„Was fällt Euch ein“, wollte Rieke eben den jungen Mann vor ihr anschnauzen. Doch der Blick, den er ihr zuwarf, ließ sie sofort verstummen. Eigenartigerweise begann ihr Herz laut zu klopfen. Sie errötete.
„Beinahe wärt Ihr gefallen“, wehrte der junge Mann ab und grinste sie an. Seine braunen Augen blitzten ihr lustig entgegen.
„Ihr könnt mich nun wieder loslassen“, sagte Rieke, die den ersten Schreck überwunden und sich gefangen hatte.
„Sehr schade“, erwiderte der Mann und sah sie immer noch schmunzelnd an. „Eine schöne Frau in den Armen halten, ist der Traum eines jeden Mannes.“
„Raspelt lieber nicht zu viel Süßholz. Schöne Frauen können auch kratzbürstig sein“, konterte Rieke redegewandt.
„Ach, das seid Ihr keinesfalls“, behauptete der Unbekannte. „Ihr seid das liebenswürdigste Geschöpf, das mir je begegnet ist.“
„Ich und liebenswürdig“, Rieke lachte gar nicht damenhaft laut auf. „Seid Euch ganz gewiss, ich kann sehr kratzbürstig sein“, wehrte sie schmunzelnd ab. „Und nun lasst mich los. Ich muss weiter.“
„Wirklich sehr schade“, sagte der Mann und ließ sein Gegenüber endlich los. „Wie gerne hätte ich mich noch mit Euch unterhalten.“
„Ich muss trotzdem weiter. Vielen Dank“, versuchte die junge Frau, sich aus dem Gespräch mit dem jungen Mann zu entfernen. Sie wandte sich nun um, um mit Gislind ihren Weg fortzusetzen. Als sie sich nach einigen Metern umblickte, stand der Mann immer noch an der gleichen Stelle und starrte ihnen nach.
Schmunzelnd schaute Gislind ihre Herrin an, die sich kopfschüttelnd abwandte. „Ein komischer Kauz“, sagte sie zu ihrer Magd, die immer noch in Richtung des Unbekannten schaute. „Nun komm schon und starre nicht so offensichtlich hinter ihm her.“
„Ach, seid doch nicht so. Ich glaube, da hat sich jemand in Euch verliebt und Ihr auch“, erwiderte Gislind lächelnd.
„Red` nicht so einen Schmarrn“, wiegelte Rieke ab. „Gehen wir lieber, meine Freundinnen werden bereits auf mich warten.“ Rieke wandte sich ab und setzte ihren Weg fort, ohne weiter auf Gislind zu achten.
Der Nachmittag bei Riekes Freundin Margarethe wurde ein geselliges Beisammensein, das die junge Frau sichtlich genoss. Es würde wohl das letzte Mal sein, dass sie als unverheiratete Jungfer daran teilnimmt. Im Kreise ihrer Freundinnen konnte sie die Sorgen um das Kommende eine Weile vergessen. Erst als es bereits dämmerte, machte sie sich mit Gislind auf den Rückweg.
„Wo warst du?“, wurde Rieke von ihrem Vater begrüßt, der ihr im Flur begegnete, als er ins Obergeschoss zu Andres hinaufgehen wollte und die junge Frau im selben Moment zur Haustür hereinkam. Grimmig schaute er seiner Tochter entgegen. „Hatte ich dir nicht verboten, das Haus zu verlassen. Es ist viel zu gefährlich. Du könntest dich anstecken und auch krank werden. Es sind weitere Krankheitsfälle in der Stadt aufgetreten. Bisher konnten wir die Epidemie nicht stoppen. Bald werden wohl noch mehr Menschen sterben, wenn wir nicht bald eine Heilmöglichkeit finden. Ich möchte nicht, dass du unter den Opfern dieser heimtückischen Seuche bist.“
„Aber Vater, ich war nur bei Margarethe. Meine Freundinnen waren auch alle dort“, erwiderte Rieke. „Es ist doch das letzte Mal, dass ich mich unverheiratet mit ihnen getroffen habe. Ihr sorgt Euch viel zu sehr um mich.“
„Du bist nun mal meine einzige und liebste Tochter. Trotzdem hast du dich meinem Befehl widersetzt. Das kann ich nicht dulden. Geh in deine Kammer!“, knurrte Wolfhardt. Rieke drehte sich auf dem Absatz um und verschwand so schnell sie konnte. Der Hausherr schaute seiner Tochter kopfschüttelnd hinterher. „Warum nur kann sie mir nicht ein einziges Mal gehorchen?“, brummte er in seinen Bart.
Rieke währenddessen warf sich in ihrer Kammer auf ihr Bett. Gislind, die den Disput mit Riekes Vater gehört hatte, kam nach oben und klopfte an die Tür. „Herrin, darf ich eintreten?“, fragte sie.
„Ja, komm rein“, antwortete Rieke.
„Wollt ihr noch etwas essen?“, wollte Gislind wissen. „Else hat noch etwas für Euch zurückgelegt, als sie bemerkte, dass Euer Vater Euch in Eure Kammer geschickt hat.“
Plötzlich hörten die beiden Frauen ein Pfeifen vor dem Haus.
