„Wir müssen unbedingt etwas unternehmen. So kann das keinesfalls weitergehen. Es sterben immer mehr Leute in der Stadt. Es traten zwar keine neuen Fälle auf, doch Todesfälle unter den Erkrankten gibt es immer noch“, schimpfte einer der Ratsherren. Wolfhardt hatte die Herren des Rates erneut zu einer außerordentlichen Sitzung einberufen. Die Lage in der Stadt hatte sich immer noch nicht beruhigt.
„Mir wurde das bereits zugetragen“, knurrte Wolfhardt zurück. Seine Ahnung hatte sich scheinbar bewahrheitet. Er konnte es nicht glauben, einem Lügner und Betrüger auf den Leim gegangen zu sein. „Dieser Klausner mit seinem angeblichen Heilmittel hielt auch nicht das, was er uns versprach“, gab er dann doch zu, was ihm recht schwer fiel. Wer gab schon gerne zu, sich geirrt zu haben und hinters Licht geführt worden zu sein.
„Vom Scharfrichter hörte ich, der Kerl wäre äußerst unzuverlässig“, gab ein anderer sein Wissen preis. „Außerdem wäre er bereits sehr oft vom Henker ermahnt worden, seine Arbeit ordentlich zu erledigen. Das hätte allerdings bisher nicht gefruchtet, eher das Gegenteil wäre der Fall.“
„Dem müssen wir unbedingt einen Riegel vorschieben“, erklärte Wolfhardt. „Am besten, wir stecken den Kerl erst einmal in den Kerker“, meinte er noch, „wenn wir die Epidemie bekämpft haben, können wir uns immer noch um ihn kümmern.“
„Ich glaube kaum, dass er freiwillig zugibt, uns belogen und betrogen zu haben“, sagte einer der Zunftmeister dazu.
„Für was haben wir den Henker?“, fragte der Wollhändler grinsend. „Unser Meister Hans hat bisher jeden zum Reden gebracht.“
Alle Ratsherren redeten aufgeregt durcheinander, bis Wolfhardt sie erneut energisch um Ruhe bat. „Hat jemand Einwände gegen eine Verhaftung?“, wollte er wissen.
Alle stimmten zu und somit war es beschlossene Sache, den Klausner in Gewahrsam zu nehmen und durch den Scharfrichter befragen zu lassen.
***
Als Wolfhardt am Abend zurück nach Hause kam und sich alle zum Abendmahl versammelt hatten, bat er seine Familie, ihm zuzuhören. Wie immer, wenn er nicht gerade außer Haus zu tun hatte, war auch Andres anwesend, der dem Hausherrn interessiert entgegen schaute. Seiner Frau hatte Wolfhardt bereits die Neuigkeit verkündet und ihr das Versprechen abgenommen, der Tochter und auch den anderen Familienmitgliedern keinesfalls vor dem Abendmahl über sein Vorhaben etwas zu verraten. Augusta war davon zwar nicht besonders begeistert, vor allen Dingen auch, weil sie wusste, wie sehr sich die Tochter gegen diese Vermählung sträubte. Doch gehorchte sie ihrem Gemahl des lieben Friedens willen.
„Jetzt, wo wir die Epidemie in der Stadt beinahe bannen konnten, sollten wir nun endlich Nägel mit Köpfen machen. Nach der Ratssitzung habe ich auf dem Nachhauseweg den Herrn Pfarrer aufgesucht und das Aufgebot für Andres und Rieke bestellt“, ließ der Wollhändler die Katze aus dem Sack.
Rieke wurde blass, wartete aber erst einmal ab, was ihr Vater noch mitzuteilen hatte.
„Die Hochzeit soll bereits am Sonnabend stattfinden. Ich weiß, es ist ein wenig schnell. Doch wir können nicht noch länger warten. Heute erhielt ich außerdem von Andres Vater eine Depesche, dass sein Sohn dringend in Antwerpen gebraucht wird. Daher entschloss ich mich, die Vermählung so schnell wie möglich stattfinden zu lassen.“
„Ihr habt Nachricht von meinem Vater“, rief Andres aufgeregt aus und sprang vor Freude auf. „Gibt es Neuigkeiten?“
„Heute kam ein Bote aus Antwerpen“, erklärte Wolfhardt. „Er erreichte mich im Rathaus und überbrachte mir dort die Nachricht Eures Vaters. Es stehen wichtige Geschäfte bevor, wobei Eure Anwesenheit benötigt wird.“
„Aber Vater“, rief Rieke, „die Hochzeitsvorbereitungen sind noch gar nicht beendet. Eine so schnelle Vermählung hat keiner von uns erwartet.“
„Widersprich nicht, Tochter“, fuhr Wolfhardt auf. „Dein Hochzeitskleid ist längst bereit, die Robe deiner Mutter ebenfalls. Für eine kleine Feier reicht die Zeit zur Vorbereitung allemal.“ Er nahm schon lange an, dass seine Älteste mit der Vermählung nicht einverstanden war und diese daher verhindern wollte. „Es ist beschlossene Sache. Am Sonnabend wird geheiratet und Anfang nächster Woche wirst du mit Andres in dessen Heimatstadt reisen.“
Der grimmige Blick ihres Vaters verhieß Rieke, ihm nicht weiter zu widersprechen. Daher schwieg sie lieber. Während sich alle ihrem Mahl zuwendeten, überlegte die junge Frau angestrengt, was sie tun könnte. Bereits in zwei Tagen würde sie Andres Frau werden. Dann wäre ein Weg zu Konrad ein für alle Mal versperrt. Außerdem musste sie ihren Galan unbedingt warnen.
