Unschlüssig stand Andres vor Riekes Kammertür. Leise klopfte er an und bat darum, eintreten zu dürfen. Ob seine Braut bereits schlief oder genau wie er, vor Aufregung kein Auge zu bekam?
„Rieke, schlaft Ihr schon“, machte sich Andres nochmals bemerkbar. Doch Antwort bekam er nicht. „Rieke, so öffnet doch!“, rief er nun bereits etwas lauter. In Riekes Kammer rührte sich immer noch nichts. „Rieke! Öffnet bitte!“, Andres wurde immer unruhiger.
„Was ist denn hier zu nachtschlafender Zeit für ein Lärm?“, hörte er plötzlich die Stimme seines angehenden Schwiegervaters hinter sich. „Was tut Ihr vor der Tür meiner Tochter?“, knurrte der noch, als er Andres erkannte.
Der junge Mann brachte kein Wort heraus. Was wollte er eigentlich vor der Tür seiner Braut und das auch noch mitten in der Nacht. „Ich wollte zu Rieke und mit ihr wegen der Vermählung sprechen“, konnte Andres endlich hervorbringen. „Beim Abendmahl spürte ich, dass sie sich mit dem Gedanken, mit mir verheiratet zu werden, immer noch nicht anfreunden konnte.“
Wolfhardt starrte Andres erstaunt an. Ihm war bisher noch nicht aufgefallen, wie es um die Gefühle seiner Tochter stand. „Schauen wir mal in Riekes Kammer nach“, sagte er und öffnete die Tür.
In der Kammer war alles still. Der Wollhändler trat mit der Kerze in der Hand zum Bett. „Das gibt es doch nicht!“, stieß er hervor. „Das Bett ist leer!“
Andres stürzte hinzu. „Wo kann sie nur sein? Ist sie womöglich geflüchtet?“, fragte er. „Ich bin an allem schuld“, fing er an zu schluchzen.
„Warum solltet ihr schuld an Riekes Verschwinden sein?“, fragte Wolfhardt erstaunt. „Sie wusste, dass sie in Bälde vermählt werden sollte. Das ist kein Grund, bei Nacht und Nebel ohne ein Wort zu verschwinden.“ Der Hausherr sprach so laut, dass seine Gattin ebenfalls wach wurde und ihr Zimmer verließ.
„Ihr seid heute so laut, ich bekomme kein Auge zu. Morgen wird ein harter Tag werden mit den letzten Vorbereitungen zur Hochzeit“, schimpfte die Frau. Als sie Riekes leeres Bett bemerkte, schrie sie auf: „Wo ist meine Tochter?“ Händeringend und tränenüberströmt lief Augusta aufgeregt hin und her. „Ich hätte auf ihre Hinweise hören sollen“, jammerte sie herzerweichend.
„Welche Hinweise?“, fragte Augustas Gatte nach.
„Rieke berichtete mir von delikaten Dingen, die sie im Lagerhaus aus dem Munde ihres Bräutigams gehört hatte“, erklärte Augusta immer noch schluchzend. „Was habt Ihr Euch nur gedacht, meine Tochter wie ein Stück Vieh behandeln zu wollen!“, fuhr sie Andres an.
„Wie meint Ihr?“, wollte er wissen. Er konnte sich nicht vorstellen, was er gesagt haben sollte, das seine Braut dermaßen beleidigt haben könnte. Augusta berichtete nun, was die Tochter gehört hatte.
„Ja, das waren meine Worte“, gab Andres bedrückt zu. Auch der Vater nickte zustimmend.
„Wir sind auch einfach miteinander verheiratet worden, ohne dass wir uns liebten“, versuchte Wolfhardt Andres zu verteidigen. „Bist du deswegen bei Nacht und Nebel von zu Hause geflüchtet?“, sagte er dann noch zu seiner Frau.
„Nein, natürlich nicht. Doch du hast nie so abwertend über mich gesprochen“, erwiderte Augusta. „Ihr seid meiner Tochter einiges schuldig“, sagte sie nun zu ihrem Schwiegersohn. „Doch wichtig ist nun, sie zu finden.“
„Ich werde sie suchen gehen“, ließ Friedbert, der nun auch dazu gekommen war, vernehmen. „Ich glaube, ich weiß bereits, wo ich das Fräulein finden kann.“
„Dann eile und suche mein Kind“, rief Augusta aufgeregt.
Friedbert zog sich seine Kleidung über und verließ mit einer Laterne in der Hand das Haus durch den Hinterausgang.
***
Während Friedbert nach Rieke suchte, setzte sich die Familie in der Stube an den Tisch. Augusta, die immer noch sehr aufgebracht war, saß händeringend dabei.
