„Ich muss mich zusammenreißen. Es muss sein“, dachte Rieke und wandte sich energisch ab. Auch wenn ihr das Herz schmerzte, musste sie ihr Elternhaus verlassen, in dem ihr Bräutigam auf die Hochzeit mit ihr wartete. Außerdem musste Konrad gewarnt werden. Sie könnte es sich nie verzeihen, wenn ihm etwas zustoßen sollte.
Der Mann hatte sie verzaubert mit seinem Lächeln, das er ihr schenkte. Andres, ihr Bräutigam hatte sie noch nie so verliebt angeschaut wie Konrad. Dafür hatte er sie auf übelste Art und Weise beschämt. Für ihn war sie nur ein Weib, das ihm zu gehorchen hatte und ihm Erben gebären sollte. Mit diesem Mann konnte und wollte sie nie und nimmer ihr Leben verbringen. Da war der Heilkundige von ganz anderer Natur.
Eiligen Schrittes ging Rieke weiter und verbot sich, weiterhin an ihre Eltern und Geschwister zu denken. Auch wenn es heute das letzte Mal gewesen sein sollte, dass sie die geliebten Menschen sah, in ihrem Herzen würden sie weiter bleiben.
Die Straßen und Gassen der Stadt waren dunkel und verwinkelt. Hinter jeder Ecke konnte Gefahr lauern, der Rieke auf ihrem Weg zu Konrad ohne Schutz ausgeliefert sein würde. Doch das Risiko nahm sie gerne auf sich, bereits zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit.
Endlich näherte sich die junge Frau dem „Bären“, in dem Konrad und die Gauklertruppe Quartier bezogen hatte. Sie schaute sich um, ob jemand in der Nähe war und schlüpfte durch die Tür ins Innere. Qualm und Gestank nach kaltem, verdorbenem Braten schlug ihr entgegen. Rieke schaute sich um. Doch unter den anwesenden Gästen konnte sie ihren Galan nicht entdecken.
Schüchtern trat sie an den Tresen, hinter dem ein Mann stand, der Bier in Krüge abzapfte. Seine Kleidung sah nicht danach aus, als hätte sie in der letzten Zeit Wasser und Seife gesehen. Auch der Mann selbst sah dreckig aus. Sein Haar klebte ihm verschwitzt am Kopf, der Schweiß lief regelrecht in Strömen seinen Hals herunter und nässte das schmierige Hemd, das er trug.
„Na meine Schöne“, sagte der Kerl zu Rieke. Dabei entblößte er eine Reihe schwarz verfärbter Zähne. „Was willst du?“, fragte er sie.
Rieke nahm ihren ganzen Mut zusammen. „Ich möchte zu Konrad Klausner“, erwiderte sie.
„Du meinst den Heiler?“, wollte der Wirt wissen.
„Genau, den meine ich“, sagte Rieke. „Wo ist er? Ich muss ihn dringend sprechen.“
„Wenn du es ganz nötig hast, kannst du auch zu mir kommen“, meinte der Wirt grinsend und machte eine obszöne Bewegung mit den Hüften.
Rieke erkannte, was er meinte. Sie wurde rot. „Das will ich nicht!“, erwiderte sie barsch. „Ich will nur zu Konrad Klausner. Es ist wirklich dringend!“
„Na dann eben nicht“, tat der Mann etwas beleidigt. „Sigurd, weißt du, wo der Klausner ist?“, fragte er eine Schankmagd, die eben mit ein paar leeren Krügen zum Tresen kam und sie krachend darauf abstellte.
„Wer will das wissen?“, fragte sie, genauso barsch wie der Mann hinter dem Schanktisch.
„Ich, es ist dringend, bitte sagt mir, wo der Klausner ist“, widerholte Rieke und schaute zu der Magd, die auch nicht viel sauberer war als der Wirt.
„Na dann komm mal mit“, sagte die Magd und ging zur Treppe, die nach oben führte. Sie stieg hinauf und rief Rieke zu, sie solle ihr endlich folgen.
