Es war am nächsten Morgen, als Felix mit dem wohltuenden Duft nach frisch gerösteten Kaffeebohnen in der Nase die Augen aufschlug und wie eine Larve eingerollt in ihren Kokon aus kuscheligen Decken auf einem überraschend gemütlichen, modernen und grellroten Sofa in Antons Wohnung in Wien so erholt erwachte, wie er es seit Beginn seiner offiziellen Profikarriere nicht mehr getan hatte.
Es stahl sich ein wehmütiger Ausdruck auf sein Gesicht, als er ein grauenerregendes Pfeifen vernahm, das so völlig neben jeglicher Tonlage lag, aber wohl annähernd zu den Klängen eines fröhlichen Chart-Hits aus dem Radio passte. Da das Gehörgang malträtierende Pfeifen gemeinsam mit beschwingt federnden Schritten auf dem alten aber gepflegten Holzboden näher kam, vermutete er schwer den Hausherren hinter der Verunglimpflichung jedweder musikalischen Wohlklänge.
"Guten Morgen, Dornröschen", schnurrte Anton ihm keck wie herzlich entgegen, sein Gesicht tauchte über der Sofalehne auf und präsentierte einen unfrisierten dunklen Haarschopf. Gern, wie gern, wäre Felix ihm mit allen zehn fingern in das dichte Haar gefahren und hätte diesen nervtötenden Mann zu sich hinuntergezogen, um ihn gebührend in diesen Morgen zu begrüßen. Doch war er nicht nur noch immer in Decken verschnürt, wie ein sorgsam verpacktes Weihnachtsgeschenk, sondern hatte er sowohl sich als auch Anton vor etwas mehr als einem Monat erfolgreich ins Aus geschossen. Seufzend schloss Felix die braunen Augen, verschloss sie vermutlich vielmehr vor seiner eigenen Feigheit und der grausamen Wahrheit - es war zu spät. Sie waren Freunde. Eine Entwicklung, die doch recht angenehm zu nenne war, wie sich Felix einredete, denn sollte er sich glücklich schätzen Antons Gegenwart zumindest weiterhin genießen zu dürfen. Vielleicht, ja vielleicht, war es doch besser so, denn war es nicht sein Gedanke gewesen, dass dieser unbeschwerte Mann es als guter Freund ein Quentchen länger mit ihm aushielt, als dieser es als Lebenspartner bereit wäre?
"Sag amal, bist wieder eingedämmert?"
Amüsiert stieß Felix die Luft aus den Nasenlöchern, schielte dann aber doch wieder aus dunklen Augen heraus zu Anton hinauf, der nun auf seinen Unterarmen gestützt auf der Lehne zu ihm hinab spähte.
"Ist der Zungenschlag nur für deine privaten vier Wände, oder kommt der durch, wenn du noch so herrlich verschlafen bist?", neckte er den Österreicher, erntete gar ein verdutztes Blinzeln, bevor ihm selbst bewusst wurde, was er soeben von sich gegeben hatte. Sich nun endlich eifrig aus seinem Kokon schälend, vermied er es mit heißen Wangen, Anton anzublicken, hatte Felix doch plötzlich reges Interesse an den kunstvollen Schnitzereien des Zederntisches gefunden, der im Wohnzimmer als Zierde zu dienen schien.
"Hast' grad -?"
"Nein", unterbrach er Anton barsch, ehe dieser noch auf die absurde Idee käme, den Gedanken, nein, die Wahrheit der Situation offen vor ihnen auszubreiten. Felix. Hatte. Nicht. Geflirtet!
Mit noch immer glühendem Gesicht drängte er sich an Antons Gestalt vorbei Richtung Treppenaufgang, ergriff zugegeben die Flucht vor dem breiten Zahnpastalächeln, das ihm bereits so früh am Tage die Nerven zu zerreißen drohte und verbarrikadierte sich für die nächsten sechsunddreißig Minuten im Badezimmer.
Als er sich vorsichtig wieder zurück ins Erdgeschoss schlich, kam es Felix beinahe so vor, als überschlage sich sein Gastgeber dabei, die Zeitung aus der Hand zu legen und ihm, ein geschmiertes diagonal geschnittenes Toast mit Erdbeermarmelade in die Hand drückend, mit einem Kinnnicken zu verstehen zu geben, dass sie sich langsam auf den Weg machen sollten.
Warum Anton nun zu einer gewissen Zeit an einem bestimmten Ort zu sein hatte, verstand Felix, denn der Bildhauer musste seine Verpflichtungen einhalten.
Warum sich nun er selbst aber sputen musste, als sei der Teufel höchstpersönlich hinter ihnen her, erschloss sich dem blonden Künstler keineswegs, schließlich hatte er doch so etwas wie Urlaub?
"Wieso muss ich denn mitkommen?", tat Felix nur folgerichtig daher seinen Unmut nörgeln kund, als Anton ihn in die Straßenbahn zwang, nachdem er sich geweigert hatte, ein weiteres Mal seinen ihm lieb und teuer gewordenen Allerwertesten auf dieses verfluchte Motorrad zu schwingen.
Dafür war er sich nun sicher, dass der Tag in einer Katastrophe enden musste, sie schon froh sein konnten, wenn sie nicht in einen verheerenden Verkehrsunfall gerieten und mit schweren Verletzungen ihre Karrieren für immer an den Nagel hängen müssten. Denn die Linie fuhr zu Zeiten, die sich nicht mit Felix' System deckten!
