Wie ein gehetztes, waidwundes Tier rannte Rieke die Stiege hinauf ins Obergeschoss, wo ihre Kammer war. Nur schnell weg von diesem Monster mit der schönen Fassade, mit dem ihr Vater sie verheiraten wollte. Mit lautem Knall schlug sie die Tür hinter sich zu und warf sich schluchzend auf ihr Bett. Heftig schüttelte es sie. Die Tränen rannen über ihr Gesicht, obwohl sie sich geschworen hatte, nie wegen einem Mann zu weinen. Und nun tat sie es doch, obwohl sie diesen Mann noch gar nicht richtig kannte.
Rieke konnte es immer noch nicht fassen, was sie eben unten im Lagerhaus gehört hatte. Sollte sie wirklich nur als treudoofe Gebärmaschine, die zu allem ja und amen sagte, fungieren? Wo blieb da die Liebe, das Verlangen und die Lust, dem Gatten beizuwohnen? Waren die drei Dinge nur ein Traum? Sollte sie sich Andres nur hingeben, um ihm Erben zu gebären? Was würde sein, wenn statt eines Knaben ein Mädchen das Licht der Welt erblickt? Würde sie geschlagen, oder was noch schlimmer wäre, verstoßen werden? Fragen über Fragen, auf die sie keine Antworten wusste. Sie hätte es akzeptieren können, wenn die Verbindung zustande gekommen wäre, um die beiden reichen und bekannten Familien zu vereinen. Es widerstrebte ihr, nur heiraten zu müssen, um der Familie des Ehemanns einen Erben zu gebären. Ansonsten hatte sie nur zu funktionieren und zu gehorchen. Nie die eigene Meinung äußern, immer nur unterdrückt zu werden, an diesen Gedanken konnte und wollte sich das Mädchen nicht gewöhnen. Dasselbe könnte jede gewöhnliche Dirne an ihrer Stelle auch tun. Doch eine Metze wäre wohl nicht gut genug für die edle Familie van der Aar. Nein, da musste die Tochter eines angesehenen Ratsherrn ran.
Am liebsten hätte Rieke laut geschrien, ihren Frust und die Ungerechtigkeit in die Welt hinausposaunt. Ob sie wollte oder nicht, sie musste ihrem Vater gehorchen, wie es sich für eine fügsame und gut erzogene Tochter eines hochgestellten Ratsherrn geziemte. Tat sie dies nicht, würde sie die Ehre ihrer Familie verletzen und sie in unrechtes Licht rücken.
Mühsam erhob sich Rieke von ihrem Bett. Sie ging zum Waschtisch, auf dem Lisbeth für sie wie immer einen Krug mit frischem Wasser bereitgestellt hatte. Rieke schaute in den kleinen Spiegel, der über dem Tisch an der Wand hing. Traurige, vom Weinen gerötete und verquollene Augen blickten ihr entgegen.
„Rieke, Rieke, komm bitte zu Tisch“, hörte sie ihre Mutter von unten rufen.
Das Mädchen erschrak. Sie ging zur Tür und antwortete: „Ich bin gleich da.“
Hastig wusch sie sich das Gesicht mit dem kalten Wasser und rieb sich die Wangen, bis sie rosig waren und gesund aussahen. Schnell schlüpfte sie noch in ein sauberes Kleid und flocht ihre Haare, die sie am liebsten offen trug, zu einem Zopf. Bald würde sie ihre Haarpracht verstecken müssen, denn einer verheirateten Frau geziemte es sich nicht, ihr Haar offen zu tragen. Ihre inzwischen verheirateten Freundinnen hatten sich auch daran gewöhnt, da würde sie es ebenfalls tun.
Als Rieke nach unten kam, saß schon die ganze Familie mit ihrem Gast Andres am Esstisch. Else hatte bereits aufgetragen, alle warteten nur noch darauf, dass sich die Tochter des Hauses zu ihnen setzte.
Andres erhob sich und rückte seiner Braut den Stuhl zurecht. Dabei grinste er sie unverfroren an. Rieke schaute zurück und ließ sich von seinem Blick nicht beeinflussen. „Vielen Dank“, sagte sie nur leise zu ihm. Jedes Wort, das sie an Andres richten musste, war für sie ein vergeudetes Wort. Daher wollte sie so wenig wie möglich mit ihrem Bräutigam sprechen.
Als alle ihre Plätze eingenommen hatten, eröffnete Wolfhardt die Tafel. Anfangs war jeder mit dem Essen beschäftigt. Keiner sprach ein Wort, bis Andres die Stille brach: „Wann gedenkt Ihr, dass Ulrikes und meine Vermählung stattfinden kann“, richtete er das Wort an Wolfhardt, der am Kopfteil des Tisches saß.
„Sobald wie möglich natürlich“, erwiderte der Hausherr, „wäre Euch in etwa vier Wochen recht?“
Rieke erschrak. Bereits in vier Wochen sollte sie mit diesem Monster vermählt werden. In ihren Augen sah es so aus, als wolle ihr Vater sie unbedingt loswerden. Am liebsten würde sie dagegen protestieren.
„So schnell schon?“, fuhr auch ihre Mutter auf. Ihre Augen weiteten sich vor Schreck und man sah ihr an, dass sie mit dieser Entscheidung keinesfalls einverstanden war.
