"Ein Wolkenkratzer?"
Dafür bekam Felix ein kritisches Stirnrunzeln zur Antwort.
"Ähm. Eine Tanne ohne Nadeln?"
Dieser Vorschlag führte zu einem frustrierten Seufzen.
"Eine Rakete, die dabei ist ins Weltall zu starten. Allerdings ist das Triebwerk abgefallen und nun müssen die Astronauten schleunigst evakuiert werden, bevor -"
"Och, Jeger, das ist doch beknackt!", beschwerte sich Anton und ließ den Kohlestift sichtlich desillusioniert sinken, betrachtete seine Zeichnung auf der Staffelei kritisch, "was soll ich das denn überhaupt ausprobieren? Ich weiß doch schon, dass ich nicht malen kann!"
Entrüstet fasste sich Felix an die Brust, wahrlich schockiert über diese Worte. So weit würde der Blondschopf nun nicht gehen, zu behaupten, Anton habe keine Begabung in dieser Richtung - gut, er hatte bisher nicht erkennen können, was das Gebilde dort darstellen sollte, aber das hieß ja nicht, dass es nicht gut war. Nur ... besonders.
"Aber es wäre eine Alternative zur Bildhauerei", versuchte er, seine Leidenschaft dem anderen schmackhaft zu machen, "die Kunstmalerei birgt weniger Verletzungsgefahr, wenn du das Gefühl in deinen Fingern verlieren solltest."
Offenkundig ohne Erfolg, denn Anton schnaubte lediglich, steckte sich eine seiner zur Neige gehenden Zigaretten an und trat mit schlurfenden Schritten auf seine aktuelle Arbeit zu. Einen wunderschönen Lebensbaum aus Bergkristall, nicht größer, als Felix' Unterarm, aber mit verzwirbelten Ästen und hier und dort hervorblitzenden Blüten. Keine Einschlüsse, nirgends ein Riss erkennbar. Sein Freund musste mit immenser Behutsamkeit vorgegangen sein, um keinen Bruch in dem empfindlichen Material zu riskieren. Sanft strichen die rauen Fingerkuppen über den Kristall, seine dunklen Ponyfransen fielen ihm widerspenstig in die Augen, die verdächtig schimmerten.
Unangenehm zog es in Felix' Eingeweiden, wenn er Anton so betrachtete, ihn in diesem Zustand sah. Wo war er hin, der Lebensmut, der unweigerlich zu dem aufgedrehten Mann gehörte? Das schelmische Grinsen, das seine Lippen in einer Weise verzog, dass jeder, der ihm begegnete nicht anders konnte, als ebenfalls seine Mundwinkel heben zu wollen? Lag es daran, dass Anton sich seit dem letzten Nachmittag gestattete, seine Maske der dauerhaften Fröhlichkeit vor ihm fallen zu lassen? Ließ er es zu, dass Felix auch seine andere Seite sah? Die Seite, die sich ängstigte, um seine Karriere, aber vor allem darum bangte, das zu tun, worum er so lange hatte kämpfen müssen?
"Nein", erkannte Felix und trat an Anton heran, kuschelte sich behutsam an seinen Rücken, fuhr mit seinen Händen dessen starke Arme hinab bis er die so talentierten feingliedrigen Finger mit äußerster Vorsicht umschloss, "es wäre keine Alternative. Aber wir finden eine Lösung. Du hast mir geholfen, wieder einen ersten Schritt auf die Kunst zugehen zu können. Ich helfe dir, damit du deine Träume weiter aus Stein schlagen und aus dem Holz der Wälder schnitzen kannst."
"Immer so pathetisch", moserte Anton, doch Felix hörte die schwache Andeutung eines Schmunzelns in dessen warmer Stimme.
Einen Kuss bekam sein nervtötender Freund in den Nacken gehaucht, dann beschloss der Jungkünstler, dass es Zeit wurde, diesem wieder etwas Freiraum zu schenken.
Vor allem, da er selbst nicht recht wusste, was das zwischen ihnen nun war. Anton hatte sich weder gestern zu der stürmischen Annäherung geäußert, noch seither zu Felix' wiederholten Zärtlichkeiten. Sich die kabellosen Kopfhörer in die Ohren steckend, drehte der blonde Maler den wilden Rhythmus auf.
Ihm war so gar nicht nach ruhig und besinnlich, nein, er brauchte es laut und treibend. Der Block wurde durch eine Leinwand getauscht, der Kohlestift wich Pinsel und Ölfarben, als Felix tief einatmend in die Musik eintauchte und sich gehen ließ.
Die Bässe dröhnten in seinen Ohren, fuhren in seine Glieder, bestimmten seine Bewegungen, Ausführungen. Es ging so leicht und unbeschwert, dass es beinahe traumwandlerische wirkte, wie Felix sich leicht im Klang der Melodie wiegte und die Farben auf der Leinwand zu einer Komposition verschmelzen ließ - einem bahnbrechenden Crescendo, das aus seinen Andern floss, seine tiefsten Gefühle auf diese vormals weiße Fläche bannte und in einem bunten Meer explodieren ließ.
Die Musik verklang, langsam leise. Bis Stille sein Sein ausfüllte. Nunmehr lediglich der schwer aus seinen Lungen strömende Atem alles war, was durch die Kopfhörer gedämpft an seine Ohren drang. Schweißgebadet stand Felix da, eine Leichtigkeit - ein Hoch - verspürend, das einer Euphorie gleichkam, das er seit langer, viel zu langer Zeit nicht mehr verspürt hatte, der er seit vielmehr fast zwei Monaten hinterhergejagt war. Hinunterblickend auf seine Hände und Arme ... seine Kleidung ... überall fanden sich Spuren seiner wilden Kreativität, die sich in diesem Strudel aus Glück und übersprudelnder Energie Ausdruck verliehen hatte.
