Rieke sprang am nächsten Morgen viel zeitiger aus ihrem Bett als an anderen Tagen. Sie hatte sich vorgenommen, noch vor dem Morgenmahl mit ihrem Vater über Konrad Klausner zu sprechen. Das Mädchen wusch sich das Gesicht und machte sich zurecht. Gislind, die wie immer viel eher auf den Beinen war, half ihr, das Haar zu flechten und hochzustecken.
Als Rieke wenig später die Stiege nach unten ging, war in der Küche des Hauses längst Trubel. Sie hörte Else dort rumoren, die bereits das Essen vorbereitete. Das Mädchen nahm den Duft von kross gebratenem Speck wahr, den ihr Vater so gerne aß.
„Guten Morgen, Else“, grüßte Rieke die alte Magd, als sie in die Küche kam. „Ist mein Vater schon aufgestanden?“, wollte sie noch wissen.
„Ach, Fräulein Rieke, guten Morgen. Ihr seid ja schon auf“, grüßte Else zurück. „Euer Vater ist bereits im Kontor“, beantwortete sie Riekes Frage, „Herr Wolfhardt war heute sehr zeitig auf den Beinen. Er konnte bestimmt nicht mehr schlafen. Ist ja auch kein Wunder bei Vollmond.“
„Danke schön, Else“, erwiderte Rieke und hielt ihre Nase über den Ofen, auf dem der Speck in einer Pfanne brutzelte. „Hm, lecker“, sagte sie und wollte heimlich ein Stück mopsen, doch Else sah es und drohte ihr lachend mit erhobenem Finger. „Ich bin ja schon weg“, meinte Rieke, ebenfalls lachend und trollte sich aus Elses Reich, um ihren Vater im Kontor aufzusuchen. Sie fand ihn an seinem Schreibpult stehend, wo er die Summen der letzten Verkäufe auflistete und zusammenzählte.
„Vater, darf ich Euch stören“, fragte das Mädchen, als sie den Hausherrn bereits an der Arbeit sah. Auf seinem Pult stand eine Kerze, die den Raum nur wenig erhellte. Wolfhardt hatte Mühe, die Zahlen in seinem Buch richtig erkennen.
„Komm rein, meine Kleine“, erwiderte Wolfhardt, der von seinem Buch aufblickte und nun seine Tochter an der Tür stehen sah. „Was führt dich um diese Zeit zu mir und warum schläfst du nicht mehr. Es ist doch noch dunkel draußen“, fragte er noch und kontrollierte nochmals die Liste seiner Aufzeichnungen.
„Wir Ihr wisst, besuchte ich gestern Abend noch meinen Bräutigam an seinem Krankenbett“, begann Rieke gleich ohne große Umwege, ihr Anliegen vorzutragen. „Wir sprachen auch über seine Erkrankung. Dabei erzählte ich ihm, dass ich eventuell Hilfe für ihn hätte.“
Wolfhardt hörte gespannt zu. Er wusste, da er im Stadtrat tätig war, dass gegen diese heimtückische Seuche, die derzeit in Arnstadt ihr Unwesen trieb, noch kein Heilmittel gefunden wurde. „Komm auf den Punkt“, drängte der Vater.
„Ich begegnete gestern auf dem Weg zu meiner Freundin Margarethe einem Mann, einem Heilkundigen, der ein Arzneimittel gegen das Fieber hat“, Rieke plapperte so schnell, dass Wolfhardt ihr kaum folgen konnte. Sie war aufgeregt. Keinesfalls wollte sie ihren Vater argwöhnisch machen, ihm beichten müssen, dass ihr dieser Mann heimlich gefolgt war, um zu erfahren, in welchem Haus die Jungfer zu Hause war.
„Du meinst, was unser Stadtmedikus Doktor Melchior bisher nicht vollbracht hat, könnte dieser Fremdling vollbringen“, erkannte Riekes Vater richtig.
„Genau, Vater, Ihr habt richtig verstanden. Doch ob es ihm wirklich gelingt, das Fieber auszumerzen, kann nur Gott sagen. Ein Versuch wäre es wert, die Künste dieses Heilers zu erproben. Mein Bräutigam ist bereits einverstanden, dass er ihn untersucht und behandelt. Nun benötige ich noch Eure Zustimmung, damit ich ihn rufen lassen kann“, sprach das Mädchen weiter.
