Als Rieke die böse klingende Stimme hinter sich vernahm, sprang sie erschrocken von Konrads Schoß. Auch der Mann fuhr wie von der Tarantel gestochen von der Bank hoch. Dabei riss er Rieke beinahe von den Füßen. Gerade noch so konnte sie sich an ihm festhalten, sonst wäre sie in den Dreck gestürzt.
„Wer hat das zu bestimmen“, knurrte Konrad den riesigen Kerl an, der drohend vor ihm stand. Konrad plusterte sich wie ein Kampfhahn auf.
„Das geht Euch gar nichts an. Ihr braucht Euch gar nicht so aufzuplustern, ich weiß, wer Ihr seid und wo ich Euch finden kann. Was bildet Ihr Euch eigentlich ein, eine tugendhafte Jungfer zu verführen?“, entgegnete der, immer noch sehr zornig. Er machte einen Schritt auf Rieke zu. „Bedeckt gefälligst Eure Blöße, Fräulein Rieke“, befahl er ihr. Seine Stimme verhieß nichts Gutes. Daher tat das Mädchen lieber, was der Mann verlangte. Doch irgendwie kam ihr die Stimme bekannt vor. Jedenfalls kannte er ihren Namen.
„Friedbert, bist du das?“, fragte sie ängstlich. „Hoffentlich ist das nicht der Knecht, der mich bei diesem Stelldichein ertappt hat“, dachte sie sich noch. Ihr Wunsch blieb jedoch nur ein Wunsch.
„Ihr habt richtig erkannt, der bin ich wahrlich“, erwiderte der Knecht. „Kommt nach Hause“, sagte er noch zu ihr. „Doch vorher richtet lieber Euer Mieder. Eure weiblichen Attribute sind nicht für jedermanns Augen gedacht. Wenn Ihr so gesehen werdet, denken die Leute, ihr seid eine liederliche Person.“ Er griff nach Riekes Hand und zog sie einfach mit sich fort.
„Und Ihr da, Ihr Haderlump, macht lieber, dass Ihr aus der Stadt verschwindet“, rief er Konrad noch zu, der wie ein begossener Pudel neben der Bank stand. Da hatte er das Mädchen so weit, sich ihm hinzugeben und da wurde ihm ein Strich durch die Rechnung gemacht. Vor sich hin schimpfend wandte er sich ab.
„Konrad, sehen wir uns wieder“, rief Rieke ihm noch zu, eine Antwort bekam sie leider nicht. Konrad hatte sie zwar gehört, doch eine Antwort blieb er ihr schuldig. Die Jungfer konnte er sich abschminken. Sie war für ihn unerreichbar geworden.
„Friedbert, woher wusstest du, dass ich hier war“, fragte Rieke den Knecht, der mit einem grimmigen Gesichtsausdruck neben ihr herlief.
„Fräulein Rieke, Ihr denkt doch wohl nicht, dass Ihr Euch unbeobachtet nachts einfach durch die Stadt schleichen könnt“, erwiderte Friedbert, nun doch ein wenig grinsend, als das Mädchen ihn erschrocken anschaute.
„Aber, wann, wo... ich begreife das nicht“, sagte sie, immer noch ganz baff.
„Vergesst nicht, ich kenne die Stadt sehr viel länger und besser als Ihr“, meinte der Knecht. Dabei schritt er so schnell aus, dass Rieke Mühe hatte, ihm zu folgen. „Denkt ja nicht, Ihr könnt mir entwischen. Ich lasse Euch erst aus den Augen, wenn ich Euch Eurem Vater übergeben habe.“
Rieke rutschte das Herz eine Etage tiefer, als sie Friedberts Ankündigung hörte. Das konnte ja heiter werden. Sie malte sich bereits aus, welche Strafe ihr der Vater auflegt. Wenn er noch erfährt, sie wäre kurz davor gewesen, sich einem Haderlumpen hinzugeben, wäre die Strafe noch grausamer.
„Bitte, erzähl meinem Vater nicht, mit wem du mich ertappt hast“, bettelte das Mädchen.
