Die Tage vergingen für Riekes Empfinden viel zu schnell. Inzwischen weilte ihr Bräutigam Andres bereits zwei Wochen im Haus ihres Vaters. Der junge Mann ging ihm im Kontor zur Hand und bewies nicht nur einmal, dass er bei seinem eigenen Vater in den Niederlanden in Sachen Wollhandel und Verhandlung mit anderen Händlern und Kunden bereits viel gelernt hatte. Riekes Vater war der Meinung, dass sein Eidam längst in der Lage war, ein Geschäft in eigener Regie führen zu können.
Rieke indes verbrachte die meiste Zeit mit ihrer Mutter in deren Kammer. Die Frauen stickten, häkelten und nähten. Riekes Kleid war inzwischen fertig geworden und auch Augustas Robe stand kurz vor der Vollendung.
Immer noch wusste das Mädchen keinen Weg, um die Vermählung mit Andres zu verhindern. Je mehr Zeit verging und der Tag näherkam, desto trauriger wurde sie. Inzwischen sah sie ihre Lage als aussichtslos an. In sich gekehrt saß sie meist an ihren Näharbeiten. Nicht einmal ihre Mutter konnte sie aus ihrem Tief herausholen. Auch Gislind, Elses Tochter und Magd im Hause Wollhaupt, mit der sie als Kind so manchen Streich ausheckte, kam nicht an sie heran.
Etwa eine Woche vor dem Hochzeitstermin fehlte Andres am Frühstückstisch. Rieke nahm an, dass ihn ihr Vater losgeschickt hatte, um die Wolllieferung, die an diesem Tag erwartet wurde, zu kontrollieren. So machte sie sich keine weiteren Gedanken um Andres Abwesenheit und fragte auch nicht nach dessen Verbleib. Erst als gegen Mittag der Stadtmedikus Doktor Melchior ins Haus kam und nach seinem Patienten fragte, wurde sie hellhörig.
„Seit wann haben wir einen Kranken im Haus?“, erkundigte sie sich bei Else, der sie in der Küche bei der Zubereitung des Mittagsessens zur Hand ging.
„Ach, das wisst Ihr noch gar nicht. Euer Bräutigam leidet an Fieber. Daher hat Euer Vater den Medikus zu ihm gerufen“, erklärte ihr die Frau.
„Woher sollte ich das wissen“, entgegnete Rieke. „Heute Morgen machte ich mir über sein Fehlen keine Gedanken. Ich nahm an, Vater hat ihn zum großen Lagerhaus geschickt, um die Wolllieferung in Empfang zu nehmen und zu kontrollieren.“
„Aber nein, dorthin ist er wahrlich nicht gegangen. Er liegt oben in seiner Kammer. Hohes Fieber quält ihn“, sagte Else zu ihr. „Bereits heute Nacht rief er nach mir, damit ich ihm kaltes Wasser und ein anderes Laken bringe. Da war sein Fieber schon sehr hoch und er glühte am ganzen Leib. Ich machte mir da schon Sorgen und wollte nach Euch rufen, doch er hielt mich davon ab. Ich solle Euch nicht beunruhigen.“
Obwohl die Nachricht, die ihr Else überbracht hatte, keine gute war, sah Rieke darin eine Möglichkeit, das Unausbleibliche auf unbestimmte Zeit zu verschieben. Gott schien doch Nachsicht mit ihr zu haben. Frohgestimmt lief Rieke hinaus in den Garten, wo sie ihre Mutter im Gespräch mit dem Medikus antraf.
„Euer junger Eidam bedarf viel Ruhe. Gebt ihm viel Flüssigkeit und den Trunk aus gekochter Weidenrinde. Das senkt das Fieber und falls er Schmerzen haben sollte, werden diese damit ebenfalls ein wenig gelindert“, gab der Medikus Anweisungen an die Hausfrau.
„Ihr meint, er hat auch Schmerzen“, fragte die Mutter.
„Auszuschließen ist es nicht“, erwiderte der Arzt. „Sein Fieber ist sehr hoch und er ist kaum ansprechbar. Noch konnte ich die Ursache dafür nicht herausfinden. Wir können nur hoffen, dass es nicht noch höher ansteigt. Ich könnte ihn auch noch zur Ader lassen, um seine Säfte wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Doch denke ich, so geschwächt wie er ist, wird ihm das mehr schaden als helfen.“
„Das wäre sehr schlimm. In einer Woche soll meine Tochter seine Frau werden“, sagte Augusta, die um Andres sehr besorgt war. In der kurzen Zeit, die er im Hause weilte, hatte sie ihn bereits in ihr Herz geschlossen wie einen eigenen Sohn. Ihr gegenüber benahm er sich stets korrekt. Auch zu seiner Braut war er immer aufmerksam und umwarb sie, um ihr Herz zu erobern.
Der Medikus schaute sie erstaunt an. „Ach, das ist ja eine freudige Nachricht“, sagte er darauf. „Doch so wie es jetzt aussieht, wird die Vermählung wohl verschoben werden müssen.“
Rieke hätte am liebsten Luftsprünge gemacht, als sie das hörte.
„Herr Doktor, ist das wahr, was ich da gehört habe?“, wandte sie sich an den Medikus. „Mein Bräutigam hat sich schon so sehr auf die Hochzeit gefreut.“ Obwohl es ihr widerstrebte, so zu lügen, blieb ihr nichts Anderes übrig, als die sorgenvolle Braut zu spielen.
