Fort. Immer weiter weg von diesen jungen Menschen, in deren Gesichtern Hoffnung schimmerte. Eine Hoffnung, die Felix nicht erfüllen konnte, ihnen nicht geben konnte, wonach sie so erbittert verlangten, in ihren Blicken und vorgebeugten Körpern. Er hatte es gesehen anhand ihrer stummen Klage, keine Anklage - nein - es waren Schreie um Richtigstellung, dass jemand wie er, einer von ihnen, zu so einer Tat nicht fähig war. Wie gern wäre er in der Lage gewesen, diese Schlagzeile als Lüge, als Rufmord abzutun und diesen vertrauenswürdigen Jungspunden zu versichern, dass er niemals eine solche Grenze übertreten hätte.
Doch wie könnte er? War es doch so, dass Felix bereits seit Wochen keinen Zugriff mehr auf seine Konten besaß, sich seit Beginn seiner Karriere nie ums Geld gekümmert hatte. Dies hatte stets sein Vater übernommen, als Manager hatte es wie selbstverständlich zu dessen Aufgaben gehört, während Felix' Aufgabe darin bestanden hatte, an den Wettbewerben teilzunehmen und wie der ältere Jeger zu sagen pflegte 'seine Kunst für sich sprechen zu lassen'.
Mit stechenden Seiten und brennendem Brustkorb bog Felix um eine Ecke, fand sich unvermittelt an einem beinahe schon idyllisch zu nennenden Fleckchen an der Donau wieder. Der Fluss schlängelte sich träge dahin, vor ihm entlang durch das Stadtviertel, das er nicht wiedererkannte, hier und dort säumten sorgfältig platzierte Bäume die Flaniermeile, begrenzten den Weg der spärlich dahinschlendernden Fußgänger auf doch sehr ansehnliche Weise, hätte man in diesem Moment einen Blick für ästhetisch ansprechende Stadtplanung besessen. Flink lief der deutsche Künstler blindlings weiter den Weg ignoriernd hinab gen Flussufer, holperte über lose Steine, trat sie gar mit einer plötzlich in ihm aufkeimenden Wut beiseite.
Sah es nicht direkt danach aus, so war Felix trotz seiner schlaksigen Figur doch erstaunlich flott, stürmte geradezu dem in seinen Augen reißenden Fluss davon, kannten seine Seelenqualen hier und jetzt keine Grenzen, drohten ihn zu zerreißen und fanden ihr einziges Ventil in der Bewegung, da ihnen die geliebte und bekannte Kompensation geraubt worden war.
Kein Zugang möglich.
So blieb nur diese wortwörtliche Raserei, dass Felix meinte, seine Lungen müssten jeden Augenblick explodieren. Die Luft blieb ihm im Hals stecken, es schnürte ihm die Kehle zu, doch keine Tränen fand ihren Weg aus seinem Augenwinkel, verbat Felix es sich doch, seine Verzweiflung der Öffentlichkeit kundzutun. Seine Wut und seinen Zorn, ja, doch nicht seine Verletzlichkeit, oh nein, er würde sich hüten, allen auf die Nase zu binden, wie sehr es ihn erschüttert, zerrissen, ganz und gar zertrümmert hatte, dass sie ihn verschrien hatten.
Gebremst wurde der verrufene Künstler erst durch einen Fehltritt, als er auf einem tückischen Stein abglitt und der Länge nach hinschlug, sich gerade noch rechtzeitig mit den Händen abfederte, um einen Zusammenprall zwischen Kopf und Boden auf ungemütliche Weise zu verhindern.
"Perfekt", hauchte Felix mit dem Rest seines verbliebenen Atems, schaffte es noch, sich erschöpft den Schweiß von der Stirn zu wischen, bevor er in bereits hysterisch zu nennendes Gekicher ausbrach, sich gar auf dem Rücken liegend den Bauch halten musste.
"Du bist schon ein schräger Vogel, Jeger", sprach Anton und passend erschien sein blasses Gesicht über Felix, der noch immer japsend nicht in der Lage schien, seinem Lachanfall Grenzen zu setzen.
"Wie -?", brachte er nur unverständlich heraus, ließ sich aber von seinem Freund auf die Füße ziehen, als dieser ihm die Hand engegenstreckte.
" … ich dich gefunden habe? War nicht schwer, ich habe dich per App geortet. Unsere Telefone sind synchronisiert, seitdem du am Bahnhof vor mir getürmt bist."
Diese neue Information vertrieb das Glucksen aus Felix' Körper, hinterließ Erstaunen und auch ein bisschen Verärgerung hinsichtlich des Aspektes, dass Anton ihm verschwiegen hatte, ihn neuerdings überall und zu jeder Stunde orten zu können. Er war doch kein Kind!