„Dieser Klausner, den du uns mit vielen Worten angepriesen hast, scheint ein arger Quacksalber zu sein“, sprach Wolfhardt auf einmal seine Tochter an, als hätte er deren Gedanken erraten.
„Aber er konnte doch auch meinem Bräutigam helfen“, erwiderte die Angesprochene und sah ihren Vater erstaunt an.
„Das wird wohl Zufall gewesen sein, dass Andres genesen konnte“, sagte der Hausherr. „Im Spital konnte Klausner noch nicht eine einzige Person heilen. Eher das Gegenteil ist der Fall. Es sind aufgrund seiner Fehlbehandlung sogar Menschen gestorben.“
„Das ist ja ein Ding“, fuhr Andres auf und schaute seine Braut erschrocken an. Zwar konnte er sich nicht mehr an diesen Mann erinnern, dem er angeblich sein Leben zu verdanken hatte, doch Augusta und auch Elsa lobten Konrad über alle Maßen. „Seid Ihr Euch da ganz sicher?“, fragte er seinen Schwiegervater.
„Die Beweise sind eindeutig. Im Rat wurde heute beschlossen, dass er morgen in aller Frühe verhaftet und eingekerkert wird“, antwortete Wolfhardt. „Nächste Woche wird sich der Henker seiner annehmen.“
Rieke wurde noch blasser, doch konnte sie keineswegs zugeben, wie sehr die Nachricht ihres Vaters sie schockierte. Sie wusste nur eines, Konrad musste unbedingt gewarnt werden.
***
Vorsichtig spähte Rieke vom Treppenabsatz aus hinunter in den Flur. Seit ihr Vater geäußert hatte, dass die Hochzeit mit Andres baldigst stattfinden solle, war sie nur noch ein Nervenbündel. Das Abendmahl verbrachte sie schweigend, während der Rest der Familie erfreut über die bevorstehende Vermählung sprach.
Rieke dachte jede Minute an Konrad, in den sie unsterblich verliebt war. Er war auch der Grund, weswegen sie Andres keinesfalls ehelichen wollte. Sie musste unbedingt noch heute ihr Vaterhaus verlassen und außerdem Konrad warnen, der bald von den Bütteln verhaftet und eingesperrt werden sollte. Vielleicht würde er morgen in aller Frühe mit ihr die Stadt verlassen. Sie hoffte es sehr. Mit ihm würde sie ein neues Leben beginnen, auch wenn ihr damit der Weg zurück in ihr Elternhaus für immer versperrt sein würde.
Im Flur war alles ruhig, auch Friedbert schien zu schlafen, denn aus der Kammer des Knechts kam ein lautes Schnarchen. Inbrünstig hoffte Rieke, heute Nacht endlich aus ihrem Elternhaus fliehen zu können, ohne dass es der aufmerksame Knecht bemerkt und sie gegen ihren Willen zurückholt.
Immer darauf bedacht, so wenige Geräusche wie möglich zu machen, schlich das Mädchen die Stiege hinunter. Ein kleines Bündel mit den notwendigsten Kleidungsstücken trug sie bei sich. Am Fuße der Stiege verharrte sie einige Sekunden und horchte erneut. Doch Friedbert schien wirklich zu schlafen. Eilig huschte sie zur Hintertür, die in den Garten des Hauses führte. Im Gegensatz zur Vordertür knarrte diese nicht so laut, wenn sie geöffnet wurde. Ehe Rieke das Haus verließ, schaute sie nochmals zurück. Schmerzhaft zog sich ihr Herz zusammen. Heute könnte womöglich der letzte Tag gewesen sein, an dem sie ihre Eltern und ihre Geschwister sehen konnte. Doch dann riss sie sich zusammen und schloss die Tür hinter sich.
Flink lief Rieke durch den vom Mondlicht erhellten Garten und schlüpfte durch das Tor, aus dem sie letztens ihrem Vater entkommen war und dessen Ausgangsverbot hintergangen hatte. Suchend blickte sich das Mädchen um. In der Gasse war keine einzige Menschenseele zu sehen. Keinesfalls durfte sie von den Bütteln bemerkt werden. Die würden sie aufgrund des Verstoßes gegen die abendliche Ausgangssperre in den Kerker sperren und sie dort einige Tage bei Wasser und Brot ausharren lassen. Da konnte ihr der Vater dann auch nicht helfen. Egal ob reich oder arm, die Ausgangssperre galt für alle Bewohner der Stadt.
Hastig lief sie weiter. Dabei schaute sie sich immer aufmerksam um, ob nicht doch noch im letzten Augenblick ein Büttel um die Ecke bog. An der nächsten Biegung blieb sie schwer atmend stehen und blickte in die Richtung, aus der sie gekommen war. Nochmals zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen. Eine Träne rollte über ihre Wangen. Sollte das wirklich der endgültige Abschied von ihren Eltern und Geschwistern sein?