Ungeduldig ging Rieke in Andres Kammer auf und ab. Immer wieder blieb sie stehen und spähte zum Fenster hinaus. Doch unten in der Gasse war immer noch niemand zu sehen. Am liebsten wäre sie Friedbert und Konrad entgegengelaufen, so sehr sehnte sie sich nach einem Wiedersehen mit dem jungen Mann.
„Wo bleiben die nur“, sagte sie aufgeregt zu Else, die neben Andres am Bett stand und die Wadenwickel wechselte.
„Friedbert wird bestimmt gleich mit dem jungen Herrn hier sein“, versuchte Else das Mädchen zu beruhigen. „Er musste ihn vielleicht sogar erst noch wecken. Bedenkt, es ist noch früher Morgen.“
„Du hast gut reden“, fuhr Rieke die Köchin an. „Das Fieber steigt und steigt und wir können nichts dagegen tun. Andres wird vielleicht sterben.“
Else ging zu Rieke, nahm sie in ihre Arme und drückte sie zärtlich an sich. „Liebes, so einfach stirbt es sich nicht“, sprach sie plötzlich ganz mütterlich zu ihr. „Wenn Gott will, dass Euer Bräutigam die schlimme Zeit überlebt, dann wird er überleben. Vertraut auf Gott.“
„Ach Gott… Für was ist der gut, wenn er den Menschen nur Qualen zufügt“, schluchzte Rieke. Die wahren Gefühle, die sie für ihren Bräutigam hegte, zeigte sie niemanden. Als treusorgende Braut musste sie sich nach außen hin so geben, als wäre sie todunglücklich über seine Erkrankung. Dass sein Tod sie vor einer verhassten Ehe retten würde, durfte niemand erfahren. Auch Else nicht, obwohl sie der alten Frau mehr vertraute, als ihrer Mutter, die genau wie ihr Vater mehr auf eine gute Verbindung mit einer reichen Familie achtete, als auf die Liebe. Sie konnte nicht davon ausgehen, dass Rieke ihren Ehemann jemals so lieben würde, wie sie den ihrigen. Nicht nach dem, was Rieke im Lagerhaus mit anhören musste.
Endlich hörte sie von unten, wie die Haustür geöffnet wurde. Gleich darauf Stimmen im Flur. Ihr Vater polterte die Treppe hoch, Konrad im Schlepptau.
„Endlich seid Ihr da“, keuchte der Wollhändler, als er zur Tür hereinkam und dem Heilkundigen seinen Patienten vorstellte. „Hier ist er, mein Schwiegersohn fiebert immer noch. Die Temperatur scheint sogar gestiegen zu sein, obwohl Else ihr Bestes gegeben hat, sie zu senken.“ Wolfhardt war ganz aufgeregt.
Konrad kam ans Bett, um sich den Kranken anzuschauen. Dabei entdeckte er Rieke, die am Fenster stand und ihn wie erstarrt anschaute. Sein Herz machte einen freudigen Hüpfer. Doch er durfte sich die Freude nicht anmerken lassen.
Auch Rieke war erfreut, Konrad zu sehen. Sie hoffte, ihn nach der Behandlung kurz sprechen zu können, auch wenn dies nur eine einzige Minute möglich war. Unbedingt musste sie ihn wiedersehen, komme was wolle.
Der Heilkundige riss sich aus seinem Tagtraum und wandte sich erneut dem Patienten zu. Er horchte an seiner Brust, als könne er damit erkennen, welch böse Krankheit darin wütete. Dabei wurde er vom Hausherrn argwöhnisch beobachtet. Gerade wollte der etwas sagen, als Else ihn bat, kurz auf den Flur zu gehen, da ihm Friedbert etwas sagen müsste.
„Wenn es unbedingt sein muss“, knurrte Wolfhardt und folgte der Magd hinaus. Dort erwartete ihn wirklich sein Knecht, der ein noch besorgteres Gesicht machte als er selbst. „Was gibt es so Wichtiges?“, fuhr er den Knecht an.
