Antwerpen im Sommer des Jahres 1525
Rieke schlenderte mit Gislind kurz vor dem Mittag über den Wochenmarkt. Im Schlepptau hatten sie den kleinen dreijährigen Sohn Leon der jungen Frau, der nach seinem Großvater Leon van der Aar genannt wurde. Gislind plapperte aufgeregt auf ihre Herrin ein, die hier und da stehenblieb, um die Auslagen der Händler zu begutachten. Dass sie dabei beobachtet wurden, bemerkten die beiden Frauen nicht.
„Herrin, Ihr solltet Euch nicht zu sehr strapazieren“, wurde Rieke von ihrer Magd zur Vorsicht gemahnt. „Denkt an das Kind, das Ihr unter Eurem Herzen tragt.“ Gislind fürchtete nichts mehr als dass die junge Frau sich zu sehr anstrengen würde.
„Gislind, übertreibe es doch nicht immer so maßlos“, erwiderte Rieke lachend. Dabei musste sie ihren Bauch festhalten, der durch die weit fortgeschrittene Schwangerschaft stark angeschwollen war. Noch ein paar Tage und das heiß ersehnte nächste Kind der Familie van der Aar würde das Licht der Welt erblicken. Ob es wieder ein Knabe werden würde? Oder doch ein Mädchen, wie sie es sich diesmal wünschte?
„Ihr wisst doch, was die Hebamme Euch geraten hat. Ihr sollt Euch ausruhen und Euch nicht zu sehr anstrengen“, widerholte die Magd die Worte der Hebamme.
Wieder lachte Rieke auf. „Ich soll mich aber auch ein wenig bewegen. Das hat noch niemanden geschadet, auch keiner Schwangeren“, sagte sie, nachdem sie wieder Luft bekam. „Außerdem tut es Leon auch gut, mal unter Menschen zu kommen.“
„Ja, aber Ihr solltet auch keinen Gewaltmarsch machen und um Leon kann ich mich doch kümmern. Es ist heute viel zu heiß für Euch“, ließ sich Gislind nicht von ihrer Meinung abbringen.
„Ich werde mich wohl oder übel geschlagen geben müssen. Vorher wirst du keine Ruhe geben“, erwiderte die Hochschwangere. „Gehen wir zum Brunnen und setzen uns da ein wenig in den Schatten.“ Zielstrebig lief Rieke durch die Gassen, die die Händler zwischen ihren Ständen gelassen hatten, damit die Kunden die Waren begutachten konnten.
Während sie in Richtung Brunnen gingen, verspürte Rieke einen stechenden Schmerz, der sich vom Rücken zum Bauch hinzog. Heftig atmend blieb sie stehen. Die junge Frau kannte diese Vorzeichen nur zu gut. Die Wartezeit auf ihr zweites Kind würde heute wohl ein Ende finden.
Gislind bemerkte das schmerzverzerrte Gesicht ihrer Herrin. Aufmerksam beobachtete sie diese. Noch ließ sie sich ihre Beobachtung nicht anmerken. Sie kannte Rieke gut genug. Nie würde sie zugeben, welche Pein sie erlitt.
Aufatmend setzten sich die Frauen auf den Brunnenrand. Rieke zog ein Tuch aus ihrem Kleid und tauchte es in das kühle Nass des Brunnens. Dann wischte sie sich damit über das Gesicht, um sich ein wenig abzukühlen. Das Gleiche tat sie bei Leon, dessen Gesicht bereits gerötet war. Die Sonne prallte unbarmherzig vom Firmament. Leider stand sie um die Mittagszeit so hoch, dass die große Skulptur keinen Schatten spendete. Gislind beobachtete Rieke weiter, ohne dass diese es bemerkte, genauso wie den Bettler, der auf der Kirchentreppe saß und in ihre Richtung starrte.
Wieder durchfuhr die Schwangere ein stechender Schmerz, der sie diesmal gequält aufstöhnen ließ. Plötzlich bemerkte sie, wie es ihr nass die Beine hinunterlief. Schon bildete sich eine große Pfütze zu ihren Füßen. Erschrocken schaute Rieke auf. Sie wusste, was das zu bedeuten hatte.
„Ich glaube, wir sollten so schnell wie möglich nach Hause gehen“, bemerkte Gislind wie nebenbei, worauf Rieke ohne Worte zustimmte. Noch am selben Abend brachte sie ohne Mühen ein kleines Mädchen zur Welt, das auf den Namen Augusta getauft wurde. Der frisch gebackene Vater kümmerte sich rührend um das kleine Mädchen und seine Frau. Am liebsten hätte er die Nacht in der Kammer der Wöchnerin verbracht. Doch diese brauchte Ruhe, um sich von der Geburt zu erholen.