Wolfhardt überlegte nochmals. Sollte er, als Mitglied des Stadtrates von Arnstadt den Medikus einfach übergehen und jemand anderen als diesen, zur Heilung seines Schwiegersohnes heranziehen. Er wusste, Doktor Melchior hätte auch ohne seinen Eidam genug zu tun. Kranke und Dahinsiechende, die seine Hilfe benötigten, gab es in der Stadt genug. Dass von ihm meist nur gut betuchte Patienten behandelt wurden, ließ er erst einmal außen vor. Immerhin zählte seine Familie auch zu den gut Zahlenden. Um die weniger bemittelten Einwohner kümmerte sich der Bader und um die ganz Armen der Henker und dessen Gattin.
„Hat dieser Fremde dir auch gesagt, ob und wo er Heilkunde studiert hat?“, wollte Wolfhardt noch wissen.
„Das hat er nicht. Er versicherte mir aber, dass er kundig wäre und bereits viele Menschen von diesem heimtückischen Fieber geheilt hätte“, erwiderte Rieke. „Ein Problem wäre dann aber noch. Er hat in der Stadt keine Zulassung zum Behandeln von Kranken“, rückte sie noch mit einem weiteren Detail heraus.
„Du weißt, ich kann so etwas nicht allein entscheiden.“
„Das weiß ich, Vater. Könnt Ihr nicht einmal eine Ausnahme machen? Bedenkt doch, es geht um Euren Eidam, der hier krank darniederliegt und mit dem Tode ringt“, bauschte das Mädchen die Situation noch ein wenig auf. „Ich wäre todtraurig, wenn Andres die Krankheit nicht überstehen würde. Und außerdem, eine zweite Meinung einzuholen, ist doch nicht verboten.“
„Mein liebes Kind, du redest wie ein Wasserfall“, meinte Wolfhardt lachend. Er kannte seine Tochter nur zu gut. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ sie so lange nicht locker, bis sie es erreicht hatte. Das tat sie meistens, indem sie redete und redete und kein Ende fand, bis ihr Gegenüber genervt kleinbeigab. Doch ihr Anliegen heute war etwas anders als sonst und er, obwohl er als Stadtrat die größte Stimmgewalt hatte, solch eine Zusage nicht einfach nach Gutdünken aussprechen konnte. Es war nicht die Frage nach Erlaubnis eines Marktbesuches oder dem Kauf eines Stück Stoffes, hier ging es um sehr viel mehr. Der Hausherr überlegte noch einige Zeit.
Währenddessen lief Rieke aufgeregt im Kontor auf und ab. Was wäre, wenn ihr Vater ihrer Bitte nicht stattgeben würde. Könnte sie dann Konrad wiedersehen, ohne dass es auffallen würde? Wie sollte sie es bewerkstelligen, ihn heimlich zu sehen? Ihrem Herzen versetzte es einen Stich. Sie erinnerte sich an Gislinds Worte. Ja, sie hatte sich in den Fremden verliebt und würde nun alles daransetzen, ihn wiederzusehen. Nur zugeben durfte sie es keinesfalls. Immerhin war sie Andres versprochen.
„Also gut“, sagte Wolfhardt auf einmal so laut, dass Rieke erschrocken stehenblieb. „Du darfst diesen fremden Heiler ins Haus rufen. Sehen wir mal, zu was er fähig ist.“
„Oh Vater, vielen Dank!“, jauchzte Rieke auf und fiel ihrem Vater um den Hals. Überschwänglich küsste sie ihn auf die Wangen, dass Wolfhardt sie lachend abwehren musste.
„Sei aber gewiss. Wenn er zu nichts taugt und seine Behandlung nicht anschlägt, wird ihn mein Zorn auf ewig verfolgen“, sagte der Hausherr. „Du weißt, meine Finger reichen sehr weit. Egal, wo er sich verstecken wird, ich werde ihn finden.“ Wolfhardts Worte klangen wie eine Drohung, doch Rieke lachte nur. „Und falls dein Bräutigam nicht überleben sollte, wird er hängen.“
„Vater, seid gewiss. Eure Entscheidung ist genau richtig. Konrad Klausner wird sein Bestes geben, um Euch von seinen Kenntnissen zu überzeugen“, erwiderte Rieke aufgeregt. Ihre Wangen färbten sich rot. „Wenn es Euch recht ist, schicke ich gleich nach dem Frühstück Friedbert zu Meister Klausners Unterkunft.“
„Seinen Namen weißt du auch schon“, frotzelte der Wollhändler. „Aber Scherz beiseite. Mach, was du für richtig hältst“, sagte er dann nur noch und wandte sich wieder seiner Arbeit zu. „Und nun troll dich bitte, ich habe bis zum Morgenmahl noch ein wenig zu tun.“ Als das zu Rieke sagte, war er mit seinen Gedanken bereits wieder bei seiner Arbeit.
