Fröhlich vor sich hin pfeifend lief Konrad durch die Gassen zurück zum „Bären“. Dass er das Haus Wollhaupt mit heiler Haut verlassen konnte, grenzte für ihn schon an eine Unwahrscheinlichkeit. Dazu hatte er es geschafft, den Hausherrn von seinen angeblichen Künsten zu überzeugen. Konrad wusste, irgendwann würde er auffliegen. Bisher war immer alles gut gegangen und wenn er doch mal wieder in eine Zwickmühle geraten sollte, war der Patriarch der Gauklertruppe für ihn da. Ein paar Mal hatte er ihm schon den Hals aus der Schlinge gezogen. Wie oft er das noch tun würde, stand in den Sternen.
Konrad überlegte, ob er Arnstadt lieber verlassen und sein falsches Spiel in irgendeiner anderen Stadt fortführen sollte, wo ihn niemand kannte. Das Pflaster hier war heiß, fast zu heiß. Er spürte bereits das Schwert des Henkers an seinem Hals, was er als kein gutes Omen ansah. Doch dann fühlte er in seiner Rocktasche den Gulden, den ihm der Wollhändler für die Behandlung seines Schwiegersohnes zugesteckt hatte. Geld zog Konrad schon immer magisch an. Je mehr, desto besser.
Diesem Friedbert, der ihm die Nachricht überbracht und zum Haus Wollhaupt begleitet hatte, traute er nicht über den Weg. Schon auf dem Weg zu den Wollhaupts hatte er ihn ständig so komisch angeschaut, als würde er hinter seine Stirn blicken wollen. Und dann beim Wollhändler, als er plötzlich seinen Herrn sprechen wollte, bekam Konrad beinahe einen Herzinfarkt. Er nahm schon an, der Knecht wolle ihn bei seinem Herrn schlecht machen. Aber seine Angst war unbegründet. Als der alte Wollhaupt zurück in die Kammer kam, benahm er sich um keinen Deut anders als vorher. Falls er Verdacht geschöpft haben sollte, konnte er dies bestens verbergen.
Dann dachte Konrad an den sonnigsten Moment dieses Morgens. Rieke, die Tochter des Hauses, der er in der Kammer des Kranken endlich wieder begegnet war. Wie sie ihn mit ihren großen leuchtenden Augen angeschaut hatte, ließ sein Herz schmelzen wie Butter in der Sonne. Diese Augen, die ihn durchbohrten wie ein spitzer Dolch und ihn genau ins Herz trafen. Ihr Lächeln, so lieblich… Konrads Herz schlug Purzelbäume. Als sie dann noch um ein heimliches Treffen bat, war er der glücklichste Mann auf der ganzen Welt. Schon als er Rieke das erste Mal sah, war er hin und weg. Er musste dieses Mädchen haben, komme was wolle. Alles würde er dafür tun, um sie endlich in seinen Armen halten zu können. Vielleicht würde sie sogar mehr erlauben, als nur einen heimlichen Kuss oder eine Umarmung.
Einen Haken hatte Rieke leider. Sie war versprochen. Das sah Konrad als Hürde an. Aber womöglich war sie gar nicht so glücklich damit, wie sie vorgab zu sein. Warum bat sie ihn dann um ein Treffen? Das musste er unbedingt in Erfahrung bringen.
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Zur selben Zeit dachte auch Rieke an die Begegnung mit Konrad. Auch wenn sie nur ganz kurz ein Wort wechseln konnten, war dies schon sehr viel mehr, als sie erhofft hatte. Wenn nur ihr Vater nicht so penibel auf sie aufpassen würde. Sie musste heute Abend unbedingt zu dem Treffen.