„Frau Augusta“, brach Andres die Stille. „Ich muss mich bei Rieke entschuldigen, obwohl die Worte, die ich sprach nicht entschuldbar sind. Ich hoffe, sie kann mir verzeihen. Was bin ich nur für ein Tölpel! Ich weiß, die Vermählung kam ein wenig unverhofft für Eure Tochter. Doch ich schwöre, ich werde sie als meine Gattin ehren und ihr nie etwas zuleide tun. Auch wenn ich sie nicht liebe, werde ich alles tun, um sie glücklich zu machen. Auch die schnelle Abreise nach der Hochzeit wird ihr zu schaffen machen, das kann ich ihr nachfühlen. Eine Trennung vom Elternhaus ist nicht einfach.“
„Ach was“, fuhr Wolfhardt auf. „Sie soll sich nicht so haben. Es ist nun einmal das Los einer Frau, ihrem Gatten zu folgen, egal wohin er geht.“
Augusta schaute ihren Ehemann böse an. „Wie kannst du nur so herzlos sein. Rieke ist unsere einzige Tochter. Sie aus dem Hause gehen lassen zu müssen, schmerzt mich ungemein. Deine Worte eben auch! Erinnere dich an unsere erste gemeinsame Zeit. Damals war ich untröstlich über die Trennung von meinem Elternhaus.“
„Liebste, Augusta. Natürlich erinnere ich mich daran“, Wolfhardt sprang auf und kniete vor seiner Frau nieder. „Entschuldige, ich war herzlos.“
Andres musste lächeln. Ob er mit Rieke eines Tages ebenso glücklich sein würde wie deren Eltern? Er wünschte es sich sehr. Doch zuerst musste er seine Braut gnädig stimmen.
***
Friedbert leuchtete jede Ecke in den Gassen aus, durch die er schlich. Er wusste zwar nicht genau, welchen Weg Rieke gewählt hatte. Daher schritt er einfach die Strecke ab, auf der er sie vor einigen Tagen verfolgt hatte. Er konnte sich bereits denken, wohin die Tochter des Hauses mitten in der Nacht geflohen war. Seine Ahnung sollte ihn nicht täuschen.
Kurz bevor er den „Bären“ erreichte, hörte er ein leises Schluchzen aus einer finsteren Ecke. Interessiert trat er näher und hob seine Laterne. Erleichtert entdeckte er die Gesuchte, die zusammengesunken und tränenüberströmt im Dreck der Gosse kauerte und sich nicht beruhigen konnte.
„Fräulein Rieke, endlich habe ich Euch gefunden“, rief Friedbert, erfreut, das Mädchen unversehrt angetroffen zu haben. „Kommt, steht auf und gehen wir nach Hause“, sagte er und griff nach Riekes Arm, um ihr aufzuhelfen.
„Ich kann nicht nach Hause, nie mehr“, schluchzte das Mädchen und versteckte ihr Gesicht hinter den Händen.
„Ach, kommt schon. Macht Euch keine Gedanken. Glaubt mir, Eure Eltern sind sehr besorgt“, versuchte der Knecht die junge Frau zu beruhigen. „Auch Euer Bräutigam ist besorgt.“
„Gerade der!“, fuhr Rieke auf. „Der soll froh sein, wenn ich ihn nicht gleich zum Teufel schicke!“
„Versündigt Euch nicht!“, Friedbert schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Er bückte sich zu dem Mädchen hinunter und sah ihr direkt in die Augen. „Kommt nach Hause. Glaubt mir, es sind alle sehr in Sorge um Euch.“
„Wenn es sein muss“, murrte Rieke und stand auf. Sie nahm ihr Bündel, das ihr der Knecht gleich abnahm und auf seine Schulter lud. Niedergeschlagen folgte sie Friedbert, den sie seit ihrer Geburt kannte. „Aber eines sage ich dir, gerne gehe ich nicht zurück.“
„Ach, Fräulein Rieke“, seufzte Friedbert. Er trat auf das Mädchen zu und nahm es einfach in den Arm. „Es wird alles wieder gut“, versuchte er Rieke zu trösten.
Schluchzend lehnte sich Rieke in Friedberts starke Arme. Noch nie in ihrem Leben war sie einem Mann, der nicht zur Familie gehörte, so nah gekommen. Doch der Knecht gab ihr zu erkennen, dass er es gut mit ihr meinte und sie sehr wohl verstand.
„Ich weiß, dass Ihr nicht freiwillig vor den Traualtar tretet und die Zeit bis dahin nur noch sehr kurz ist. Das wird sehr schwer sein. Doch glaube ich, der Herr Andres wird Euch ein guter Ehemann sein. Ich kenne seinen Vater und die Mutter ebenfalls, fast genauso gut wie Eure Eltern. Euer Vater wird Euch doch keinem Monster zum Mann geben.“
Friedbert kramte in seiner Hosentasche und zog sein Schnupftuch hervor. Er reichte es Rieke, damit sie sich die Tränen abwischen und ausschneuzen konnte. Der Knecht musste an seine Tochter denken, die in Riekes Alter und deren Spielgefährtin in der Kindheit war. Die beiden Mädchen glichen sich in ihrem Wesen und verstanden sich schon immer gut. Da hatte er eine Idee.
„Was meint Ihr, wenn Ihr Gislind mit nach Antwerpen nehmt. Da fällt Euch der Abschied von Eurem Elternhaus nicht so schwer und Ihr habt jemanden bei Euch, den Ihr bereits kennt und seid nicht so allein in der Fremde.“
Rieke schaute auf. „Das würdest du für mich tun?“, fragte sie erstaunt.