Rieke folgte der Schankmagd endlich die Treppe hinauf. Die obszönen Sprüche, die einige der Gäste hinter ihr herriefen, ließen sie noch mehr erröten. In welche Spelunke war sie nur geraten. Hurenmädchen gehörten hierher, aber keine ehrbare Bürgertochter wie sie eine war.
„Hier ist seine Kammer“, sagte Sigurd zu ihr und zeigte auf eine Tür am Ende des Flurs. Dabei hielt sie die Hand offen in. Rieke nahm an, sie wolle ein Trinkgeld und kramte ein Geldstück aus ihrem Beutel.
„Hier, für dich“, sagte sie zu dem Mädchen und legte ihr das Geldstück in die Hand. Die schaute und knickste artig. „Vielen Dank“, sagte sie nur und verschwand wieder nach unten.
Unschlüssig stand Rieke vor der Tür. Sollte sie hinein gehen oder nicht. Das Gespräch beim Abendmahl fiel ihr wieder ein. Sie musste nun, ob sie wollte oder nicht. Sie legte ein Ohr an die Tür und horchte. Leise Geräusche waren zu hören. Sie hörte einen Mann stöhnen, dann eine Frau kreischen. Was war da los? Brauchte jemand Hilfe?
Rieke riss die Tür auf und stürmte in die Kammer. Eine einzelne Kerze spendete karges Licht, doch das reichte aus, um die Szene zu beleuchten. Auf dem Bett lag Konrad, nackt wie Gott ihn schuf. Auf ihm saß eine ebenso nackte Frau und ritt ihn.
Erschrocken prallte das Mädchen zurück. Sah sie richtig? Konnte das wahr sein? Konrad bei einem Stelldichein mit einer Frau und in einer sehr prekären Lage.
Erschrocken kreischte die Frau auf und versuchte ihre Blöße zu bedecken. Nur Konrad blieb ganz gelassen. Er stützte sich auf einen Arm und blickte Rieke interessiert an. Dass er ohne einen Fetzen am Leib war, schien ihn nicht zu interessieren.
„Sei endlich still“, herrschte er die Frau an, die inzwischen am Bettrand saß und sich ein Laken an die Brust drückte. Die Frau verstummte sofort.
„Rieke, Ihr hier?“, sagte Konrad ganz gelassen. „Hattet Ihr Sehnsucht nach mir? Oder vielleicht nach meinem besten Stück?“ Dabei grinste er überheblich.
Das Mädchen wurde erneut rot. Solch eine Unmöglichkeit hatte sie noch nie erlebt.
„Ihr, Ihr, was tut Ihr hier?“, stotterte sie erschrocken und versuchte krampfhaft, den nackten Mann nicht anzustarren. Es war nicht so, dass sie noch nie einen nackten Mann gesehen hatte. Immerhin hatte sie ihrer Mutter bereits beim Baden ihrer jüngeren Brüder geholfen und wusste, wie das Gegenstück zu ihrer Weiblichkeit aussah. Doch einen erwachsenen Mann zu sehen, war etwas ganz anderes als einen kleinen Buben.
„Na was wohl?“, fragte Konrad. Noch immer ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen. „Komm her“, lockte er Rieke. „Wir können gleich dort weitermachen, wo ich mit ihr aufgehört habe. Es wird dir garantiert viel Spaß machen.“
„Ihr wollt? Mit mir?“, Rieke war baff. „Und das, bevor Ihr mit ihr?“, sie zeigte auf das andere Mädchen, das eben dabei war, sich anzukleiden.
„Natürlich“, erwiderte Konrad. „Du wirst doch wohl nicht denken, eine Frau reicht für mich?“
„Aber, aber…“, wieder stotterte Rieke. „Das geht doch nicht. Und außerdem bin ich noch unberührt. Man darf doch erst, wenn man verheiratet ist. Ansonsten ist es Sünde.“
Konrad lachte laut auf. „Eine Jungfer, dachte ich es mir doch! Annelie… hast du so was schon gehört?“
Auch Annelie begann zu lachen.