„Mein Mädchen, verlieren wir nicht die Hoffnung“, versuchte der Doktor nun auch Rieke zu beruhigen. Dass sie froh darüber war, noch eine Schonfrist bekommen zu haben, bemerkte er nicht. „So Gott es will, wird alles gut gehen. Euer Bräutigam ist jung und kräftig. Er wird die Krankheit überstehen. Doch verliert nicht die Geduld, wenn es ein wenig länger dauern sollte. Das Fieber ist schwer und unberechenbar.“
Tage später hatte sich Andres Zustand immer noch nicht verbessert. Fiebernd lag er in seiner Kammer und bekam von der Besorgnis seiner Gastgeber nichts mit. Die meiste Zeit schlief er und sprach im Schlaf. Oft fantasierte er, warf sich auf seinem Lager hin und her. War er mal wach, wusste er nicht, wo er sich befand. Rieke schaute ab und an mal nach ihm, ansonsten kümmerte sich Gislind um den Kranken, die Rieke schon zuflüsterte, der Kranke wäre nicht bei Sinnen.
Doch mehr schlechte Nachrichten machten die Runde. In der Stadt waren bereits sehr viele Fälle des Fiebers aufgetreten. Der Medikus konnte sich keinen Reim darauf machen, woher die Krankheit kam. Am meisten hatten die Armen zu leiden. Unter ihnen grassierte die Epidemie am meisten. Aber auch im Viertel, in dem die Familie Wollhaupt lebte, waren einige Familien betroffen.
Für Rieke bedeutete dies, Krankenbesuche zu machen und Genesungswünsche auszusprechen. Damit gefährdete sie sich selbst. Die Ansteckungsgefahr war hoch, doch die meisten Menschen in der Stadt waren der Meinung, das Fieber wäre eine Strafe Gottes, die sie hinnehmen müssten.
Doktor Melchior, der Medikus, glaubte nicht an eine Strafe Gottes. Während seines Studiums musste er schon öfter Fälle eines mysteriösen Fiebers behandeln. Meistens handelte es sich um eine ansteckende, noch unbekannte Art. Woher die Krankheit kam, konnte damals noch nicht ausfindig gemacht werden. So auch in Arnstadt. Er nahm aber an, dass es von umherziehenden Gauklern eingeschleppt worden war, denn auch in der Stadt gastierte zurzeit eine Gauklertruppe. Als er noch studierte, war das einmal ebenfalls der Fall. Doch beweisen konnte er es nicht.
Rieke wurde es von ihrem Vater verboten, sich in der Stadt aufzuhalten, solange das Fieber grassierte. Sie war in ihrem Elternhaus schon der Krankheit ausgesetzt. Die Gefahr, sich selbst anzustecken, war somit groß genug.
Eines Tages wollte sich Rieke, trotz des Verbotes ihres Vaters, mit ihren Freundinnen treffen. Meist taten sie dies bei einer der Frauen zu Hause. Diesmal wäre Rieke an der Reihe gewesen. Doch da in ihrem Haus ein Kranker Ruhe brauchte, beschlossen die jungen Damen, das Treffen diesmal bei Margaretha stattfinden zu lassen. Rieke machte sich nach dem Mittagessen auf den Weg zu ihrer Freundin. Gislind begleitete sie.
Während sie mit Gislind durch die Gassen in Richtung Marktplatz wanderte, unterhielt die Magd Rieke mit dem neuesten Klatsch aus der Stadt.
„Es ist wieder eine Gauklertruppe in der Stadt“, plapperte das Mädchen fleißig drauf los. „Ob wir uns eine Vorstellung ansehen dürfen?“
„Ich glaube kaum, dass Vater mir das erlauben wird, so lange das Fieber in der Stadt umgeht“, meinte Rieke. Sie hätte zwar Lust, sich die Truppe und deren Vorstellung anzuschauen, aber die Aussicht, nach Andres Genesung seine Frau werden zu müssen, ließ sie nicht gerade froh in die Zukunft blicken.
„Ach was. Ihr könnt Eurem Vater doch sonst so um den Bart gehen, dass er Euch beinahe alles erlaubt“, erwiderte Gislind. „Sagt doch einfach, ich begleite Euch und passe auf Euch auf, dass Ihr eventuellen Kranken nicht zu nahekommt.“
„Bei der Menge an Leuten, die sich meist um die Bühne drängen, wird das kaum möglich sein“, erwiderte Rieke abwehrend.
„Ihr seid in letzter Zeit so traurig. Dabei solltet Ihr als Braut doch fröhlich sein und Euch freuen, bald eine Ehefrau zu sein“, bemerkte die Magd und sah ihre Herrin aufmerksam an.
Rieke kämpfte mit den Tränen. Sie schluckte diese tapfer herunter. „Wenn du wüsstest“, erwiderte sie. „Lass uns lieber von etwas Anderem sprechen.“
„Wenn Ihr meint“, antwortete Gislind darauf und versuchte, ihre Herrin bei Laune zu halten. Immerhin standen ihr einige schöne Stunden mit ihren Freundinnen bevor, während sie sich selbst im Hause von Margarethes Eltern mit deren Mägden die Zeit verbringen konnte.
So gingen die beiden Frauen plaudernd durch die Gassen. Rieke sah ein, dass es nichts brachte, Trübsal zu blasen. Während sie schwatzend nebeneinander hergingen, beachteten die entgegenkommenden Passanten nicht. Rieke und Gislind wollten eben um eine Ecke biegen, als sie unverhofft einem jungen Mann gegenüberstanden. Beinahe wäre Rieke mit ihm zusammengeprallt und gestürzt, wenn der Unbekannte sie nicht mutig festgehalten hätte.
Gerade wollte Rieke empört schimpfen und sich vehement gegen diese Anmaßung wehren, als sie in ein frech grinsendes Gesicht mit wundervollen braunen Augen blickte. Der Blick war so betörend, dass Rieke kein einziges Wort hervorbrachte und sie ihr Gegenüber wie gebannt anstarrte.