„Aber Fräulein Rieke, Ihr müsstet mich doch kennen. Natürlich würde ich dies tun. Auch wenn ich dann meine Tochter auch nicht mehr um mich haben werde. Doch ich weiß, Ihr werdet Ihr eine gute Herrin sein.“
Freudig fiel Rieke dem Mann um den Hals und küsste ihn herzhaft auf die Wangen. „Danke, danke“, rief sie aus und wirbelte herum. „Komm, gehen wir nach Hause.“
***
Im Hause Wollhaupt warteten Riekes Eltern und Andres bereits sehnsüchtig auf Friedberts Rückkehr. Auch Else, Gislind und Lisbeth hielten es nicht in ihren Betten aus und saßen in der Küche am Herd. Nur Riekes Brüder schliefen den Schlaf der Gerechten.
Endlich trat Friedbert mit seinem Schützling im Schlepptau in die Stube. Wolfhardt sprang erfreut auf und nahm seine Tochter in den Arm. Auch Augusta war außer sich vor Freude, ihr Kind heil zurück zu haben. Andres stand etwas abseits und schaute der Begrüßung der Vermissten zu. Ihm war anzusehen, wie ihn sein schlechtes Gewissen plagte.
Als Riekes Eltern sich endlich wieder gesetzt hatten, nahm er allen Mut zusammen und ging zu seiner Braut.
„Rieke, ich weiß, ich habe mich unmöglich benommen. Ich dachte nicht, dass Ihr uns womöglich belauschen könntet. Ich war dumm, ich dachte nur an mich und unseren Wollhandel“, begann er zögernd. „Ich hoffe, Ihr könnt mir eines Tages meine riesige Dummheit verzeihen.“ Sein Gesicht verfärbte sich vor Aufregung immer mehr. „Wenn Ihr mich nicht mehr heiraten wollt, kann ich das verstehen.“
Rieke musste sich ein Schmunzeln verkneifen. „Ich heirate Euch nur, wenn ich Gislind mitnehmen darf“, entgegnete sie. „Das wäre meine Bedingung. Dass Ihr mich nicht liebt, damit kann ich leben. Meine Eltern liebten sich auch nicht, als sie miteinander vermählt wurden.“
Andres erstarrte. Hatte er wirklich richtig gehört? „Natürlich dürft Ihr Gislind mitnehmen, wenn sie es möchte. Ich tue alles, was Ihr Euch wünscht. Doch auch Euer Vater muss dem zustimmen.“
„Vater, bitte, darf mich Gislind begleiten?“, fragte Rieke und warf sich ihrem Vater an den Hals. „Bitte, sag ja. Friedbert erlaubte es Gislind bereits.“
„Da bin ich wohl überstimmt“, meinte Wolfhardt lachend. „Wenn Friedbert und Else es erlauben und Gislind dich begleiten möchte, soll sie es tun.“
Nun wurden auch Else mit Gislind, Friedbert und Lisbeth dazu gerufen. Gislind wurde der Vorschlag unterbreitet, Rieke nach Antwerpen zu begleiten und dieser dort weiter zu dienen.
Gislind wusste bereits von dem Vorschlag. Ihr Vater hatte ihr schon davon erzählt. Freudig sagte sie zu.
***
Riekes und Andres Vermählung fand wie geplant, am Sonnabend statt. Obwohl keine große Zeremonie abgehalten wurde und nur wenige Gäste anwesend waren, wurde es eine schöne Feier.
Die wenigen Tage bis zur Abreise nutzte Rieke, ihre Freundinnen zu besuchen und sich von ihnen zu verabschieden. Obwohl sie traurig war, dass sie viel hinter sich lassen zu müssen, freute sie sich auf den neuen Lebensabschnitt, der ihr bevorstand.
Am Morgen der Abreise wartete die Kutsche, die bereits mit Riekes Gepäck und allen Hochzeitsgeschenken beladen war, vor dem Haus des Wollhändlers. Die Wagen mit den Waren, die Andres mit nach Antwerpen nehmen sollte, standen in Reih und Glied dahinter. Die Pferde scharrten unruhig mit den Hufen und wirbelten den Straßenstaub auf.
Die Mitglieder der Familie Wollhaupt hatten sich vor dem Haus versammelt, um die Brautleute zu verabschieden. Riekes Brüder klammerten sich an den Rockzipfel ihrer Mutter und schauten ihre Schwester und deren Ehemann mit großen Augen an. Noch konnten sie nicht begreifen, dass sie ihre große Schwester für lange Zeit nicht mehr sehen würden. Auch Riekes Freundinnen hatten es sich nicht nehmen lassen, zu dieser frühen Morgenstunde am Haus der Wollhaupts zu erscheinen, um Abschied zu nehmen.
Mit Tränen in den Augen nahmen alle Abschied von Rieke und ihrem Gatten. Noch lange standen die Zurückbleibenden in der Gasse und schauten dem sich entfernten Wagentross nach.