„Was war das denn?“, fragte Rieke und stand auf, um zum Fenster zu gehen.
„Wartet, ich schaue, wie sieht es aus, wenn ihr so neugierig seid“, hielt die Magd sie zurück. Gislind öffnete das Fenster und schaute hinaus. Es pfiff erneut. Nun konnte das Mädchen die Richtung, aus der das Pfeifen kam, ausmachen. Sie schaute und erblickte den jungen Mann, mit dem sie am Nachmittag beinahe zusammengestoßen waren.
„Es ist der Mann, den wir heute in der Stadt trafen. Er schaut immer zu Eurem Fenster herauf“, teilte Gislind ihrer Herrin mit.
„Frag ihn, was er will“, befahl ihr Rieke.
„Er fragt, ob er Euch sehen darf.“
Rieke schaute ihre Magd erstaunt an. Er wollte sie sehen? Warum das? Sie schob das Mädchen beiseite und blickte zum Fenster hinaus.
„Was wollt ihr?“, fragte sie den Unbekannten.
„Mit Euch reden“, erwiderte dieser.
„Warum das?“
„Ihr habt mich heute verzaubert. Ich musste Euch unbedingt wiedersehen, komme, was wolle“, sagte er zu Rieke.
„Nun erzählt Ihr mir aber ein Märchen“, Rieke musste lachen. Doch ganz einerlei war es ihr ebenfalls nicht. Seit sie den Fremden am Nachmittag in die Arme gefallen war, ging er ihr nicht mehr aus dem Kopf.
„Wer seid ihr eigentlich und woher kommt ihr?“, wollte Rieke wissen.
„Mein Name ist Konrad Klausner. Ich bin mit der Gauklertruppe in die Stadt gekommen. Aber von Amts wegen bin ich Arzt“, gab er bereitwillig Auskunft.
„Ihr seid Arzt?“, rief Rieke erstaunt aus. „Ihr kommt wie gerufen. Mein Bräutigam liegt seit fast zwei Wochen mit hohem Fieber krank in unserem Haus darnieder. Bisher konnte ihm noch keiner helfen. Auch nicht unser Stadtmedikus Doktor Melchior.“
„Ihr habt einen Bräutigam“, fragte Konrad erstaunt. „Vielleicht kann ich ihm helfen. Ich kenne einige gute Heilmittel gegen böses Fieber“, bot er dann seine Dienste an. Unverhofft tat sich für ihn ein Weg auf, seine Angebetete sehen zu können, ohne Aufsehen zu erregen. „Allerdings habe ich für Arnstadt keine Zulassung.“
„Lasst das mal meine Sorge sein. Mein Vater ist ein hoher Ratsherr“, erwiderte Rieke.
„Das hört sich gut an, wann kann ich den Patienten sehen?“, rief Konrad erfreut.
„Ich rede gleich morgen früh mit meinem Vater. Wenn er zusagt, lasse ich Euch rufen“, erklärte Rieke. „Wo kann ich Euch finden?“
„Unsere Truppe hat Quartier im „Bären“ genommen“, sagte Konrad. „Ich warte auf Eure Nachricht. Und nun wünsche ich Euch eine gute Nacht.“
„Euch auch eine gute Nacht. Bis morgen“, rief Rieke dem Mann nach, der bereits in der Dunkelheit der Gasse verschwunden war.
„Lehnt Ihr Euch nicht ein wenig zu weit aus dem Fenster“, fragte Gislind ihre Herrin, als diese das Fenster geschlossen hatte.
„Ach was, du weißt doch. Mein Vater erfüllt mir jeden Wunsch. Außerdem muss Andres so bald wie möglich gesund werden“, wehrte Rieke die Einwände ihrer Magd ab. „Gleich morgen früh, noch vor dem Morgenmahl rede ich mit ihm. Und nun gehe ich erst einmal zu meinem Bräutigam und erkundige mich nach seinem Befinden. Du kommst mit.“ Rieke schritt resolut zur Tür, während Gislind ihr kopfschüttelnd folgte.
„Hatte ich dir nicht gesagt, du sollst in deiner Kammer bleiben“, schimpfte Riekes Vater, der eben aus Andres Kammer trat, als Rieke ihre Tür schloss.
„Ich möchte nach meinem Bräutigam schauen“, erwiderte die junge Frau. „Ist mir das erlaubt?“, fragte sie noch.
„Sehr brav, mein Mädchen“, entgegnete Wolfhardt erfreut über die Sorge seiner Tochter. „Natürlich darfst du nach Andres schauen. Bald musst du dich als seine Gattin immer um ihn sorgen. Geh nur mein Kind, er wird sich bestimmt freuen.“
„Danke Vater“, tat Rieke besorgt. „Komm Gislind“, wandte sie sich dann an ihre Magd, die hinter ihr stand und geduldig ausharrte. „Gislind wird im Zimmer sein, damit der Anstand gewährt wird.“
„Ist mir recht. Und nun eile schnell.“ Liebevoll Wolfhardt schaute seinem Kind und dessen Magd nach, die gleich darauf in Andres Kammer verschwanden.