"Und?", japste Felix erschöpft doch voller Zufriedenheit, als er sich erwartend nach Anton umdrehte, "was sagst du?"
Das überschwängliche Hochgefühl wich schlagartig einer lähmenden Angst. Denn in dem großzügig angelegten Arbeitsbereich war weit und breit kein Anton zu sehen. Wo war sein Freund denn hin verschwunden? Was war passiert? Konnte es sein, dass er nur eben schnell auf die -? Aber wieso hatte Felix denn auch nichts -? War er so sehr in seinem Prozess -?
Wild drehte sich der junge Künstler um seine eigene Achse. Warum nur, warum, hatte er sich dazu hinreißen lassen, sich hier einfach so seiner Muse hinzugeben und wild drauflos zu werken? Was hatte ihn nur geritten, vor den Augen eines Mannes zu schaffen, der darum kämpfte, seiner Leidenschaft weiter nachgehen zu können?! Felix gehörte ins tiefste Loch, weggesperrt! Er war ein grauenvoller Freund, ein schlechter Mensch - er - er - er -
"Oh", machte der Jungkünstler, als ihm ein Zettel auffiel, der an die Tür des Ateliers geklebt worden war. Den hatte er in seiner hektischen Gedankenverkettung gar übersehen. In ungelenk wirkenden Buchstaben stand dort etwas geschrieben.
»Bin einkaufen. Wollte dich nicht in deinem Schaffensprozess stören. Ich bin NICHT in den nächsten Gully gefallen. Busserl, Toni«
Heiser lachte Felix bei diesen Worten auf, denn war es doch nur zu offensichtlich, dass Anton ihn inzwischen viel zu gut kannte. Wenigstens hatte dieser unverschämt nervtötende Mann nicht seine Höllenmaschine nehmen können, denn diese befand sich zu Felix' Beruhigung noch immer in der Reparatur. Etwas weniger nervös machte sich der Blondschopf daran, das Studio aufzuräumen, schielte hin und wieder zur Tür, darauf wartend, dass Anton von seinen Besorgungen zurückkehrte, linste dann zur absonderlich alten Uhr, die hoch über allem schwebend am anderen Ende des großen Raumes hing. Ganz offensichtlich ein Gemeinschaftsprojekt des hiesigen Künstlers und seiner Schützlinge.
Die Zeiger waren erschreckend weit fortgeschritten, oder? Konnte ein Mensch tatsächlich so lange für einen Einkauf benötigen?
"Es gibt sicher Erklärungen dafür", versuchte Felix sich zu überzeugen, doch fielen ihm nur Gründe dafür ein, dass Anton Schreckliches widerfahren war. Unruhig streifte der junge Künstler durch das Studio, räumte noch einmal alle Arbeitsmaterialen zurecht, sortierte von Neuem, begann gar, nach Formen, Farben und Größen zu ordnen. Noch immer kein Anton. Also zückte er doch sein Smartphone, um diesen anzurufen, zuckte ganz fürchterlich zusammen, als sich lediglich die Mailbox meldete. Wiederholte diesen Prozess eines ums andere Mal, spürte die Hitze, die in seine Wangen kroch, das glühende Reißen in seinem Bauch und das Zittern, das sich seiner bemächtigte.
"Was gibt's?", meldete sich vollkommen unerwartet ein keuchender Anton am anderen Ende der Leitung.
"Toni?! Bist du okay?!", schrie Felix hysterisch zurück, den Tränen nahe, nicht sicher, ob es ihm bereits gestattet sein sollte, die Spannung aus seinem Körper weichen zu lassen.
"Wie - ja sicher. Ich komme gerade zur Tür rein. Dreh dich halt um."
Wie gefordert, machte sein Körper, was Anton von ihm verlangte, erblickten Felix' dunkle Augen den unversehrten - nun gut, zumindest nicht weiter in Mitleidenschaft gezogenen Körper seines mit prall gefüllten Tüten bepackten Freundes.
Nun flossen tatsächlich die Tränen aus Felix' heraus, die grausame Angst löste sich schlagartig, was Anton dazu brachte, die Tüten einfach fallen und auf ihn zu treten zu lassen. Eng schlossen sich diese starken Arme um Felix' zitternden Körper. Beruhigend strich Anton ihm über den Rücken, durch die blonden hoffnungslos verworrenen Strähnen, küsste ihn auf den Schopf und murmelte unverständliche Worte.
"Dir ist schon klar, dass ich an der Neuropathie nicht draufgehe?", fragte Anton schließlich behutsam nach, als es Felix endlich gelang, sich etwas zu beruhigen, hielt ihn auf Armlänge von sich fort, um ihm in das verquollene Gesicht zu blicken, ihm mit diesem typischen schiefen Grinsen den Rotz unter der Nase fortwischen und an Felix' Shirt abwischen zu können. Unwillig verzog dieser den Mund.
"Du bist widerlich, Toni", beschwerte sich der junge Maler entkräftet.
"Bist doch eh eingesaut", lachte Anton ihm entgegen, wurde aber schnell wieder ernst, "nun sag, ist dir das klar?"
Mehr als ein zaghaftes Kopfnicken brachte Felix nicht über sich. Ja, eigentlich wusste er das. Doch so recht wollte sein Kopf das nicht glauben - erlaubten seine Gedanken ihm das irgendwie nicht. Und das machte Felix Angst.