seiner immer schwarzen Kleidung - eine sonderbare Eigenart, die Felix' Meinung nach nie so wirklich zu Antons Persönlichkeit passen wollte - kaum zu erkennen war.
"Zweitens", zählte er weiter auf, schrie zwischendrin immer wieder nach seinem Freund, in der Hoffnung, ein schwaches Stimmchen zu vernehmen, "Sturz."
Durch eine unbedachte und ebenso eilige Bewegung war Anton im Bestreben, Felix vom Bahnhof abzuholen, auf einer der schmalen Treppenstufen umgeknickt. Die zarten Bänder, die sein Fußgelenk stabilisierten hatten diese Ungeschicklichkeit nicht ausgleichen können, waren gerissen, was erschreckenderweise zu einem Taumeln geführt und einen Sturz mehrere Treppenstufen in die Tiefe hinab verursacht hatte.
"Drittens", presste Felix mit nunmehr heiserer Stimme heraus, "Fremdeinwirkung."
Natürlich glaubte ein Mensch wie Anton zunächst gern an das Gute in denen, die ihm so begegneten. Doch wusste Felix ob der Grausamkeit und Gehässigkeit der Leute. So war Anton gar von einem dieser Geschöpfe vor eine -
"Jeger!"
Hektisch drehte Felix sich um die eigene Achse, als er die vertraute Stimme vernahm. Trudelte sicherlich reichlich unelegant durch den Bahnhof, zog seit einer ganzen Weile die Aufmerksamkeit und das Unverständnis vieler Reisender und Passanten auf sich. Wo aber, wo nur -?
"Jeger!"
Schon wieder. Es konnte doch nun wirklich nicht sein, dass er begonnen hatte, sich Antons Stimme einzubilden? Rückwärts prallte Felix gegen ein festes, aber gepolstertes Hindernis.
"Jeger, zum Geier. Hör doch mal auf, ständig vor mir davonzulaufen. Seit einer halben Ewigkeit renne ich dir jetzt hinterher, wie der reinste Depp."
Noch in der Umdrehung gaben Felix die butterweichen Knie nach. Die eintretende Erleichterung brachte auch die Erschöpfung mit sich, die der Suche und der Sorge gepaart mit der langen Anreise geschuldet war.
"Vorsicht", kam es von Anton, kurz bevor dessen starke Hände Felix' Oberarme umfassten und ihn so stabilisierten. Das warme doch sorgenvolle Lächeln in Antons Gesicht, gab ihm zusätzliche Kraft, sodass er es mit der Unterstützung seines Freundes hinaus zu dessen Höllenmaschine schaffte. Schmunzelnd sah Anton zu, wie Felix sich leise murrend zum zweiten und damit definitiv letzten Mal abmühte, sich hinter ihn auf den Motorradsattel zu schwingen. Wie nur, wie hatte er denken können, dass Anton auch nur einen Moment Erbarmen mit ihm haben könnte?
Sie fuhren nicht zum Atelier, wie Felix feststellt, nachdem er sich getraute, seinen Blick für längere Zeit von Antons Rücken zu lösen, um statt der bunten kleinen Gässchen eine doch eher bieder anmutende Gegend vor sich zu sehen. Als der Bildhauer schließlich vor einem kleinen Altbau hielt, meinte Felix, seinen Augen kaum zu trauen. Sicherlich verdiente Anton gutes Geld, doch ein solches Objekt konnte sich der Mann bei weitem nicht mit seiner Arbeit leisten.
"Hier wohnst du doch nicht wirklich?", rang er sich nach einigem Herumüberlegen dann doch dazu durch, die ihm unter den Nägeln brennende Frage zu stellen. Anton grinste ihm keck über seine Schulter hinweg entgegen, als er die Tür auf schloss und wie ein altgesottener Diener eine Verbeugung aus der Hüfte andeutete.
"Oh doch. Als ich beschlossen hatte, dass ich keinen Bock mehr auf den Beruf Sohn habe, habe ich auf Bildhauerei umgesattelt. Meine werten Eltern sind nicht begeistert gewesen, wahren allerdings gern den Schein. Daher dieses hübsche Eigenheim."
Damit schien für ihn alles gesagt. Zum ersten Mal hatte Felix das Gefühl, ein Thema angeschnitten zu haben, bei dem es Anton lieber war, es nicht weiter zu vertiefen und so, ließ er es fallen.