„Rieke, Rieke, wo steckst du schon wieder“, rief Wigald, Riekes Bruder, so laut er konnte. Seine Schwester, die eben im Garten war und Unkraut vom Karottenbeet entfernte, richtete sich mit schmerzendem Rücken auf. Mit dem Handrücken wischte sie sich die verschwitzten Haare aus ihrem vor Anstrengung geröteten Gesicht.
„Was schreist du hier so rum. Komm lieber her und hilf mir“, antwortete sie ihrem Bruder, als dieser nun den Garten betrat, um seiner Schwester die Bitte ihres Vaters mitzuteilen.
„Geh rein, Vater verlangt nach dir“, erwiderte Wigald. „Mach dich vorher aber ein wenig zurecht, wenn Vater sieht, wie dreckig du herumläufst, wird er außer sich sein. Da ist auch noch jemand bei ihm, den er dir vorstellen möchte.“ Wigald grinste verschmitzt, als er an den jungen Mann dachte, den er bei seinem Vater im Kontor gesehen hatte. Irgendetwas war da im Busch, er wusste nur noch nicht, was.
„Warum sollte ich mich herausputzen wie ein Pfau“, sagte Rieke hochnäsig. „Wer mich sehen will und sich nicht ankündigt, muss damit rechnen, dass ich nicht in Samt und Seide gekleidet bin.“
„Du wirst schon sehen, Vater wird erbost sein, wenn du so unter seine Augen trittst“, meinte Wigald großkotzig und streckte seiner Schwester frech die Zunge raus.
„Wirst du das wohl lassen, du frecher Lümmel“, begann Rieke zu lachen und drohte dem Kleinen zur Strafe eine Tracht auf dem Hintern an.
„Machst du ja doch nicht“, erwiderte ihr Bruder, sich dabei vor Lachen den Bauch haltend.
„Wart nur ab, du Frechdachs. Du wirst schon sehen, was du davon hast. Ich werde dich schon noch einfangen und dann kannst du drei Tage nicht auf deinem Hosenboden sitzen“, sagte Rieke noch im Weggehen. Dabei lachte sie über ihren Bruder, der wie immer ein Schelm war und sie liebend gerne foppte. Doch nun sollte sie sich lieber beeilen, dem Wunsch ihres Vaters nachzukommen.
Rieke ging in den Hausflur, wo unter der Stiege ins Obergeschoss immer ein Eimer mit Wasser stand und wusch sie sich Gesicht und Hände. Ihr Kleid glättend trat sie wenig später ins Kontor ihres Vaters ein. Sofort war sie umgeben vom ranzigen Geruch der Wolle, die im Lagerhaus neben dem Kontor aufgestapelt lagerte. Irritiert sah sie sich um. Doch ihr Vater war nicht an seinem gewohnten Platz. So ging sie weiter ins Lager.
Dort entdeckte sie endlich ihren Vater, der ins Gespräch mit einem ihr unbekannten jungen Mann vertieft war. Schüchtern trat sie zu den Männern. Sie wusste, das Familienoberhaupt mochte es gar nicht, wenn er während eines Gespräches mit einem Kunden gestört wurde.
„Vater, Ihr habt nach mir rufen lassen“, sagte Rieke. „Guten Tag, der Herr“, wandte sie sich dann noch höflich grüßend an den Fremden.
„Ach, mein Töchterlein. Endlich!“, erwiderte Wolfhardt ein wenig tadelnd. „Wo warst du so lange und wie siehst du heute wieder aus. Wie eine Bauernmagd. Dass du dich nicht schämst.“
Betreten sah Rieke zu Boden. Dabei schaute sie aus dem Augenwinkel heraus den jungen Gast an, der sie interessiert zu betrachten schien. „Was bildet sich dieser Kerl eigentlich ein, mich wie ein Stück Vieh zu begutachten“, dachte sie empört, als sie die Blicke des Unbekannten bemerkte.
„Ich war im Garten und habe im Möhrenbeet Unkraut gejätet“, erwiderte Rieke ein wenig trotzig.