Friedbert ließ sich von der Grimmigkeit seines Dienstherrn nicht beeindrucken. „Herr“, sagte er, „mit dem Heiler ist etwas nicht in Ordnung. Als ich ihn hierher begleitete, versuchte er, zu fliehen. Irgendetwas verbirgt er. Da ist was ganz faul.“
„Bist du dir da sicher?“, fragte der Hausherr. Er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Tochter einem Betrüger auf den Leim gegangen war und wenn doch, warum.
„Ja, Herr, da bin ich mir sehr sicher“, antwortete Friedbert. „Er hat sich auch immer wieder umgeschaut und nach neuen Fluchtwegen gesucht. Doch ich habe aufgepasst wie ein Schießhund.“
Wolfhardt überlegte. Sollte er den angeblichen Heilkundigen wirklich seinen Eidam verarzten lassen? Konnte er das Risiko eingehen, dass dieser in seinem Haus verstarb. Was sollte er nur tun?
„Pass auf“, sagte er nach einer Weile zu Friedbert. „Ich gehe nachher in den Stadtrat. Vielleicht kennt ihn dort jemand und kann mir Auskunft geben. Solange machen wir gute Miene zu bösem Spiel. Doch bevor ich nicht genau weiß, dass er ein Lügner ist, will ich nichts unternehmen.“
„Sehr wohl Herr“, erwiderte Friedbert. Er war froh, dass sein Dienstherr ihm geglaubt und ihn nicht gleich davongejagt hatte.
Wolfhardt ging zurück in Andres Kammer und Friedbert an seine Arbeit. Als er die Kammer betrat, war Konrad eben dabei, dem Kranken einen Trank einzuflößen.
„Was gebt Ihr ihm?“, wollte Wolfhardt wissen.
„Das ist ein fiebersenkendes Mittel“, erklärte der Mann und zählte die Ingredienzen auf, die darin enthalten sein sollten. In Wirklichkeit war es nur ein Tee aus einfacher Melisse und Hagebutte. „Außerdem habe ich hier noch eine Salbe aus Schweinefett, gemischt mit Fett vom einem Gehenkten. Das hilft sehr gut gegen dieses böse Fieber“, log er, dass sich die Balken bogen. „Das Wundermittel hat schon vielen Kranken geholfen“, lobte er die Salbe. Er reichte sie sogar dem Hausherrn, der daran roch. Doch die stank so widerlich, dass er die Dose entrüstet von sich wies.
„Was ist das für ein ekelerregendes und stinkendes Zeugs?“, wollte er aufgebracht wissen. Er konnte sich nicht vorstellen, dass so etwas helfen sollte.
„Werter Herr Wolfhardt“, katzbuckelte Konrad, „Arzneien sind nicht dafür da, um den Patienten in Rosen- oder Lavendelduft zu hüllen. Sie sind dafür da, um diesen zu heilen. Dabei dürfen sie schon mal stinken wie die Pest, oder auch eklig schmecken. Meine Großmutter, Gott hab sie selig, sagte immer, Heilmittel, die übel schmecken und riechen, helfen auch.“
Der Wollhändler winkte nur angewidert ab und ließ Konrad eine Arbeit tun.
Rieke hatte dem Disput genau zugehört. „Vater, so haltet doch ein“, rief sie aus, als der sich eben wieder beschweren wollte. „Der Herr Konrad weiß, was er tut. Lasst ihn doch in Ruhe arbeiten.“
Nun wurde Wolfhardt erst recht böse. „Du hältst dich raus, wenn sich Männer unterhalten“, schnauzte er seine Tochter an. Die war solch ein Verhalten ihres Vaters gar nicht gewohnt und zog gleich den Kopf ein. „Am besten geh in deine Kammer und halte den werten Herrn Heiler nicht von der Arbeit ab.“
Als Rieke sich immer noch nicht rührte, fuchtelte Wolfhardt aufgeregt mit einer Hand vor ihrer Nase herum, als wolle er sie schlagen. „Nun scher dich endlich raus, sonst mache ich dir Beine“, schimpfte er laut, dass sich das Mädchen nun doch lieber aus der Schusslinie nahm und fluchtartig den Raum verließ.