„Fräulein Rieke, Ihr glaubt doch wohl nicht, dass ich meinen Dienstherrn anlüge. Er macht sich um Euch Sorgen, verbietet Euch sogar, nachts das Haus zu verlassen, sowie auch am Tag, nur damit Ihr Euch nicht mit dieser Krankheit ansteckt. Und was macht Ihr? Nein, so geht das nicht. Außerdem weiß Euer Vater bereits, dass Ihr nicht in Eurem Bett liegt.“ Friedbert redete und redete, während Rieke mit jedem Wort blasser wurde. Es war wirklich schlimmer als sie angenommen hatte.
Als Friedbert mit Rieke im Schlepptau im Haus des Wollhändlers eintraf, war die Wohnstube beleuchtet. Ängstlich schaute das Mädchen den Knecht an. Doch da ging bereits die Tür auf und ihr Vater trat aus der Stube. In seiner Hand hatte er eine Kerze, die den dunklen Flur nur karg erhellte.
„Da haben wir ja unsere Ausreißerin“, begrüßte er seine Tochter. „Komm doch rein.“
Rieke bemerkte, wie sehr sich ihr Vater zusammenriss, nicht laut zu werden. Mit hängendem Kopf folgte sie ihm und blieb mitten im Raum stehen. Sie wagte es nicht, aufzublicken und ihn anzusehen.
Ihr Vater hatte sich in seinen Stuhl gesetzt, die Beine weit ausgestreckt und die Hände über seinem Bauch gefaltet. Interessiert sah er seine Tochter an, die vor ihm stand und seine Standpauke erwartete.
Wolfhardt sagte erst einmal gar nichts, sondern wartete ab. Er wusste, nichts war schlimmer für seine Tochter, als warten zu müssen. So auch dieses Mal.
„Nun sagt schon, welche Strafe ich bekomme“, sprach Rieke ihren Vater an.
Der grinste nur. „Du denkst wohl, du kannst tun und lassen, was du willst. Mein liebes Fräulein, da hast du falsch gedacht“, polterte Wolfhardt lauthals los.
Rieke errötete, sagte aber lieber nichts mehr. Sie wusste, jetzt ihren Vater zu reizen, wäre ein Spiel mit dem Feuer.
„Welch ein Glück, dass Friedbert bemerkte, wie du heimlich entwischt bist. Nicht auszudenken, wenn du überfallen worden wärst“, Wolfhardt redete sich in Rage. Noch wusste er nicht, in welcher prekären Lage dieser seine Tochter ertappt hatte. „Friedbert“, rief er laut, worauf die Tür aufging und der Knecht den Raum betrat. „Erzähl, wo hast du das Fräulein Tochter eingeholt und was hat sie getan.“
Friedbert schaute betreten zu Boden. Ganz wohl war ihm nicht, Rieke verraten zu müssen. Doch es war nur zu ihrem Besten. Er berichtete, was er gesehen hatte.
„Außerdem saß sie auf dem Schoß eines Mannes und…“, Friedbert stockte und wurde nun ebenfalls rot.
„Ja, was… sag endlich!“, fuhr Wolfhardt hoch, der noch Schlimmeres ahnte.
„Ihr Mieder war geöffnet, das Kleid hochgeschoben und der Mann hatte seine Hand darunter“, mehr wagte Friedbert nun wirklich nicht mehr zu sagen. Sein Herr wusste garantiert, was eine Männerhand unter einem Damenrock zu tun hatte.
Wolfhardt wurde blass. Seine Tochter in den Armen eines Mannes, der nicht der ihrige sein konnte, denn der lag eine Etage höher in seiner Kammer krank darnieder.
„Ich wusste noch gar nicht, dass ich eine Metze großgezogen habe“, schrie Wolfhardt seine Tochter an. Am liebsten hätte er sie gezüchtigt. „Wenn das Andres erfahren sollte. Ich mag gar nicht daran denken, welche Folgen das für unsere Familie haben wird. Er wird annehmen, ich wolle ihn hintergehen und dich ihm unterschieben. Vielleicht bist du bereits gar keine Jungfrau mehr. Sag mir lieber nicht, wie lange das mit diesem Schurken von Konrad schon läuft. Ich muss mich wahrlich nicht über dein Benehmen wundern. Seit du erfahren hast, dass Andres dein Gatte werden soll, läufst du herum wie ein Häufchen Elend.“ Wolfhardt blieb vor Schrecken die Luft weg. Schwer atmend sank er in seinen Stuhl zurück.
