Wut war ein Katalysator. So hieß es doch immer in diesen schlauen Ratgebern und Büchern, oder?
Wenn der Druck zu groß wurde, das Leben aus den Fugen geriet, dann schlugen die Wellen der Emotionen hoch. Zu hoch, um das Schiff des Lebens sicher in die sanften Täler zwischen den tosenden Wellen steuern zu können, weil da schlicht kein Tal mehr vorhanden, die See zu aufgewühlt war.
Einige Menschen verfielen in Sicherheit schenkende Mechanismen, begannen verzweifelt Kontrolle zu erlangen, Listen zu erstellen, Systeme zu entwickeln und so den Sturm zu bändigen, in eine Richtung zu lenken.
Und dann gab es Menschen, die sich den Wellen ergaben, mit dem Sturm wüteten, tobten und alles um sich herum in den Strudel hinabzogen.
Felix verfolgte stumm auf der ausgezogenen Couch sitzend, die Beine eng an den Oberkörper gepresst, das Kinn auf den Knien abgestützt, wie Anton wie ein Monsun durch das Haus brauste, nachdem seine Eltern verschwunden waren.
Noch nie hatte er den fröhlichen Gutmenschen in einem derartigen Zustand gesehen. Anton schrie, er riss Teller und Tassen aus den Regalen, warf die wunderschön gearbeiteten Holzmöbel um, scheinbar im Bestreben möglichst viel Krach von sich zu geben. Verfluchte die Welt, den Verkehr und diesen Arzt, der es gewagt hatte, ihn anzuzeigen. Verteufelte den Arzt, der zu feige war, irgendein Rezept zu erneuern und die Ärzte im Krankenhaus, die einen Drogentest durchgeführt hatten, obwohl er ihnen die Sachlage erklärt hatte. Um welche es sich dabei handelte, war nicht aus dem Bildhauer herauszubekommen. Taub war er doch für Felix leise gestellte Fragen, unempfänglich für gut gemeinte Beschwichtigungsversuche in Anbetracht seines geschundenen Körpers.
"Verflucht!", schepperte Antons Stimme laut und so gepeinigt durch das untere Stockwerk, dass Felix nun doch besorgt aufsprang und in die Küche eilte, sah, wie Anton in Scherben sitzend seine Hand umklammerte.
Erschrocken huschte der Blondschopf zu dem schwer keuchenden Bildhauer, hielt Ausschau nach Spuren, die darauf schließen ließen, dass dieser leichtsinnige, wütende Mann dank der Folgen seiner Raserei erneut einen Besuch im Krankenhaus gewonnen hatte. Doch erkennen konnte er nichts.
"Was ist passiert?", fragte er Anton, versuchte in diese herrlich stürmischen Augen zu blicken, die sonst stets frech den Kontakt suchten, nun jedoch den seinen auswichen, "hast du Schmerzen?"
Es erfolgte keine Antwort und so überwand sich Felix wieder einmal, wie es bei Anton sein Standard zu sein schien, griff nach der in Schonhaltung leicht verdrehten Hand seines Freundes.
Perplex fand sich der Jungkünstler nicht mehr in der Hocke sondern auf dem Hosenboden wieder, sich die Brust reibend. Hatte Anton ihn geschubst? War das wirklich passiert?
"To-ni?", brachte Felix ungläubig über seine Lippen, starrte ausdruckslos auf den ebenso erschrockenen Bildhauer.
Das Schütteln des Kopfes dieses gar plötzlich so hilflosen Mannes stach Felix direkt ins Herz. Sich auf die Knie kämpfend, brachte er sich direkt vor seinen Freund, legte ganz sanft seine Finger auf dessen Knie, strich daran hinauf bis zur Taille, schob sich vorsichtig zwischen die langen Beine, saß nun im Kniestand so dicht vor Anton, dass er dessen Atem auf seinem Gesicht spüren konnte.
"Was hast du nur?", flüsterte Felix flehentlich, wünschte sich nichts sehnlicher, als zu verstehen, was den Mann quälte, der sein Alles geworden war, ohne das er es gewollt hatte. Der sich in sein Herz geboxt hatte, trotz seines Widerstandes, nicht ging, wie sehr Felix sich auch von seiner schlechtesten Seite präsentierte.
"Chronisches neuropathisches Schmerzsyndrom", drängten sich die gefürchteten Worte über Antons Lippen, während er sich irgendwo an Felix' Brust fest starrte.
Ein Aufkeuchen entrang sich der Kehle des jungen Malers. Wie war das möglich? Nein, das konnte nicht sein. Nicht bei Antons filigranen Arbeiten und außergewöhnlichen Werken. Sie waren zu detailliert, fein - zu - zu - zu -
"Seit wann?", hauchte Felix betroffen, schielte gar mit geteiltem Schmerz auf die begabten Finger seines Gegenübers, traute sich plötzlich nicht mehr spontan danach zu greifen.
"Schon lange. Seit Monaten, um genau zu sein. Es fing mit plötzlichen brennenden ... Sch-merzen a-an, wenn ich an e-einem Werk ge-arbeitet habe. Irgendwann ... haben meine Finger bei kleinsten Berührungen unglaublich geschmerzt. Dann - dann Kribbeln und - und inzwischen - da werden sie immer wieder ... t-taub."