"Weil du hier bist, um dich wieder daran zu erinnern, warum du Kunst so liebst", erinnerte Anton ihn geduldig, schaute dabei noch dreist aus dem Fenster, als plauderten sie über das Wetter.
"Ich wollte nett in einem Kaffeehaus frühstücken. Vielleicht entspannt die Zeitung lesen und dann ein wenig durch die Stadt flanieren! Mich inspirieren lassen!", zeterte Felix mit missmutig gefurchter Stirn und trotzig verschränkten Armen weiter, ganz bockiges Kind oder miesepetriger Backfisch.
"Das solltest du nicht tun."
Unverständig sah er Anton an, doch der andere Mann starrte nur weiterhin aus dem Fenster.
"Aha, hat Herr Freud wieder analysiert, dass es meiner Psyche besser zu Gesicht stünde, wenn ich meine Muse besser in einer mit Holzwurmlarven verseuchten rustikalen Werkstatt erleuchte?"
Den ätzenden Tonfall konnte sich Felix einfach nicht verkneifen, hatte Anton ihn doch schließlich genötigt, in diese Bahn zu steigen, die ihr Untergang sein würde - zumindest aber Unheil über den Tag brächte. Im Zuwenden verdrehte Anton die Augen, scheuchte ihn aber lediglich stumm hinaus. Dass er ihn mit seinen Worten dennoch getroffen hatte, zeigte sich anhand der Zigarette, die für Felix' Geschmack viel zu früh am Tag zwischen Antons Lippen wanderte und kurz darauf einen süßlichen Duft verbreitete. Was auch immer das für eine Marke sein mochte, sie war nicht mit den ihn bekannten vergleichbar.
Folgsam schlurfte Felix dem Bildhauer hinterher in dessen Heiligtum, war gar überrascht, wie sauber und aufgeräumt es war, gemessen an der Tatsache, dass hier die Späne regelmäßig nur so flogen und der Stein geschliffen wurde.
Auch das emsige Treiben hatte Felix so nicht erwartet, doch an einigen Arbeitsstellen waren junge Leute eifrig dabei, Kunst in ihrer schönsten Qualität zu schaffen. Er schätzte, dass keiner von ihnen bereits die Volljährigkeit erreicht hatte. Nachdem Anton sich leicht geräuspert hatte, kehrte schlagartig Ruhe ein, vier Augenpaare richteten sich auf die Neuankömmlinge, Felix stellte sich bei dieser ungewollten Aufmerksamkeit unwillkürlich etwas näher zu Anton. Mit mildem Lächeln bedachte der Bildhauer die Jugendlichen.
"Griaß enk", polterte Anton gut hörbar und wurde mit einem unisonoren "Griaß Gott, Meister Fuchs und Meister Jäger" belohnt.
Streng stampfte Anton mit dem Fuß auf, sodass die Gesellen sich sputeten, die unbedachte Verunglimpflichung des Nachnamens ihres hohen Besuches zu korrigieren. Felix verzieh es den jungen Leuten gern, wenn er sich im Alter auch nur um läppische vier oder fünf Jahre von ihnen unterscheiden mochte, so fühlte er sich bei der Ansprache sogleich, als habe er eine Vorbildstellung inne.
"Vielen Dank für die nette Begrüßung", rang er sich zu einigen Worten durch, war Felix doch kein Mann, der gern vor Publikum sprach. Anton hingegen stand mit in den Hüften gestützten Händen da und lachte fröhlich in die Runde.
"Wie ich euch bereits angekündigt habe, wird Meister Jeger in der kommenden Zeit ein wenig mit uns arbeiten. Wer weiß, eventuell habt ihr ja die Chance, euch mit ihm auszutauschen oder gemeinsam etwas zu erarbeiten."
Ein Raunen ging bei Antons Worten durch die Menge, ein Zittern durchlief Felix. Versprechungen. Versprechungen, die er vermutlich nicht würde einhalten können, brachte er doch nichts zustande, was den Begriff Kunst wert gewesen wäre.
"Habt ihr Fragen?", wollte Anton wissen, was eine rundliche Blondine mit Sommersprossen animierte, eine Zeitung empor zu halten und mit neugierig blitzenden Augen zu Felix zu sehen.
"Ist das wahr, Meister Jeger?"
»Virtuoser Nachwuchskünstler als Enttäuschung des Jahres entlarvt - Felix Jäger prellt Auftraggeber um halbe Millionen«
In Felix zerbrach etwas, ja, es schien, als könne er ein Klirren vernehmen, als etwas in seinem tiefsten Inneren unwiederbringlich zerstört wurde. Mit schockgeweiteten Augen starrte er sich an der Schlagzeile fest, bis er eine vorsichtige Berührung an seiner Schulter wahrnahm. Instinktiv wich er aus, duckte sich unter der Hand hinweg und stolperte einen Schritt zurück. Sein Blick fiel nunmehr auf Anton, dessen Miene Sorge wie Mitleid ausdrückte. Seine Karriere war zerstört, sein Ruf ruiniert. Felix wich weiter zurück, bis sein Rücken gegen die Glastür des Ausgangs stieß, an den er sich haltsuchend klammerte, wehrte mit der freien Hand Anton ab, der auf ihn zu eilen wollte.
"Ich wusste, wir hätten diese Bahn nicht nehmen dürfen", wisperte Felix, wandte sich um und flüchtete aus dem Atelier.