Übermüdet und ausgelaugt stolperte Felix über die Türschwelle hinein in Antons Stadthäuschen, war sich darüber kaum bewusst, wie er es noch geschafft hatte, sich vom harten Sitz der Straßenbahn zu hieven, hinauszuwanken und achtsam keine Fugen zu betreten. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn ihm eine unbedachte Bewegung unterlaufen und sein Fuß auf eine der Rillen gerutscht wäre.
"Nein, nicht auszudenken", murmelte Felix schläfrig, wischte sich die verschwitzten blonden Strähnen aus der Stirn, beschloss jedoch, dass es ihm hier und jetzt gleich war, dass seine Kleidung vor Farbe strotzte und leicht müffelte, eine Dusche vermutlich angebracht war.
Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss, der Schlüssel wurde herumgedreht, das Licht angeschaltet. Der Maler zuckte zusammen, als es schlicht an blieb - wartete, wartete. Doch seinem Körper schien die Kraft zu fehlen, um eine Angstreaktion aufzubauen. Felix war schlicht und ergreifend ... müde.
Daher streifte er lediglich die Schuhe von den Füßen und tappte behäbig zur Couch hinüber. Alles egal, kein Zähneputzen, kein Umziehen, er wollte nur schlafen und ruhen.
"Wo willst du hin, Jeger?", kam es entrüstet von der Treppe.
Verwirrt drehte sich Felix zu Anton herum, runzelte die Stirn über seinen P-
"Ah", machte der Maler wenig geistreich, als ihm dämmerte, dass der Bildhauer von ihm erwarten könnte, von nun an nicht mehr auf dem Sofa zu nächtigen, "du meinst, ich darf -"
"Ja, sicher. Ich wäre sauer, wenn du da pennst. Jetzt mach, dass du in mein Schlafzimmer kommst, rauftragen werde ich dich nämlich nicht."
Es schien, als habe sein Körper doch noch genug Energie, um eine Reaktion zu erzielen, denn die altbekannte Röte schlich sich auf seine Wangen. Doch diesmal war es nicht Beschämung oder gar Verlegenheit, nein es war Freude und Erregung, die Felix das Blut erhitzten.
Anton lachte schallend, als sich der schlaksige Leib des jungen Mannes an ihm vorbei drängte, Felix mit seinen langen Beinen beinahe die Stufen hinauf sprintete und die Kleidung von seinem Körper pellend unter die wohlig kühlen Laken geschlüpft war, noch bevor der Bildhauer hätte ein weiteres Wort sagen können.
Durfte man eigentlich so etwas wie Glück empfinden, wenn man selbst in Therapie war, weil das eigene Leben dank der mehr als bescheidenen Familie Kopf stand und der Mensch, den man liebte an schlechten Tagen nicht einmal einen Löffel halten konnte, um das Frühstücksmüsli zu verspeisen?
War es unrühmlich, hier zu liegen, auf dieser bequemen Matratze, das Gefühl der Nachwehen der nächtlichen Aktivitäten zu genießen, für die er und Anton doch noch die Kraft gefunden hatten, wenn er doch eigentlich längst hätte aufstehen und die lange Liste in seinem Kopf hätte abarbeiten müssen, die all die potentiellen Gefahrenquellen in diesem zwar renovierten aber doch eben alten Haus aufzählte, um sich zu versichern, dass in den vergangenen Stunden keine spontanen Sicherheitslücken aufgetreten waren?
Durfte Felix sich herumdrehen, sein Gesicht an diese leicht gebräunte Schulter drücken, mit den Händen liebkosend den weichen Bauch des Mannes hinaufstreichen, der sich in sein Herz geschlichen hatte und sich sagen, dass es schon okay war? Okay, so, wie es war?
"Guten Morgen, Dornröschen", schnurrte Anton noch ganz verschlafen, strafte somit seine eigenen Worte Lügen, war immerhin Felix bereits seit Stunden wach und genoss das blass hereinfallende Licht des anbrechenden Tages eines langsam zur Neige gehenden Sommers und hing seinen Gedanken nach.
Seine Finger schlossen sich eng um die silberne Plakette, die auf seiner Brust ruhte, nicht mehr kühl, sondern erwärmt durch seine eigene Körpertemperatur, war sie sein Anker und seine Versicherung dessen, dass er sich gut fühlen durfte. Es auch einfach einmal leicht sein konnte in seinem sonst so ereignisreichen Leben.
Zärtlich strichen raue Fingerkuppen seine Wirbelsäule hinauf, hinterließen ein berauschendes Prickeln, das seinen Weg in Felix' Körpermitte fand und ihn leise seufzen ließ. Näher, er kuschelt sich noch näher an Anton. Musste ihn dicht bei sich spüren, seinen einzigartigen Duft riechen, das schon überheblich zufriedene Glucksen hören, welches sich aus dessen Kehle schlich und den Brustkorb erbeben ließ, über den nun der Blondschopf kleine Muster zeichnete.
"Wir sollten langsam aufstehen", riss ihn Antons warme Stimme irgendwann aus der so verführerischen Harmonie der wechselseitigen Zärtlichkeiten, doch auch Felix wusste, dass sie den Tag nicht im Bett zubringen konnten. Widerwillig grummelnd tat er seine Zustimmung kund, bewegte sich jedoch kaum einen Millimeter fort, blieb einfach stur in Antons Armbeuge eingerollt liegen, um weiter ein unsichtbares Meisterwerk auf Brust und Bauch des Bildhauers zu entwerfen.