„Du sollst das doch nicht tun“, tadelte sie Wolfhardt, „das ist Lisbeths Arbeit. Du gehörst zu deiner Mutter. Sticke, nähe und häkle lieber mit ihr an deiner Aussteuer. Dein Verlobungskleid muss außerdem fertig werden. Das ist wichtiger als Gartenarbeit.“ Wolfhardt redete sich in Rage über den Starrsinn seines ältesten Kindes. So sehr er Rieke auch liebte, so hart war er zu ihr. Sie als älteste Tochter eines angesehenen Ratsmitglieds der Stadt Arnstadt hatte sich die Zeit mit der Arbeit einer Herrin zu vertreiben und nicht mit Arbeiten, die nur einer Magd zustanden.
„Lisbeth hat auch so genug Arbeit im Haus. Da kann ich ihr ruhig mal zur Hand gehen“, sagte Rieke trotzig und zog eine Schnute.
„Genug jetzt, keine Widerrede mehr“, wetterte der Vater. „Ich habe dir jemanden vorzustellen. Was soll der junge Herr von so einer widerspenstigen Tochter halten.“ Er drehte sich zu dem Besucher um, der amüsiert auf seinen Gastgeber blickte. „Tochter, darf ich dir deinen Bräutigam vorstellen. Andres van der Aar.“
Rieke rutschte vor Schreck das Herz in tiefer gelegene Regionen. Obwohl sie sonst sehr redegewandt war, wusste sie plötzlich nicht, welche Worte sie wählen sollte, ohne sich in Grund und Boden zu schämen. Sie wusste zwar, ihr Vater würde sie bald verheiraten, doch dass es so schnell sein sollte, überraschte sie sehr.
Höflich knicksend begrüßte sie ihren Bräutigam. Schüchtern tuend sah sie ihn an. Er hatte offen blickende blaue Augen, blonde kinnlange Locken und war sehr edel gekleidet. Anhand seiner Kleidung konnte sie sehen, dass er von adliger Herkunft war.
„Ihr seid also Rieke, die meine Braut werden soll“, erwiderte Andres und schaute die junge Frau interessiert an, worauf Rieke erneut errötete. Sie hasste es, zu erröten. Lieber wollte sie den Instruktionen ihrer Mutter folgen, die ihr oft genug eingebläut hatte, wie sie sich als unverheiratete Jungfer einem Mann gegenüber zu verhalten hatte.
„Andres ist im Auftrag seines Vaters, Leon van der Aar, hier, um Geschäfte zu machen. Die Familie van der Aar ist in den Niederlanden als Wollhändler sehr bekannt“, erklärte ihr Wolfhardt. „Die Reise wollte er sogleich damit verbinden, seine Braut kennenzulernen. Andres Vater und ich sind Geschäftsfreunde und haben bereits vor Jahren beschlossen, durch die Heirat seines einzigen Sohnes und dir unsere Familien zu verbinden.“
Eigentlich sollte Rieke ihren Vater und den ungewollten Bräutigam hassen. Doch der junge Mann sah ganz passabel aus und schien ihr gegenüber nicht abgeneigt zu sein. Er war nicht hässlich, aber auch keine blendende Schönheit. Sein Gesicht war sogar sehr feinzügig mit schmalen Lippen. Nur die Nase war ein wenig zu groß. Sie musste an die Sprüche denken, die ihre Freundinnen immer zum Besten gaben, wenn sie unter sich waren. An der Nase eines Mannes könne man seinen Johannes erkennen. Je größer die Nase, desto größer sein Johannes. Ob das stimmte? Rieke wusste es nicht. So wie es aussah, würde sie es bald erfahren. Vielleicht sollte sie diesbezüglich ihre bereits verheirateten Freundinnen befragen. Diese wussten garantiert besser Bescheid.
„Geh nun hinein und sage deiner Mutter, wir wünschen einen Imbiss. Herr van der Aar wird von der langen Reise bestimmt sehr hungrig sein“, riss sie ihr Vater aus den Tagträumen. „Außerdem soll Else die Kammer oben herrichten. Andres wird hier übernachten.“
„Sehr wohl, Vater“, erwiderte Rieke. Ihrem Bräutigam einen letzten Blick zuwerfend, verschwand sie durch das Kontor. Im Haus suchte sie ihre Mutter. In der Küche wurde sie fündig. Ihre Mutter besprach eben mit Elsa den Wochenplan und rechnete die letzten Ausgaben zusammen.