"War ja auch gut so, bei dir besteht Fluchtgefahr. Dein Name sollte eher Hase lauten, so schnell hast du die Biege gemacht."
"Hmpf", machte Felix, konnte er zu seinem ausgeprägten Fluchtinstinkt doch nichts anderes entgegensetzen, "es war halt alles zu viel."
Anton nickte verständnisvoll, blickte ihn aus treuen wie rebellisch funkelnden Augen an. Skeptisch hob Felix die Brauen, kannte er seinen Freund doch gut genug, um zu wissen, dass er gleich einen von Antons speziellen Sprüchen zu hören bekäme.
"Spuck's schon aus, bevor du dran erstickst", murrte er, in dem Gedanken, die Belehrung des Bildhauers lieber früher denn später über sich ergehen zu lassen. Mit gewichtig erhobenem Zeigefinger setzte der brünette Mann ungewohnt ernst zum Sprechen an.
"Es ist, wie es ist, Jeger", gab er seine Weisheit preis, was Felix dazu brachte ihm gern gegen sein Schienbein treten zu wollen, war diese Offensichtlichkeit doch nun alles andere als hilfreich, "doch wird es das, was du daraus machst."
Anton sah ihn an, als sei dies der bedeutsamste Rat, den jemand in der Geschichte der Menschheit hätte erhalten können. Bedauerlich, dass Felix lediglich mit dösigem Blick dem anderen entgegen sah, sich ziemlich gewiss, dass Anton sich wie alle anderen über ihn lustig machte.
"Ah", sagte Felix nach dem Verstreichen einiger Sekunden, da Anton auf eine irgendwie geartete Reaktion zu warten schien. Diese schien nicht korrekt gewesen zu sein, rollte sein Freund nur entzückend mit den Augen, seufzte tief und pfriemelte eine seiner Zigaretten heraus, um anschließend nuschelnd einen neuen Versuch zu starten.
"Wenn diese Paparazzi-Klatschen deinen bestehenden Ruf zerfetzen, dann schaffe einen neuen. Verflucht, Jeger, du bist Künstler, sei doch mal kreativ!"
"Oh."
Auch nicht sehr viel tiefsinniger, doch immerhin drückte dieser Laut sein Verstehen aus. Nicht unbedingt Zuversicht, wusste Felix doch nicht, wie er sich als Künstler oder seine Kunst neu definieren sollte, doch genau dafür war er doch nach Wien gekommen, oder? Um Neues auszuprobieren, sich zu verändern, auch, wenn Veränderung eines der für ihn erschreckendsten Dinge war, die ihm widerfahren könnten. Anton hingegen schien genau das aus ihm herauskitzeln zu wollen. Ob das eine gute Idee war? Ob er sich darauf einlassen sollte - wollte und überhaupt konnte?
"Nicht wieder alles zerdenken", maßregelte Anton Felix mit erneutem Augenrollen, griff ihn einfach ums Handgelenk - und ja, Felix ruckte übertölpelt aber zu seiner eigenen Überraschung nicht unwillig - und zog ihn mit sich hinauf zurück zu diesem Weg am Fluss entlang.
"Wo willst du denn jetzt hin, Toni? Du musst doch arbeiten."
Doch wieder stieß sein Protest wie so oft auf taube Ohren, erklang doch nur ein warmes Lachen, ein offener, schelmischer Blick folgte über Antons Schulter ihm zugeworfen.
"Erstmal stoßen wir an", bestimmte der Österreicher, keinen Widerspruch duldend.
"So so, auf was denn bitte? Meine erneute Lebenskrise?"
"Nö, auf deine neu gewonnene Freiheit."
Ungläubig glotzte Felix Anton an, bekam als Reaktion ein erneutes Lachen, für das er, so gab er gern zu, jederzeit wieder ein dummes Gesicht ziehen würde.
"Du weißt doch, wie es heißt! Ist der Ruf erst ruiniert …"
Stöhnend schlug Felix dem anderen gegen die Schulter, konnte sich eines Grinsens aber nicht verwehren. Vor einer Kneipe hielten sie inne.
"So und darauf jetzt ein Jegermeister, was sagst du?", fragte Anton.
"Du bist ein Alptraum!" zeterte Felix, drohte gespielt zürnend mit der Faust, was seinen Freund ganz herrlich noch schallender zum Lachen brachte.
"Nein", widersprach Anton mit einem Zwinkern, "ich bin ein Fuchs."
Damit verschwand er in der Schenke und ließ einen bis über beide Ohren grinsenden Felix zurück.