„Vater, das ist nicht wahr“, rief Rieke aus. „Ich kenne Konrad erst seit ein paar Tagen.“
Wolfhardt, der wusste, um wen es sich handelte, ließ sie aber nicht ausreden. „Da muss ich nun auch nicht mehr fragen, warum du diesen Quacksalber zur Behandlung deines Bräutigams heranziehen wolltest“, fiel er seiner Tochter ins Wort. „Vielleicht wolltet ihr Andres aus dem Weg räumen, damit dein Weg zu Konrad frei wird.“
„Vater, das ist nicht wahr“, jammerte das Mädchen. „Aber ja, ich liebe Konrad, vom ersten Augenblick an. Aber Andres wollten wir nie etwas zuleide tun.“
„Sei still, du undankbares Geschöpf“, fuhr der Vater dazwischen. „Ich will nichts mehr hören. Du wirst diesen Kerl nie wiedersehen. Dafür werde ich sorgen.“ Er sprang aus seinem Stuhl auf und durchmaß den Raum mit großen Schritten.
Plötzlich ging die Tür auf und Augusta, nur bekleidet mit ihrem Nachthemd und einer Haube betrat die Stube. „Was ist denn hier für ein Lärm? Die Kleinen werden ja wach von dem Geschrei“, schimpfte sie. Als sie ihre Tochter mit hochrotem Gesicht und ihren Gatten wutentbrannt im Raum auf und abgehen sah, stutzte sie. Auch Friedbert war anwesend. „Wolfhardt, was ist hier los?“, fragte die Hausfrau ihren Ehemann.
„Frag deine Tochter, das undankbare Ding“, fuhr er nun auch seine Frau an.
„Mutter, bitte, Ihr wisst doch, was Andres am ersten Tag über mich sagte. Ich will ihn nicht heiraten, bitte Mutter, helft mir“, jammerte Rieke. Nun brach sie auch noch in Tränen aus.
Da aus Rieke kein weiteres Wort herauszuholen war, erklärte Wolfhardt mit wenigen Worten, was bekannt geworden war. Augusta war entsetzt. „Das ist nicht wahr“, stieß sie entrüstet aus. „Rieke, wie kannst du nur. Ich weiß, du liebst Andres nicht. Doch ich habe deinen Vater auch nicht geliebt, als ich ihn vor Jahren heiraten musste. Doch wir haben uns zusammengerauft. Das kannst du mit Andres doch auch.“
„Ich glaube es nicht. Ihr wollt mich wirklich an diesen Mann verschachern. Mich, Eure einzige Tochter“, schluchzte Rieke herzzerreißend.
„Darüber diskutieren wir jetzt nicht weiter“, knurrte Wolfhardt seine Tochter an. „Geh auf deine Kammer. Dort bleibst du, bis ich dir erlaube, herauszukommen.“
Friedbert, der immer noch neben der Tür stand, scharrte mit dem Fuß.
„Du bist ja auch noch da“, sagte Wolfhardt zu ihm, „du kannst jetzt gehen.“
„Danke Herr“, erwiderte Friedbert und verschwand schnell aus der Schusslinie.
Rieke wollte ihren Vater noch beschwichtigen, der aber winkte nur ab. „Raus mit dir!“, sagte er und wartete, bis Rieke die Tür hinter sich schloss und er hörte, wie sie die Stiege nach oben ging.
„Was sollen wir nur noch mit ihr machen?“, fragte Wolfhardt seine Frau.
„Lassen wir ihr doch noch ein wenig Zeit, sich an den Gedanken an die Vermählung mit Andres zu gewöhnen. Ich glaube, sie war ein wenig überrumpelt davon. Du weißt doch, sie war schon immer ein wenig eigenwillig“, erwiderte Augusta.
„Aber, dass sie sich mit wildfremden Männern herumtreibt, das können wir nicht dulden“, sagte Wolfhardt darauf. „Das müssen wir unterbinden. Wir haben einen Ruf zu verlieren. Aber nun lass uns auch zu Bett gehen. Über Riekes Strafe, die ich ihr auferlegen werde, muss ich noch nachdenken.“
Wolfhardt gab seiner Frau einen Kuss und ging hinaus. Augusta folgte ihm. Wenig später war im Haus Wollhaupt dunkel. Alle Bewohner, außer Rieke, schliefen.