„Ich bin schon weg“, erwiderte die Tochter und verließ das Kontor. Aufgeregt lief sie die Stiege hoch und in Andres Kammer. Sie musste ihrem Bräutigam unbedingt die Entscheidung ihres Vaters mitteilen.
„Guten Morgen, lieber Bräutigam“, rief sie erfreut, als sie dessen Kammer betrat. „Ich habe gute Nachrichten. Mein Vater erlaubt den Besuch des Heilers. Gleich nach dem Morgenmahl werde ich nach ihm schicken.“
Andres, dessen Fieber über Nacht erneut angestiegen war, sah ihr mit glasigen Augen entgegen. Er nahm zwar wahr, dass seine Braut in sein Zimmer gekommen war, aber sein Geist war zu umnebelt, um die Worte, die sie zu ihm sprach, zu verstehen.
„Was meint Ihr“, keuchte er und versuchte, sich aufzurichten. Er zitterte am ganzen Körper, als würde er frieren, doch auf seiner Stirn standen Schweißperlen und sein Hemd war durchnässt. Sein Gesicht war gerötet, als würde er schwitzen, sein Atem ging schwer.
Als Rieke sah, wie er glühte, eilte sie an seine Seite und befühlte seine Stirn. Sie erkannte, dass das Fieber erneut gestiegen war und Anlass zur Sorge bestand.
„Ihr glüht ja wie ein Ofen“, stieß sie erschrocken aus. „Ich gehe und hole kaltes Wasser sowie frische Laken.“
Rieke rannte die Treppe hinab zur Küche. „Else“, rief sie. „Schnell, kaltes Wasser und frische Laken für den jungen Herrn. Das Fieber ist erneut gestiegen. Wir müssen etwas tun, sonst wird er nicht überleben.“
In der Küche brach Hektik aus. Gislind, die ihrer Mutter inzwischen zur Hand ging, rannte hinaus zum Brunnen.
Während Else neue Laken heraussuchte und Gislind frisches Wasser aus dem Brunnen holte, rannte Rieke wieder die Stiege hinauf. In Andres Kammer angekommen, öffnete sie erst einmal das Fenster, um frische, kühle Morgenluft hereinzulassen, damit der Patient besser atmen konnte. Dann setzte sie sich an sein Bett und griff nach seiner Hand. Da bemerkte sie, dass der junge Mann nicht mehr reagierte. Sie sprach ihn an, doch er zeigte keine Reaktion. Erst jetzt erkannte sie, dass er besinnungslos war und sie nicht hören konnte.
Endlich kam Else mit den Tüchern, Gislind im Schlepptau, die den Eimer mit Wasser und eine Schüssel bei sich trug. Auch Else erkannte den Ernst der Lage.
„Zieht ihm das Hemd aus, schnell. Und die Decke weg“, bestimmte sie, worauf Rieke schamhaft errötete. „Jetzt ist keine Zeit für Scham“, schimpfte sie mit Rieke. „Wir müssen handeln.“
Während die Frauen sich geschäftig um den jungen Herrn kümmerten, wurde Augusta, die Hausherrin, im Nebenzimmer wach. Verschlafen kam sie im Nachthemd herüber, um den Grund des Trubels zu erfahren. Als sie sah, dass ihr Schwiegersohn in Spe wie tot auf dem Bett lag, brach sie in Tränen aus. Ihr lautes Jammern trieb nun auch noch Wolfhardt aus seinem Kontor und ebenfalls in Andres Kammer.
„Vater, ich fürchte, mein Bräutigam könnte noch vor unserer Vermählung sterben!“, jammerte nun auch Rieke theaterreif und raufte sich die Haare.
„Gislind, schnell, laufe zu deinem Vater, er soll den Klausner rufen. Soll er eilen“, befahl der Wollhändler der jungen Magd, die ihrer Mutter half, den Kranken zu versorgen.
„Wo findet mein Vater diesen Klausner?“, fragte Gislind.
Anstatt ihres Vaters, antwortete nun Rieke: „Im „Bären“, er soll sofort herkommen, es geht um Leben und Tod.“
Gislind drehte sich auf dem Absatz um und rannte zu ihrem Vater, der sich sogleich auf den Weg zum „Bären“ machte.