„Aber natürlich, Liebes“, wandte sich Wolfhardt an seine Frau. „Unser Eidam wird so bald wie möglich nach Hause zurückkehren und dort die Geschäfte seines Vaters übernehmen wollen. Da können wir doch seine kostbare Zeit nicht vergeuden. Erst nach Hause und dann nochmals hierherreisen, wäre zu viel Aufwand. Also warum dann nicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.“
„Wenn du meinst“, sagte Augusta nur und sah ihre Tochter von der Seite her an, die stur auf ihren Teller stierte. Rieke wagte keinen Einwand. Sie hielt ihren Kopf weiterhin gesenkt, um ihr Gegenüber nicht anschauen zu müssen. Ihr Gesichtsausdruck jedoch sprach mehr als jedes Wort. Sie war bleich geworden und rang mit ihren Gefühlen. Augusta sah ihr die Qual an, die sie eben durchlitt. Auch sie selbst befand sich vor vielen Jahren in der gleichen Situation wie nun ihre Tochter, doch inzwischen liebte sie ihren Wolfhardt und sie bereute keine Sekunde, die sie an seiner Seite verbrachte. Sie hoffte sehr, bei ihrer Tochter und Andres würde es genauso werden.
Während des Essens sprach der Vater die meiste Zeit nur mit Andres. Rieke und auch ihre Mutter hörten lediglich zu. Ihre ältesten Söhne, die mit am Tisch saßen, musterten interessiert ihren zukünftigen Schwager. Leise flüsterten sie miteinander, bis sie von Wolfhardt grimmig zurechtgewiesen wurden.
„Ruhe am Tisch, verdammt nochmal“, knurrte das Familienoberhaupt seine beiden Söhne an, die sofort den Kopf einzogen und gehorchten.
Rieke ging alles Mögliche durch den Kopf. Wie konnte sie nur verhindern, die Frau dieses Mannes zu werden? Ideen schossen durch ihren Kopf, sollte sie von zu Hause fliehen, ins Kloster gehen oder sich von einem anderen Mann entjungfern lassen? Mit Letzterem hätte sie zwar auf alle Zeiten einen Makel, doch dann würde ihr die Heirat mit Andres erspart bleiben, der natürlich auf einer Jungfrau bestehen würde. Wenn sie Pech hatte, wurde sie auch noch schwanger und würde noch schlimmer bestraft werden. Für ewig wäre sie in diesem Fall eine ungewollte Person und müsste allein für sich und das Kind sorgen. Angestrengt überlegte sie, doch ihr fiel keine Lösung ein.
Nach dem Essen ging der Hausherr mit dem Gast in sein Arbeitszimmer. Rieke half währenddessen mit, den Tisch abzuräumen und das Geschirr zum Abwaschen in die Küche zu bringen.
„Wenn das dein Vater sieht, wird er wieder mit dir schimpfen“, meinte Auguste, die ihrer Tochter dabei zusah. „Du weißt ja, was er davon hält, wenn du dich mit solch unwürdigen Arbeiten beschäftigst.“
„Das ist noch lange nicht so schlimm, wie diesen Mann heiraten zu müssen, den ich nicht liebe“, fuhr Rieke ihre Mutter an. Erschrocken blieb ihr Mund offen stehen, als sie bemerkte, dass sie sich im Ton vergriffen hatte. „Entschuldigt, Mutter, es steht mit nicht zu, so mit Euch zu sprechen“, versuchte sie ihre Mutter zu beschwichtigen.
Doch Augusta lachte nur. „Meine liebe Tochter, ich weiß, wie du dich fühlst. Mir ging es vor meiner Heirat mit deinem Vater auch nicht anders“, wollte sie Rieke trösten. „Auch du wirst ihn eines Tages lieben. Sei nicht ungeduldig.“
„Das glaube ich Euch auch. Doch Ihr liebt Vater inzwischen und seid mit ihm glücklich. Vater vergöttert Euch“, schluchzte Rieke. „Andres wird mich nie lieben und ich ihn auch nicht. Einen Mann wie ihn werde ich nie lieben können.“
„Aber Liebes, beruhige dich. Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Im Laufe der Zeit wirst du dich an ihn gewöhnen, und er an dich. Glaub mir, es wird so kommen.“
„Mutter, Ihr wisst nicht, was er zu Vater gesagt hat und wie Vater reagiert hat“, wehrte Rieke ab und erzählte ihr im Geheimen, was sie im Lagerhaus heimlich belauscht hatte.
Nun wurde auch Augusta blass. Sie kannte die Familie van der Aar schon sehr lange. Immer wurden sie gut bewirtet, wenn sie mit ihrem Gatten dort zu Besuch war. Leon van der Aar vergötterte seine Frau und trug sie auf Händen. Wie konnte da der gemeinsame Sohn nur so missraten sein. Augusta verstand es nicht und auch sie wusste noch keinen Rat, wie diese Vermählung verhindert werden könnte.
„Rieke, Liebes, es ist noch nicht aller Tage Abend und noch nichts verloren“, tröstete sie ihre Tochter. „Wir werden eine Lösung finden. Das verspreche ich dir. Und nun geh zu deinem Vater, dein Bräutigam erwartet dich dort. Er möchte die Vermählung besprechen.“
Mit hängenden Schultern und zu Tode betrübt verließ Rieke daraufhin die Küche und begab sich in das Arbeitszimmer ihres Vaters.