Angestrengt überlegte die junge Frau, wie sie das Haus verlassen konnte, ohne dass es ihrem Vater auffiel. Heimlich musste sie es tun, oder ihn anlügen. Im Lügen war sie nicht die Beste. Ihrem Vater, der sie besser kannte als ihr lieb war, würde bestimmt Lunte riechen, wenn sie versuchen würde, ihn zu beschwindeln. Also doch besser heimlich aus dem Haus schlüpfen. Nur so würde sie bis zum westlichen Tor gehen können, denn sie durfte nicht einmal Gislind einweihen. Die Magd war eine Plappertasche, die den lieben langen Tag nichts anderes tat, als Klatsch und Tratsch zu verbreiten. Besser kein Risiko eingehen. Ganz einerlei war es ihr nicht, im Dunkel allein ohne Schutz durch die Stadt gehen zu müssen. Für Konrad würde sie es aber trotzdem tun.
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Während des Morgenmahls, zu dem Riekes Mutter sie endlich rief, war Andres erneutes Ansteigen des Fiebers das Thema Nummer eins. Augusta bangte um den jungen Mann, gerechtfertigt, wie der Hausherr zugab. Das hohe Fieber war kein gutes Zeichen, vor allen Dingen, da der Schwiegersohn am Abend zuvor bereits ein paar Minuten das Bett verlassen konnte und auch einen recht guten Appetit an den Tag legte. Alle hofften, das wäre endlich der Durchbruch und ab sofort ginge es mit der Genesung voran.
Wolfhardt sorgte sich auch um andere Dinge. Was, wenn Andres in seinem Hause versterben sollte? Wie könnte er jemals dessen Vater wieder unter die Augen treten? Wahrscheinlich nie. Der Tod des einzigen Sohnes von Leon van der Aar würde auch sein Ansehen unter den Wollhändlern in Mitleidenschaft ziehen. Doch was konnte er dafür, dass ausgerechnet jetzt in Arnstadt solch eine böse Seuche ausbrach. Nichts konnte er dafür, genau so wenig er dafür konnte, dass sich Andres ansteckte und gleich so arg daran erkrankte, dass man um sein Leben bangen musste.
„Gleich nach dem Morgenmahl werde ich ins Rathaus gehen“, gab Wolfhardt seiner Familie bekannt. „Eine Ratssitzung wurde einberufen, an der ich teilnehmen muss.“
„Sollte nicht erst am Ende der Woche eine stattfinden?“, fragte Augusta ihren Mann.
„Ja, schon“, erwiderte der Hausherr, „Doch die derzeitige Lage in der Stadt macht es notwendig, die Sitzung vorzuziehen. Das Wohl unserer Stadtbewohner steht auf dem Spiel. Das ist wichtiger als alles Andere.“
„Sind noch mehr Fälle des Fiebers aufgetreten?“, wollte Rieke wissen.
„Noch zehn. Drei Menschen sind gestern sogar daran verstorben“, erklärte Wolfhardt.
„Wohin soll das nur noch führen“, jammerte Augusta.
„Liebste“, versuchte Wolfhardt sie zu beruhigen, „ich hoffe nur, dass dieser Konrad Klausner mit seinem Heilmittel Erfolg hat. Er ist die letzte Rettung.“ Was Friedbert ihm vorhin in aller Heimlichkeit mitgeteilt hatte, behielt er lieber erst einmal für sich. Er wollte seine Familie nicht unnötig beunruhigen.
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Wenig später versammelten sich die Ratsherren im großen Sitzungssaal. Aufgeregt sprachen alle durcheinander, dass man kaum das Wort des Nachbarn verstehen konnte.
