Unruhig wälzte sich Rieke auf ihrem Bett hin und her. Sie kam an diesen Abend nicht zur Ruhe. Immer wieder sah sie Konrad vor sich, wie sie auf seinem Schoß saß und er sie so himmlisch küsste, dass ihr jetzt noch die Röte ins Gesicht schoss, wenn sie nur daran dachte. Auch die herrlichen Gefühle, die er in ihr ausgelöst hatte, ließen sie nicht mehr los. Ja, sie war verliebt, bis über beide Ohren unsterblich verliebt. Sie würde alles dafür tun, nur um ihn wieder zu sehen und wenn sie dafür von zu Hause ausreißen müsste. Das Mädchen sehnte sich danach, in seinen Armen zu liegen.
Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass Friedbert ihr heimlich zu dem Stelldichein mit Konrad gefolgt war und dies dann auch noch ihrem Vater brühwarm erzählt hatte. Bisher nahm sie an, der Knecht sei ihr wohlgesinnt. Doch da hatte sie wohl falsch gedacht. So wütend hatte sie ihren Vater noch nie erlebt. Und noch etwas konnte sie in seinem Gesicht ablesen: Enttäuschung über sie, seine Tochter.
Einerseits konnte das Mädchen seinen Groll verstehen. Immerhin hatte sie ihn zum wiederholten Male hintergangen und sich seinen Anweisungen widersetzt. Anderseits sah sie es nicht ein, warum sie ihm stets bedingungslos zu gehorchen hatte.
„Da ist mein Vater selbst dran schuld“, dachte die junge Frau trotzig. Sie stand auf und lief aufgeregt hin und her. „Warum verlangt er auch von mir, dieses Ekel Andres zu ehelichen. Er muss doch sehen, dass ich damit nicht glücklich bin. Wurde nicht auch er ohne seine Zustimmung einfach mit meiner Mutter verheiratet? Gerade sie müssten wissen, wie es ist, einfach verheiratet zu werden.“ Dass ihre Eltern im Laufe der Jahre zu einem sich liebenden Paar wurden, daran dachte sie in ihrer Situation gar nicht.
Rieke hielt es in ihrer Kammer nicht mehr aus. Sie musste unbedingt an die frische Luft, sonst drohte sie zu ersticken. Leise stand sie auf und horchte an ihrer Tür. Im Flur war es mucksmäuschenstill. Vorsichtig öffnete sie ihre Tür und schlüpfte hinaus. Sie horchte nochmals. Nur aus der elterlichen Kammer war das leise Schnarchen ihres Vaters zu hören, ansonsten war es ruhig im Haus.
Am liebsten hätte sie die Gelegenheit beim Schopfe gepackt und sich aus dem Haus geschlichen. Nur weg von hier, so schnell es ging. Doch nie und nimmer würde sie an der Stube des wachsamen Knechtes vorbeikommen, deren Tür sich direkt unten am Fuße der Stiege befand. Sollte sie es trotzdem wagen? Gerade wollte sie zurück in ihre Kammer, als unten eine Tür geöffnet wurde. Eine verschlafene Else mit einer Laterne in der Hand trat auf den Flur.
Schnell trat Rieke von der Treppe zurück, denn Else hielt ihr Licht hoch und leuchtete nach oben. „Friedbert, du hörst mal wieder einmal die Flöhe husten, da ist nichts“, sagte Else zu ihrem Gatten, der hinter ihr im Türrahmen stand.
„Ich bin mir aber sicher, oben Schritte gehört zu haben“, erwiderte Friedbert grimmig und sah in jede Ecke. „Du weißt doch, was der Herr befohlen hat, ich soll Augen und Ohren offen halten. Er will über jeden Schritt seiner Tochter Bescheid wissen.“
„Du glaubst doch wohl nicht, das Fräulein Rieke geht mitten in der Nacht aus dem Haus, wo es ihr Vater ihr strengstens verboten hat“, knurrte die Magd ihren Mann an.
„Sie war oft genug ungehorsam, dass wir auch damit rechnen müssen. Dieser Quacksalber hat ihr so den Kopf verdreht, dass sie völlig verrückt nach ihm ist und alles tut, um ihn wiederzusehen. Dabei ist dieser Andres, dessen Gattin sie werden soll, so ein lieber Kerl“, meinte Friedbert, womit er mit seiner Vermutung teilweise recht hatte.
„Wenn du wüsstest“, dachte Rieke und schlich zurück in ihre Kammer. Sie blieb noch an der Tür stehen, um nach unten zu horchen. Auch da wurde eine Tür geschlossen und wenig später war wieder Ruhe im Haus. Ihren Ausflug musste sie wohl oder übel auf später verschieben. An Friedbert kam sie keinesfalls vorbei, ohne von ihm bemerkt zu werden.
***
Die nächsten Tage verstrichen im Hause Wollhaupt ohne besondere Vorkommnisse. Rieke benahm sich unauffällig und tat nur, was ihr die Mutter auftrug. Sie verzichtete sogar auf Besuche bei ihren Freundinnen, um ihren Vater zu besänftigen und kümmerte sich stattdessen fast allein um ihren Bräutigam, dem es sichtlich gefiel, seine Braut öfter um sich zu haben.
