Ehrfürchtig stand sie vor den Reihen mit Büchern in der Universitätsbibliothek in Utrecht. Der Arzt legte eines von ihnen aufgeschlagen auf einen kleinen Holztisch.
„Wie ich dir gestern erklärt habe, ist die Erde nicht flach wie eine Scheibe. Bereits vor der Geburt Christi waren griechische Gelehrte davon überzeugt, dass sie eine Kugel ist.“ Mit zusammengekniffenen Lippen lauschte sie seinen Worten. Fielen die Menschen auf der anderen Seite dann nicht herunter? Oder war es diese seltsame Anziehung, die in ihrer zweiten Natur beim Lauf durch die Wälder durch ihren Körper floss, überall vorhanden? Die Kraft, die dafür sorgte, dass selbst die leichten Vogelfedern bei Windstille zu Boden fielen.
„Ist es nicht seltsam, dass es in manchen Monaten wärmer ist, als in anderen? Ich glaube, dass es mit der Kugelform zu tun hat. Je nachdem, an welchem Ort man sich befindet, ist es wärmer oder kühler. Komm, versuche mal, diese Textstelle zu lesen.“ Zweifelnd trat sie näher heran. Traute er ihr das nach dieser kurzen Zeit schon zu? Sie drückte den Stein ihrer Kette, atmete tief durch. Vielleicht half ihr die Magie der Mutter weiter. Ihr Blick wanderte zu der Stelle, auf der die Spitze seines Zeigefingers zeigte.
„Im Monat Juli hat die Erwärmung ihr Maximum erreicht; denn vorher und nachher sieht man, dass in den anderen Epochen der Beobachtung und in allen Monaten die Wärme geringer ist. In diesem Monat also gibt die Sonne der Erde eben so viel Wärme, wie ihr die Strahlung entzieht.“
„Richtig. Demnach ist es im Juli bei uns am wärmsten. In anderen Teilen der Welt kann das ganz anders aussehen. Wie du weißt, bin ich früher schon durch die Länder gereist. Im Süden, am Mittelmeer, brennt die Sonne heißer als hier. Ich glaube, das hat mit der Art, wie die Strahlung auftrifft, zu tun.“ Er kratzte sich am Kinn. „Irgendwo habe ich gelesen, dass die Strahlen immer linear, also gerade, sind. Steht die Sonne höher am Himmel, treffen ihre Strahlen direkter auf die Oberfläche. Zumindest stelle ich es mir so vor. Aber was weiß ich schon? Ich bin nur ein Arzt, kein Gelehrter.“
Nachdenklich sah sie zu, wie der Mann das Buch zurückstellte. Seine Erklärung klang logisch. Sie atmete einmal tief durch. Womöglich bedeutete es, dass sie sich in der Neuen Welt nicht nur auf fremde Tiere und Pflanzen einstellen musste, sondern ebenso auf ein anderes Wetter. Sie zog die Nase kraus. Zu schade, dass sie dieses Wissen nicht mit den Schwestern teilen konnte.
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Wo habe ich das Zitat her und wie sah der Text ursprünglich aus?
„Im Monath Juln hat die Erwärmung ihr Maximum erreicht; denn vorher und nachher siehet man, daß in den dren Epochen der Beobachtung und in allen Monathen die Wärme geringer ist. In diesem Monathe also giebt die Sonne der Erde eben so viel Wärme, wie ihr die Strahlung entziehet.“
Physisch-mechanische Untersuchungen über die Wärme
Von Pierre Prévost, David Ludwig Bourguet · 1798