„Aber, aber, ich dachte, Ihr liebt mich? Wie könnt Ihr dann mit einer anderen Frau?“, Rieke konnte es immer noch nicht begreifen.
„Ach Mädchen“, meinte Konrad darauf. Er stand auf und ging auf Rieke zu. Dabei bedeckte er seine Blöße immer noch nicht. „Denk doch nicht so etwas. Das habe ich nie behauptet. Und außerdem, was machst du eigentlich hier? Du solltest zu Hause sein und nicht hier.“
Rieke wusste gar nicht, wo sie hinschauen sollte. Der nackte Mann vor ihr zog sie irgendwie an, andererseits stieß es sie auch ab, Konrad in diesem Zustand zu sehen.
„Ihr liebt mich nicht?“, fragte sie nach.
„Nein!“
„Aber Ihr habt doch…“, stotterte Rieke weiter.
„Ich habe nie behauptet, dass ich dich liebe“, erwiderte Konrad.
Rieke schossen die Tränen in die Augen. Dabei hatte sie gedacht, der Mann liebe sie genauso, wie sie ihn. Sie verstand die Welt nicht mehr.
„Am besten, du gehst jetzt“, sagte Konrad und schob das Mädchen zur Tür. Sie machte jedoch keine Anstalten, zu gehen. „Geh jetzt“, sagte Konrad noch einmal und öffnete die Tür. Er schob Rieke hinaus und kehrte in seine Kammer zurück.
Wie erstarrt stand das Mädchen davor und wusste nicht, was es tun sollte. Am liebsten würde sie laut schreien. „Konrad“, rief sie und hämmerte gegen das Türblatt. „Das meint Ihr doch nicht so!“
„Vergiss es!“, antwortete er, nachdem er nochmals aus der Stube gekommen war. Wütend schrie er Rieke an und befahl ihr, endlich zu verschwinden.
„Konrad!“, versuchte es Rieke immer wieder. Sie sah es nicht ein. Sollte er sie wirklich derart belogen haben? Sie und ihren Vater?
Statt ihr zu antworten, drehte sich Konrad um und kehrte in seine Kammer zurück. Er schlug die Tür hinter sich zu und ließ Rieke einfach stehen.
Aufschluchzend sank das Mädchen auf dem Gang zu Boden. Tränen strömten aus ihren Augen, Rotz lief aus der Nase.
„Komm, geh nach Hause“, hörte sie plötzlich die Schankmagd neben sich. Sie blickte auf und sah der jungen Frau ins Gesicht. Sie schien Mitleid mit ihr zu haben. „Ich bringe dich runter“, sagte sie zu ihr.
Rieke erkannte, es hat keinen Zweck, weiter auf Konrad einzureden. Er würde sie nie lieben. Sie erhob sich wie eine alte Frau und folgte der Sigurd hinunter, die sie durch die Gaststube zum Ausgang führte. Derart verzweifelt, wie sie war, spürte sie nicht einmal die lüsternen Blicke der anwesenden Männer, die sie anstarrten und sie mit ihren Augen auszuziehen schienen.
Vor der Tür sank Rieke erneut zu Boden. Sie weinte noch mehr, konnte sich gar nicht mehr beruhigen. Was sollte nun weiter werden? Durfte sie sich wieder zu Hause blicken lassen? Konnte sie ihrem Bräutigam je wieder in die Augen sehen? Noch schlimmer war die Unsicherheit, wie ihr Vater reagieren würde, wenn er vom Grund ihres nächtlichen Ausfluges erfahren sollte.
Am allerschlimmsten aber war, dass Konrad sie so skrupellos belogen und betrogen hatte. Doch eines war nun sicher, er soll dafür büßen, seine gerechte Strafe bekommen. Ihr war es nur recht, dass sie in der Aufregung vergessen hatte, diesen Windhund vor seiner geplanten Verhaftung zu warnen.