„Meine Herren, ich bitte um Ruhe“, rief Wolfhardt mit seiner tiefen, dröhnenden Stimme aus. Der Wollhändler führte an diesem Tag den Vorsitz über die Ratssitzung. Als endlich alle Gespräche verstummt waren und er die volle Aufmerksamkeit auf seiner Seite hatte, sprach er weiter: „Meine Herren, die Lage in der Stadt spitzt sich von Tag zu Tag mehr zu. Daher wurde heute diese außerordentliche Sitzung einberufen. Erst gestern wurden zehn neue Fälle dieses Fiebers gemeldet. Drei weitere Todesfälle traten dazu noch auf. So kann das nicht weitergehen. Wir müssen dringend etwas unternehmen, ehe unsere schöne Stadt ausgerottet wird.“
„Wozu haben wir den Stadtmedikus Doktor Melchior“, fragte einer der Ratsherren. „Der Melchior ist ein begabter Arzt. Er wird schon wissen, wie man mit dem Fieber umgeht und es ausrottet.“
„Das ist wohl wahr“, erwiderte Wolfhardt, „doch wie wir sehen, ist er allein nicht in der Lage, alle Kranken zu behandeln. Der Bader und sogar der Henker sind bereits am Rande des Möglichen. Alle arbeiten fast rund um die Uhr. Das Spital ist auch schon bis auf den letzten Platz belegt und von Tag zu Tag kommen noch mehr Kranke dazu.“
Wieder sprachen alle durcheinander, bis Wolfhardt mit der flachen Hand auf den Tisch schlug, um für Ruhe zu sorgen.
„Meine Herren. Es bringt uns nicht weiter, wenn wir alle wie die Hühner durcheinander gackern. Wir brauchen Hilfe, das steht fest. Anders ist uns nicht mehr zu helfen.“
„Hilfe? Woher nehmen? Welche Stadtoberen schicken ihren Medikus oder Bader in eine mit Fieber verseuchte Stadt?“, warf Waldemar, der Zunftmeister der Tuchhändler ein.
„Wir müssen nicht mal weit gehen. Wir haben noch einen begabten Helfer in der Stadt, von dem ich bis gestern Abend selbst noch nichts wusste“, ließ Wolfhard die Katze aus dem Sack. Von allen wurde er erstaunt angesehen. „Meine Tochter lief die Tage in die Arme eines Heilkundigen, der eben in Arnstadt mit einer Gauklertruppe gastiert.“
„Ha, was soll da schon rauskommen? Wenn ich das Wort Gaukler höre, da kräuselt sich mir der linke Fußnagel hoch“, rief Waldemar dazwischen.
„So wartet doch mal ab. Ich bat diesen Herrn heute Morgen zu mir ins Haus, da mein zukünftiger Schwiegersohn schwer an diesem Fieber erkrankt ist. Ich bin noch dabei, diesen Heilkundigen zu testen. Wir könnten ihn beauftragen, sich wenigstens um die Armen, die erkrankt sind, zu kümmern. Im Spital ist genug zu tun. Soll er sich dort beweisen. Hat er das getan, kann er immer noch unter der Fuchtel des Medikus oder des Baders arbeiten.“
„Ja, klar. Wenn die Armen verrecken, kräht kein Hahn danach“, rief ein anderer Ratsherr aus, der bisher ohne ein Wort die Sitzung verfolgt hatte. „Und der Schuldige am Sterben wird uns gleich noch auf dem Silbertablett serviert.“
„Genau daran dachte ich“, erwiderte der Wollhändler. „Die besser betuchten Kranken werden weiterhin vom Medikus Melchior oder dem Bader behandelt, und die ganz Armen teilt sich dieser Klausner mit dem Henker. Die beiden werden genug zu tun haben. Dem Henker vertraut das niedere Volk eh mehr als dem Bader oder dem Doktor.“
„Wenn der Klausner versagt, kann immer noch der Henker tätig werden, an seinem Hals, indem er ihn umdreht oder mit seinem Schwert daran kitzelt“, erkannte Waldemar. Dabei grinste er über das ganze Gesicht.
„Waldemar, Ihr seid wahrlich ein Filou“, erwiderte Wolfhardt lachend, dem die Idee des Tuchhändlers unheimlich gut gefiel. Warum er nicht gleich selbst darauf gekommen war. Seit Friedbert ihm seinen Verdacht äußerte, glaubte er dem Klausner kein einziges Wort mehr. Ihn auf diese Art und Weise loszuwerden, war das Einfachste. Versagte er, fiel sein Kopf. Hatte er Erfolg, war er ein gemachter Mann und er selbst auch. Wolfhardt sah schon die Gulden rollen, in seine Geldkatze und nicht in Konrads Beutel.