***
Rieke erholte sich schnell. Sie war jung und kräftig und hatte die Geburt schnell verkraftet. Das Nesthäkchen der Familie van der Aar wurde von allen gut behütet und geliebt. Die junge Mutter ließ es sich nicht nehmen, das Kind selbst zu stillen. Auch wenn dies nicht alltäglich war, denn viele Mütter ihres Standes nutzten eine Amme, die ihren Kindern ihre Milch gaben.
Rieke hatte ihrem Gatten versichert, dass sie sich nun wieder kräftig genug fühle, um sich selbst um den Haushalt und die Einkäufe der benötigten Lebensmittel zu kümmern. Eines Tages mussten die Vorräte aufgefüllt werden. Mit Gislind und einer weiteren Magd, die ihr beim Tragen der Körbe mit den Einkäufen helfen sollte, ging sie zum Markt.
Scharen von Bettlern, die in der letzten Zeit in der Stadt immer mehr wurden, hielten den Passanten ihre meist dreckigen Hände hin und bettelten um Almosen. Rieke hatte Mitleid mit den zumeist zerlumpten Gestalten, die öfter auch körperliche Leiden hatten.
Auf dem Weg zum Markt bemerkte Rieke einen Bettler, der sie unverblümt anstarrte und sie scheinbar verfolgte. Sein Gesicht war gebrandmarkt und zu einer hässlichen Fratze verzogen. Der Mann wurde ihr schon unheimlich, vor allen Dingen auch, da er immer dort auftauchte, wo sie sich eben befand. Sogar auf dem Nachhauseweg bemerkte sie, dass er ihr folgte. Als sie sich umblickte, sah sie den Bettler, der sich gegen eine Hauswand gelehnt hatte und ihr nachschaute.
Gislind wandte sich ebenfalls um. „Was ist das für ein komischer Typ?“, fragte sie und starrte in Richtung des Bettlers.
„Schau nicht so hin“, befahl sie der Magd. „Irgendwoher kenne ich den“, sagte sie dann noch. „Ich weiß nur nicht, woher.“ Angestrengt überlegte sie. Plötzlich ging ihr ein Licht auf. Konnte das möglich sein? Sollte Konrad ihr gefolgt sein? Und wenn doch, warum?
„Gehen wir, kümmern wir uns nicht um diesen Kerl“, sagte Rieke zu ihrer Untergebenen und schritt forsch in Richtung ihres Hauses, ohne auf den Verfolger zu achten.
Zu Hause angekommen übergab sie Gislind und der Köchin die Einkäufe und begab sie sich zu Andres. Ihr Gatte befand sich in seinem Kontor, wo er mit seinem Vater die Lieferung besprach, die in den nächsten Tagen ankommen sollte. Andres wandte sich zu Rieke, als er ihr Eintreffen bemerkte.
„Meine Liebe, du bist so blass“, sagte er besorgt zu seiner Frau. „Was ist geschehen? Ist dir nicht wohl?“ Inzwischen kannte er seine Gattin gut genug, um ihr Befinden erkennen zu können. Die Unstimmigkeiten zu Beginn ihrer Ehe waren längst beigelegt, Rieke hatte ihm verziehen und Andres war der beste Ehemann, den sich eine Frau nur wünschen konnte.
Die junge Frau erzählte von ihrem Erlebnis auf dem Markt und vom dem von eben in der Gasse. Andres hörte gespannt zu. Er kannte die Geschichte um Konrad, dessen Verrat an Rieke und der Schwindelei mit dem angeblichen Heilmittel gegen Fieber. Der Klausner wurde daraufhin in Arnstadt verhaftet, erst einige Wochen eingekerkert, dann gebrandmarkt und auf ewig aus der Stadt verbannt. Sollte er der jungen Familie van der Aar heimlich nach Antwerpen gefolgt sein? Wenn doch, wo hielt er sich in den letzten fünf Jahren auf?
Leon van der Aar trat zu dem Paar. „Gibt es Schwierigkeiten?“, fragte er seinen Sohn, worauf Andres nickte.
Nun erfuhr auch Riekes Schwiegervater die gesamte Geschichte, die sich vor ihrer Vermählung mit Andres zugetragen hatte.
„Ich werde mich höchstpersönlich um diese Angelegenheit kümmern“, versprach er seinem Sohn und dessen Gattin. „Heute noch. Und nun entschuldigt mich bitte, ich habe zu tun“, sagte der alte Herr zu den jungen Leuten.