Während sich Andres von Tag zu Tag mehr erholte und nach einer Woche endlich fieberfrei war, traten in der Stadt noch mehr Neuerkrankungen in allen Standesschichten auf. Sogar zehn weitere Tote waren zu beklagen. Der Medikus, der Bader und Henker sowie die Gehilfen hatten alle Hände voll zu tun. Auch Konrad, der immer noch unter den Fittichen des Henkers und dessen Helfern im Spital eingesetzt war, kam nicht zur Ruhe. Er hatte so viel zu tun, dass er gar nicht an die Tochter des Wollhändlers dachte.
Konrad tat alles, um zu vertuschen, dass sein Wissen um die Krankheit weit bescheidener war, als er bei Riekes Vater angegeben hatte. Er machte Fehler über Fehler, worauf ihn der Henker und dessen Gehilfen immer wieder hinweisen mussten. Wenn sie nicht hier und da beherzt eingegriffen hätten, müssten noch mehr Tote beklagt werden. Inzwischen wurde Konrad von vielen schräg angeschaut, da seine angeblichen Heilmittel bisher versagt hatten. Alle wurden dazu angehalten, ihn nicht darauf anzusprechen. Der Mann stand zwar unter Wolfhardts Schutz, trotzdem blieb er unter ständiger argwöhnischer Beobachtung.
Im Stadtrat debattierte man täglich über die Lage. Jedoch zu einer Einigung kamen die Herren nicht. Wolfhardt schlug sogar einmal vor, alle Kranken von den Gesunden zu isolieren, was wohl die einfachste Methode gewesen wäre, um neuen Ansteckungen vorzubeugen. Die Einwände einiger Ratsherren, es wäre in der Stadt kein Platz, ein weiteres Spital einzurichten, wollte er nicht hören. In Arnstadt gab es genug leer stehende Häuser, die groß genug waren, um eine Isolierstation für die akutesten Fälle einzurichten. Auch war er immer mehr dafür, die Heilkundigen aus anderen Städten heranzuziehen.
„Sollen erst noch mehr Leute sterben!“, wetterte der Wollhändler. Die anderen Ratsherren wollten aber nichts davon hören.
„Wer soll das alles bezahlen?“, rief einer der Ratsherren aus, der der Debatte bisher wortlos gefolgt war.
„Die Angehörigen der Kranken natürlich“, erwiderte Wolfhardt.
„Die meisten Betroffenen sind bettelarme Leute. Die können sich nur die Behandlung des Henkers leisten“, sagte ein anderer darauf. „Und der behandelt in solchen Fällen meist auch ohne Bezahlung.“
Das Thema Geld wurde wie immer groß geschrieben. Sogar in dieser Not sahen alle nur, wie sie am besten noch mehr horten konnten.
„Was ist eigentlich mit Eurem Wunderheiler, den Ihr so hoch gelobt habt“, wollte ein anderer wissen.
„Der steht unter ständiger Beobachtung“, erklärte der Wollhändler. „Der Henker hat sich bereits mehrmals über ihn beschwert. Er scheint ein Lügner zu sein. Bisher hat er noch nicht einem einzigen Kranken helfen können. Sein Heilmittel, das er so anpries, ist vollkommen wirkungslos.“
„Warum ist er dann noch auf freiem Fuß“, fragte sein Nachbar. „Die Büttel sollen ihn in den Kerker bringen und der Henker sich seiner annehmen.“
„Wir brauchen noch mehr Beweise“, wehrte Wolfhardt nicht ohne Grund ab. Dass Konrad seine Tochter verführt hatte und er ihn deshalb lieber heute als morgen im Kerker sitzen sah, verschwieg er lieber.
***
Die Tage vergingen und Rieke wurde immer unruhiger. Ihr Bräutigam war inzwischen vollständig genesen und half ihrem Vater wieder im Kontor aus. Der Wollhändler war hoch erfreut, seinen Eidam an seiner Seite zu haben. So konnte er sich mehr um die Belange der Stadt kümmern, die zur Zeit vorrangig waren.
„Wenn Ihr wieder gänzlich genesen seid, stände nun einer Vermählung mit meiner Tochter nichts mehr im Wege“, sagte Wolfhardt eines Morgens zu Andres, der mit am Frühstückstisch saß und genussvoll in eine mit Honig und Butter dick beschmierte Brotscheibe biss.
„Ihr habt recht. Mein Vater erwartet mich bereits zu Hause im eigenen Kontor“, erwiderte Andres, nachdem er zu Ende gekaut und den Bissen hinunter geschluckt hatte. „Was meinst du, meine Liebe“, wandte er sich an Rieke, die bleich wie ein weißes Laken am Tisch saß und geschockt dem Gespräch der Beiden gefolgt war.
„Warum nicht“, sprach sie wie unter Zwang. Am liebsten hätte sie laut geschrien und wäre vom Tisch aufgesprungen. Doch sie durfte sich nichts anmerken lassen. Stattdessen musste sie sich Gedanken machen, wie sie aus dieser Misere herauskam.