"Na komm schon, Faulpelz", lachte der ältere Mann , "es ist fast halb zwei, ich habe noch einen Termin und will vorab duschen."
Nun doch hellhörig geworden, stützte sich der Jungkünstler auf einen Ellenbogen, was Anton dazu verführte, die Gunst der Stunde zu nutzen und sich aus dem Bett zu rollen. Seufzend musste Felix mit ansehen, wie der Bildhauer im angrenzenden Bad verschwand.
"Was ist das für ein Termin?", wollte er dann aber doch wissen.
"Nichts Weltbewegendes. Aber ich werde währenddessen nicht erreichbar sein", rief Anton und streckte dann seinen Kopf noch einmal zu ihm ins Schlafzimmer, das Gesicht mit Rasierschaum bedeckt, "meinst du, du kannst dich zwei oder drei Stunden ablenken? Ich rufe dich sofort an, wenn ich wieder erreichbar bin."
Zweifelnd wiegte Felix den Kopf auf seinen Schultern, aber eine Verneinung auszusprechen, Anton gar zu bitten, diesen Termin abzusagen, das wollte er auch nicht, konnte er schließlich nicht verlangen, dass sie von nun an immer im Doppelpack auftreten sollten. Nein, er musste lernen, auch Phasen auszuhalten, in denen er nicht wusste, wie es seinem Partner ging, damit zurechtkommen, wenn er ihn nicht alle fünf Minuten versichernd anrufen konnte, ohne Angst zu haben, er habe einen schlimmen Unfall gehabt oder sich dazu entschlossen, ihn zu verlassen. Wie es sein Vater getan hatte. Oder seine Mutter, seine verfluchte gesamte Familie.
"I - ich - ähm - könnte ja auf den Markt gehen. Und dann kochen. Was hältst du von Lasagne?"
Antons Lächeln war stolz und bestärkend, als er ihm begeistert zunickte, um sich dann zu sputen. Mit einem engen Gefühl in der Brust, ließ sich der Blondschopf rückwärts in die Kissen fallen, griff zur Beruhigung nach dem Anhänger der Halskette.
Als Anton sich verabschiedete, sagte sich Felix immer wieder, dass er diese Zeit ohne ihn durchstünde. Was sollte er sagen? Es wurde zum Spießrutenlauf.
Auf dem Markt war er in Gedanken ständig so zerstreut, dass er immer wieder vergaß, was er hatte einkaufen wollen und schließlich statt Paprika Chilischoten erwischte, keine Bananen sondern Pastinaken kaufte, nur, um dann keuchend in der Bahn zu stehen, betend, dass diese aus unvorhergesehenen Gründen eine Verspätung von vier Minuten haben möge, da er versehentlich eine zu früh erwischt hatte.
Das Kochen selbst lenkte Felix erstaunlich gut ab und er genoss die Handarbeit, das Ausbalancieren der Geschmacksnoten, bis er die perfekte Harmonie erschaffen hatte. In gewisser Weise, war es ein wenig, wie die Erschaffung eines Gemäldes. Dazu dudelte italienische Volksmusik aus seinem Smartphone, denn aus ihm unbegreiflichen Gründen, bekam er das Lied nicht mehr aus dem Kopf, das seine Großmutter immer gesungen hatte, wenn sie für die Familie das Essen bereitet hatte, wenn sie zu ihr nach Vicenza gereist waren.
Doch als Anton sich nicht meldete, wurde der junge Maler unruhig und griff nach den Spülschwämmen. Erst, als dieser sich nach einer gefühlten Ewigkeit per Smartphone meldete, stoppte das Summen in Felix' Kopf und er begann, das fertige Essen erneut aufzuwärmen. Welches wieder einmal größte Zustimmung bei seinem liebsten Menschen fand, denn es blieb kein Krümel auf Antons Teller übrig. Freudig beobachtete der Jungkünstler, wie der dunkelhaarige Mann sich mit einem leisen Ächzen entspannt zurücklehnte und auf den gut gefüllten Bauch klopfte.
"Kompliment an den Chef. Wo hast du nur so kochen gelernt, Jeger?"
Verlegen kratzte sich der hoch Gelobte an der Nasenspitze, lächelte geschmeichelt über die Worte und zuckte die Schultern.
"Ich weiß nicht. Ich habe es mir wohl irgendwie von meiner Nonna abgeschaut."
"Du hast sie nie erwähnt", meinte Anton mit überrascht erhobenen Brauen.
"Ja, keine Ahnung. Ich habe als kleiner Junge schon immer gern bei ihr in der Küche gestanden und ihr geholfen. Komisch, ich habe schon lange nicht mehr an diese Zeiten gedacht. Nach ihrem Tod sind wir nie wieder nach Venetien gefahren."
Ungefragt streckte Anton seine Hände nach Felix aus. Bereitwillig folgte er dieser Geste, stand auf und trat an den anderen Mann heran, streckte ihm die seinen entgegen. Zwar verzog Anton beim Anblick der wund geschrubbten Haut die Mundwinkel, doch verlor er kein Wort darüber.
"Es ist schön, dass du so eine Leidenschaft für eine Tradition hegst, die du mit deiner Nonna geteilt hast. Sie war dir scheinbar sehr wichtig."
Ja, irgendwie hatte Anton da recht. Felix lächelte wehmütig, aber erstaunlicherweise nicht traurig.