Vor Aufregung klopfte der jungen Frau das Herz so heftig, dass sie schon fürchtete, es könnte jemand hören. Wenigstens einmal konnte sie ihren Angebeteten kurz sehen. Leider waren sie nicht dazu gekommen, miteinander zu sprechen. Der Vater machte den beiden einen Strich durch die Rechnung.
„Wartet nur, Vater“, dachte sie sich. „Ich werde Konrad wiedersehen. Du wirst es nicht mal merken.“ Schon schmiedete sie einen Plan, wie sie dies bewerkstelligen könnte.
Aus dem Nachbarzimmer hörte sie nur leise Stimmen, aber nichts Genaues. So sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nichts verstehen. So setzte sich Rieke ans offene Fenster und beobachtete die Passanten, die vorbeigingen.
Nach einer gefühlten Stunde wurde es auf dem Flur laut. Ihr Vater unterhielt sich mit Konrad. Rieke nahm an, dass die Behandlung nun zu Ende sei. Sie ging zur Tür und schaute hinaus.
„Wie dem auch sei“, hörte sie Konrad sagen, „falls es schlechter werden sollte, dann lasst mich rufen. Ansonsten sehe ich morgen Vormittag nach dem Kranken.“
„Was bin ich Euch für heute schuldig?“, fragte Wolfhardt. Er wollte Konrad bereits heute entlohnen, denn er wollte sich nicht nachsagen lassen, er wäre knausrig.
„Lasst mal, das habe ich gerne gemacht. Immerhin habe ich in der Stadt keine Zulassung“, erwiderte Konrad.
„Nein, nein, das geht nicht“, wehrte der Hausherr ab und reichte dem Heiler einen Gulden für dessen Mühe. Dem konnte dieser nun doch nicht widersprechen. Einen Gulden für eine Stunde bei einem Kranken, an dem er kaum eine Behandlung vorgenommen hatte. Er konnte es kaum fassen. So viel hatte er noch nie auf einmal verdient.
„Wie geht es meinem Bräutigam“, machte sich nun Rieke bemerkbar.
„Nachher“, wies ihr Vater sie ab, „geh zurück in deine Kammer. Ich lasse dich nachher rufen.“
Das Mädchen zog sich lieber sofort zurück. Keinesfalls wollte sie ihren Vater erneut so erzürnen wie vorhin in Andres Zimmer. Doch neugierig wie sie war, lauschte sie gespannt an der Tür, bis sie die Schritte der Männer auf der Stiege hörte.
Schnell begab sie sich an das Fenster und schaute nach draußen. Endlich wurde unten die Tür geöffnet und Konrad trat auf die Straße. Sie hörte noch, wie ihr Vater ihn verabschiedete und die Haustür wieder schloss.
Konrad wollte sich eben entfernen, als er ein leises Rufen hörte. Er schaute in die Richtung, aus der er das Rufen vernommen hatte und erkannte Rieke, die aus dem Fenster schaute.
„Oh, das Fräulein Rieke. Sehr erfreut“, sülzte der Mann und verbeugte sich. „Habe die Ehre.“
„Ich muss Euch wiedersehen“, rief sie gerade so laut, dass er es hören konnte. „Heute Abend in der Dämmerung am westlichen Tor“, sagte sie noch.
Konrad sah sich am Ziel seiner Träume. „Aber gerne. Ich werde da sein“, antwortete er erfreut. „Doch nun muss ich gehen, ehe mich Euer Vater entdeckt“, sagte er noch und wandte sich um. Er winkte Rieke noch und warf ihr eine Kusshand zu.
In freudiger Erwartung sah Rieke dem jungen Mann nach und überlegte bereits, wie sie am Abend unbemerkt das Haus verlassen konnte.