Andres van der Aar lag immer noch fiebernd darnieder. Doch er sah seiner Braut mit klaren Augen entgegen.
„Ihr seid es“, kam es keuchend, aber erfreut aus seinem Mund. Die Lippen waren vom Fieber rissig geworden, die Haut war grau verfärbt und unter seinen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet. Von dem schönen und strahlenden Jüngling, den sie vor knapp zwei Wochen kennengelernt hatte, war nicht mehr viel übrig.
„Ja, ich bin es, mein Bräutigam. Ich sorgte mich um Euch, deshalb bin ich hier, um nach Euch zu schauen“, erwiderte Rieke und setzte sich auf den Bettrand. „Gislind, geh nach unten in die Küche und hole etwas Honig“, befahl sie der Magd, als sie die rissigen Lippen ihres Bräutigams sah.
Gislind knickste wortlos und eilte zu Else in die Küche.
„Ich freue mich, dass Ihr hier seid. Hier den ganzen Tag untätig ans Bett gefesselt zu sein, ist so langweilig“, beschwerte sich Andres über seine Bettlägerigkeit. „Kommt Ihr in meine Kammer, erstrahlt dieser trostlose Raum im hellen Licht.“
„Ach, nun hört auf“, lachte Rieke glockenhell über das Kompliment, das sie aus Andres Mund nicht erwartet hatte. „Außerdem habe ich Euch etwas mitzuteilen.“ Sie tat ein wenig geheimnisvoll, um ihn auf die richtige Fährte zu locken.
Er ging auch, wie sie es wollte, darauf ein. „Da bin ich nun aber neugierig“, entgegnete er. „Sagt schon, welches Geheimnis ihr unter Eurem Herzen tragt.“
„Direkt unter meinem Herzen nicht, eher etwas, was mir am Herzen liegt. Ich habe heute einen Medikus kennengelernt, der sehr kundig in der Bekämpfung dieses bösen Fiebers ist. Er möchte morgen nach Euch sehen und Euch untersuchen, wenn es Euch recht ist“, ließ Rieke die Katze aus dem Sack. „Natürlich auch nur, wenn mein Vater es erlaubt.“
„Wo habt Ihr diesen Mann kennengelernt?“, fragte Andres, der nun doch ein wenig eifersüchtig wurde. Seine Braut ließ sich von einem unbekannten Mann ansprechen, das gefiel ihm gar nicht.
Rieke tat so, als hätte sie Andres Regung nicht wahrgenommen. In der Kammer auf und ab gehend plauderte weiter. „Ich war heute auf dem Weg zu meinen Freundinnen und bin dabei gestolpert. Der nette Herr hielt mich davon ab, in den Dreck der Gasse zu fallen, als ich unglücklich stolperte. Ich hielt es für anständig, mich ein paar Minuten mit ihm zu unterhalten. Dabei erzählte er mir von seiner Berufung und dass er gehört hat, welch böses Fieber in der Stadt grassiert. Ich erwähnte, dass Ihr ebenfalls davon befallen wärt und er bot mir spontan seine Hilfe an.“ Ein paar Kleinigkeiten ließ Rieke lieber aus, auch, dass der Fremde ihr heimlich gefolgt war, um ihren Wohnort auszumachen. Keinesfalls wollte sie ihrem Bräutigam einen Grund zur Eifersucht bieten.
„Wir können es ja mal versuchen“, sagte Andres auf Riekes Erzählung. „Der Stadtmedikus Melchior hat bisher ja versagt. Wir müssen jede noch so kleine Möglichkeit annehmen, die wir bekommen können.“
Erfreut sprang Rieke auf. „Ich werde gleich morgen früh mit Vater reden und ihn um sein Einverständnis bitten“, rief sie aus.
„Ja, das sollten wir“, erwiderte Andres und klopfte auf seine Bettdecke. „Und nun kommt zu mir und vertreibt mir noch ein wenig die Zeit bis zum Schlafengehen.“
Rieke tat, wie ihr geheißen wurde. Bald waren die beiden in ein Gespräch vertieft, aus dem sie von Gislind gerissen wurden, die mit dem Honig zurückkam. Sie reichte das Töpfchen ihrer Herrin, die ihn auf Andres Lippen auftrug. Der junge Mann ließ sich dies gerne gefallen, so von einem hübschen Mädchen umsorgt zu werden.
„Ich möchte nun zu Bett gehen“, brach Rieke, als sie mit ihrer Tätigkeit fertig war, das kleine Stelldichein ab.
Obwohl Andres sie lieber noch länger an seiner Seite gesehen hätte, hielt er Rieke nicht davon ab, sich zur Nachtruhe zu begeben. „Gute Nacht, meine Liebste“, rief er ihr hinterher, als sie die Kammertür hinter sich schloss und befreit aufatmete, aus den Fängen ihres Bräutigams entkommen zu sein.