***
Die nächsten Tage vergingen ohne besondere Vorkommnisse. Rieke hatte die unverhoffte Begegnung mit Konrad bereits wieder vergessen, als ihr Schwiegervater ankündigte, dass er zum Abendmahl die gesamte Familie am Tisch versammelt haben wollte.
Andres und Rieke schauten sich erstaunt an, beugten sich aber ohne Murren dem Wunsch des Familienoberhauptes. So saßen sie wenig später am Tisch beisammen und harrten der Dinge, die kommen sollten.
„Wie mir Rieke berichtete, erkannte sie einen gebannten Bettler in der Stadt, von der sie sich bedroht fühlte“, begann Leon das Gespräch. „Ich habe Erkundigungen über diesen Kerl eingezogen und bereits gehandelt.“
Andres sprang auf. „Hatte Rieke Recht mit ihrer Annahme?“, fragte er seinen Vater.
Riekes Herz klopfte aufgeregt in ihrer Brust. Sie hätte am liebsten nie wieder an die erniedrigende Situation mit dem Quacksalber gedacht. Zum Glück blieb sie damals vor dem Schlimmsten verschont.
„Natürlich hatte sie Recht. Deine Frau verfügt über eine sehr außerordentliche Gabe, sich an Menschen zu erinnern und sie zu erkennen. Es war wirklich dieser Konrad Klausner“, erwiderte Leon und nickte seiner Schwiegertochter aufmunternd zu. „Doch musst du dir keine Sorgen machen. Er wird dir nichts zuleide tun können“, beruhigte er Rieke, der die Angst im Gesicht stand.
„Wirklich?“, fragte Rieke, die im Gesicht ganz blass war.
„Mein liebes Kind, wenn ich sage, du musst dir keine Sorgen machen, dann musst du dir auch keine machen“, beruhigte sie Leon. „Wenn ein van der Aar sagt, er kümmert sich um etwas, dann macht er es richtig, oder gar nicht. Ich habe dir mein Wort gegeben.“
„Darf ich erfahren, was Ihr getan habt?“, wollte Rieke wissen, die den Worten ihres Schwiegervaters glauben musste.
„Natürlich darfst du das“, meinte Leon darauf. „Der Klausner ist ein in vielen Städten gesuchter Mann. Er hat nicht nur in Arnstadt sein Unwesen getrieben, sondern auch in vielen anderen Städten. Viele junge Frauen fielen auf ihn herein. Einige schwängerte er sogar. Doch das schlimmste war, er verkaufte ein angebliches Wundermittel gegen diverse Krankheiten, das gar kein Wundermittel war, sondern den Kranken mehr schadete. Viele sind deswegen gestorben. Erst in Arnstadt kam man ihm durch einen Zufall, an dem du nicht unschuldig bist, auf die Schliche.“
„Ihr meint, der Klausner ist ein gesuchter Betrüger?“, fiel Rieke dem Hausherrn ins Wort. Erschrocken fuhr sie auf, als sie erkannte, welche Ungebührlichkeit sie sich dem Älteren gegenüber geleistet hatte. „Entschuldigt bitte“, stieß sie aus und errötete.
Andres grinste dazu nur, sagte aber nichts. So kannte er seine Frau.
Auch Leon lachte nur und strich sich über seinen weißen Bart. „Mein liebes Mädchen, keine Entschuldigung. Ich verstehe deine Aufregung“, sagte er zu Rieke. „Noch zu dem Klausner: Er kann dir nie wieder zu nahe kommen, auch keinem Menschen mehr mit seinem angeblichen Heilmittel schaden.“
Rieke wusste nicht, was sie davon halten sollte. Ganz genau hatte sie die Worte ihres Schwiegervaters nicht verstanden. Der erkannte Riekes Not.
„Der Klausner wurde heute in aller Frühe gehenkt. Seine Gebeine baumeln vor der Stadt am Galgen“, ließ er endlich die Katze aus dem Sack.
„Ihr meint, er ist tot und kann uns nichts mehr antun?“, fragte Rieke nochmals nach. Vor Freude wäre sie am liebsten aufgesprungen und hätte den Hausherrn umarmt.
„Genau“, sagte der nur und lächelte Rieke an.
„Siehst du, meine Liebe. Ende gut, alles gut“, ließ nun Andres von sich hören. Er zog Rieke in seine Arme und flüsterte ihr ins Ohr: „Nun können wir ohne Angst leben. Wir zwei, mit unseren Kindern und der Familie. Willst du das?“
„Ja, das will ich“, erwiderte Rieke lächelnd und küsste Andres liebevoll auf die Lippen. Es klang wie ein zweites Eheversprechen und alle um sie herum freuten sich mit dem jungen Paar.
Und nun kommt das böse Wort
ENDE