„Darf ich Euch stören, Mutter“, richtete sie das Wort an die am Tisch sitzende Frau. Augusta schaute von ihrer Zahlenreihe auf und nickte. „Ein Herr van der Aar ist bei Vater im Lagerhaus. Vater wünscht einen Imbiss, soll ich ausrichten“, plapperte Rieke wie ein aufgeregtes Huhn. „Dieser Herr van der Aar soll mein Bräutigam sein“, platzte sie auch noch heraus. Diese Neuigkeit musste sie unbedingt loswerden. „Die Else soll für den Herrn die Kammer oben fertigmachen. Er wird einige Zeit unser Gast sein.“
Augusta wurde blass. Sehr wohl wusste sie, wer dieser Herr van der Aar war. Oft genug hatte sie mit ihrem Gatten darüber gesprochen. Dass dieser Niederländer so schnell hier auftauchen würde, kam auch für sie überraschend. Sollte sie wahrlich schneller als angenommen ihre geliebte Tochter in die Hände eines Ehemannes übergeben und diese mit ihm in die Ferne ziehen lassen? Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als ihr dies bewusst wurde.
„Ich lasse von Else etwas zusammenstellen. Sag bitte deinem Vater, in einer halben Stunde wäre alles bereit“, riss sich Augusta aus ihren Gedanken. „Danach gehe auf deine Stube und kleide dich um. Richte auch dein Haar ordentlich. Du siehst ganz struppig aus.“
Rieke huschte schnell aus der Küche und begab sich zurück ins Lagerhaus. Dort debattierte ihr Vater immer noch mit dem jungen Mann aus den Niederlanden.
Die beiden Männer hatten nicht bemerkt, dass Rieke zurückgekommen war. Eigentlich wollte sie nicht lauschen, doch als sie ihren Namen hörte, wurde sie neugierig. Ganz und gar nicht damenhaft schlich sie sich an und versteckte sich hinter einem Wollballen. Interessiert versuchte sie jedes Wort zu verstehen. Was sie wohl so wichtiges zu besprechen hatten?
„Meine Tochter kann lesen, schreiben, auch rechnen. Außerdem wurde sie in der Hauswirtschaft und in Latein unterrichtet. Sie weiß sich zu benehmen und wird Euch garantiert eine gute Gattin sein“, pries Wolfhardt ihre angeblichen Vorzüge an wie ein Pferdehändler ein Ross, das er verkaufen wollte. Rieke war entsetzt über das Vorgehen ihres Vaters.
„Werter Herr Wollhaupt, die Tugenden Eurer Tochter sind mir weitestgehend egal, solang sie noch Jungfrau ist, wenn sie mit mir die Ehe eingeht. Ich lege nur Wert darauf, dass sie mir Erben schenkt und gehorsam ist“, erwiderte Andres ohne jegliches Gefühl in der Stimme. „Ich hoffe, sie ist fruchtbar und gebärfähig, macht mir nicht allzu viel Sorgen und wirft mein hart verdientes Geld nicht sinnlos zum Fenster hinaus. Ansonsten muss sie nur präsentieren können.“
Riekes Entsetzen steigerte sich noch mehr. Solch einen ungehobelten Klotz sollte sie zum Manne nehmen. Jemand, der ihren Gefühlen keinen Respekt zollte, den wollte sie nicht als Gatten, nein, niemals würde sie seine Frau werden. Eher würde die Hölle zufrieren. Hatte sie sich in Andres nur geirrt und hinter seiner schönen Fassade steckte ein Scheusal?
Nach einer Weile der Starre raffte sich Rieke auf. Mit erhobenem Kopf trat sie aus ihrem Versteck und ging zu den beiden sich unterhaltenen Männern, die die heimliche Lauscherin nicht einmal bemerkt hatten.
„Mutter lässt Euch ausrichten, es wäre sogleich alles bereit für einen Imbiss“, teilte sie ihrem Vater mit. Andres würdigte sie keines Blickes.
„Danke mein Kind und nun geh auf deine Kammer und ziehe dein bestes Kleid an“, erwiderte Wolfhardt. Rieke ließ sich das nicht zweimal sagen und verschwand mit wehenden Röcken so schnell sie konnte.
„Was hat sie denn?“, hörte sie ihn ihren Vater noch fragen, als sie die Tür zum Kontor hinter sich schloss.