Was sagte man zu einem Kollegen, der nach und nach seine Fähigkeit verlor, seine Leidenschaft auszuführen? Wie tröstete man einen ehemaligen Rivalen, der einst der stärkste Konkurrent gewesen war, da er sich aufgrund seines bahnbrechenden und nun nach und nach verloren gehenden Talentes behauptete? Auf welche Art und Weise zeigte man einem Freund, dass man ihn verstand und mit ihm litt? Wie dem Mann, den man lie- ... dem Mann, der einem die Welt bedeutete, dass alles wieder gut kommen würde, wenn man doch wusste, dass die Diagnose das war, wovor sie alle sich fürchteten?
"Und was hat das mit diesem positiven Test zu tun?", wollte Felix wissen, sich an den Gedanken klammernd, dass er eine wichtige Sache übersehen hatte.
Es musste einen Grund für Antons Wut gegeben haben. Sicher, keiner wurde gern angezeigt, weil er im Straßenverkehr nicht Acht gegeben hatte, aber das war es nicht gewesen.
"Na wegen dem Cannabis", murmelte Anton seinen Zehen entgegen.
"Wegen des Cannabis", korrigierte Felix automatisch, verzog jedoch die Mundwinkel gen Boden, als er nicht einmal ein entzückendes Augenrollen erlangte, "die Zigaretten - du bist - du hast? Oh, Toni!"
"Was denn?! Das ist medizinisch. Ich habe dafür auch ein Rezept. Es lindert halt die Schmerzen und sorgt dafür, dass ich weiterhin als Bildhauer arbeiten kann."
Schniefend blickte Anton zu ihm auf, das Nebelgrau versank in einem Tränenmeer, zerriss Felix' Herz in kleine Fetzen. Konnte er ihn verurteilen? Nein, denn er hätte es ebenso getan, alles gegeben, alles genommen, um nur weiter malen zu können. Auch jetzt noch würde er so viel dafür tun, um aus seiner Krise zu entkommen.
"Wenn du ein Rezept hast und deine Eltern darüber informiert sind, dann ist doch alles gut, oder nicht?"
"Nein", flüsterte Anton, "Dr. Krause verschreibt mir mehr, als die übliche Dosis, weil meine Schmerzen so stark sind. Weil meine Eltern lieber einen Sohn haben, der weiterhin mit einem zwar zweifelhaften Beruf hoch gelobt in der Kunstspalte der Zeitungen auftaucht, als skandalöse Schlagzeilen zu produzieren, weil fotografiert wurde, wie er sich das Zeug auf der Straße besorgt. Was passieren wird, wenn rauskommt, dass ich berauscht einen Unfall gebaut habe."
Felix' Lippen bildeten ein verstehendes O, als er erkannte, wie weit Antons Abhängigkeit vom Wohlwollen seiner Eltern reichte. Wie tief verankert die soziale Erwünschtheit in der Familie zu sein schien. Anton stand im öffentlichen Leben, präsentierte die Familie Fuchs. Ein Ausrutscher war inakzeptabel. Doch anstatt ihrem Sohn beizustehen, Therapien zu suchen, die ihm helfen könnten, mit seinen Schmerzen umzugehen, sie vielleicht zumindest im Ansatz zu lindern, neue Wege zu erschließen, sollte dessen Karriere beendet werden müssen, hatten sie beschlossen, Anton schlicht mit Drogen - die praktischerweise für den medizinisch Gebrauch per Rezept zu bekommen waren - ruhigzustellen, ihn wieder zum 'Funktionieren' zu bringen. Sie hatten ihren vermeintlich kaputten Sohn auf die schnellst mögliche Weise 'repariert'.
Doch nun drohte dieses Geheimnis ans Licht gezerrt zu werden. Leidtragender in dieser Geschichte aber war dieser gütige, unfassbar selbstlose Mann, der still und stumm litt, während er ihm - Felix - half, wieder zurück zur gemeinsamen Leidenschaft zu finden, die er selbst zu verlieren drohte.
Beherzt griff Felix Antons Kinn, hob es sacht an. Sturmaugen trafen auf dunkles Kaffeebraun. Vielleicht war es kitschig. Vermutlich war es dumm und albern, kindisch und eine Übersprunghandlung, die sie beide am nächsten Morgen bereuen würden. Doch hier und jetzt war Felix das egal. So beugte er sich vor, stutzte kurz und überwand sich dann doch, denn was auch immer er fühlte, es konnte nicht falsch sein, wenn es sich um Anton handelte - um seinen Toni.
Ihre Lippen trafen aufeinander.
Zart, tastend. Unsicher, vermutlich. Voller unausgesprochener Empfindungen, sicherlich.
Und doch - und doch - war es richtig, war es genau das, was Felix schlagartig eine Ruhe schenkte, die er nicht erwartet hatte. Forschend strich er erneut über die kühlen Lippen. Forscher, diesmal. Schmeckte, auskostend.
Das hier war nicht Küssen aus reiner Leidenschaft und schon gar nicht aus brennender Lust. Das hier war Küssen zum Trost, aus Unterstützung und ... aus Liebe.