Als der Wachturm am Morgen aufwachte, bemerkte er verwundert ein neues, längst nicht mehr bekanntes Gefühl: Er fühlte sich ausgeschlafen. Überrascht öffnete er die Augen und schaute sich um. Wunderbar, der Nebel hatte sich gelichtet. Der Tag versprach hell zu werden und nicht in dem ewigen Grau zu versinken, welches er nun schon bis zum Überdruss kannte.
Eine leichte Berührung an einem seiner Pfosten liess ihn nach unten blicken. Aha, da war sie wieder, diese Shari. Er hörte, wie sie ihm einen guten Morgen wünschte. Er rechnete es ihr hoch an, dass sie offenbar nicht nachtragend war. Erleichtert liess er sie gewähren. Antworten mochte er jedoch nicht. Wozu auch?
Aufmerksam beobachtete er, wie sie anscheinend sehr zielgerichtet etwas in die Wege zu leiten schien. Er sah, wie sich die Mäuse aus dem ersten Stockwerk um sie scharten, später die Eule und dann die Vögel aus dem Dach, doch leider sprach sie so leise mit allen seinen Mietern, dass er kein Wort verstehen konnte. Innerlich seufzend stellte er fest, dass sein Gehör wohl sehr nachgelassen hatte. Oder waren seine Ohren nur verstopft von all dem Staub und Dreck der langen Jahre, die er hier alleine gestanden hatte? Er schämte sich jetzt, dass er sich nicht besser gepflegt hatte. Und traute sich nicht, den Kopf energisch zu schütteln, um seine Ohren frei zu bekommen. Er wollte vermeiden, dass Shari meinte, er wolle sie wieder beschimpfen. Er nahm sich aber vor, die Eule um einen Gefallen zu bitten. Mit ihrem Schnabel konnte sie ihm bestimmt helfen, das Gröbste aus diesen im wahrsten Sinne des Wortes verkalkten Hörgängen herauszuholen.
Doch vorerst gab es Wichtigeres zu tun. Ganz offenbar bereitete Shari etwas Bestimmtes vor, das mit ihm zu tun hatte. Seine Neugierde wuchs. Er grübelte und grübelte. Was könnte das sein? Einen Satz hatte er aufgeschnappt, als sie die Vögel verabschiedete: «Worte heilen». Aber so sehr er auch nachdachte, er konnte sich keinen Reim darauf machen.
Er dachte an die Gespräche des Vorabends zurück, als all diese Freunde von Shari ums Feuer gesessen und von der Bedrohung durch die Winterdämonen gesprochen hatten. Allerdings war er da noch zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um genau zuzuhören. Nur ungern dachte er an seine überaus unhöfliche Schimpftirade zurück und insgeheim gab er Sharis Freunden recht, die an ihm keinen guten Holzspan gelassen hatten. Allerdings: Hatte sich nicht auch Shari in einen Wutanfall verrannt? Der Wachturm spürte, wie sich wieder Emotionen anfingen zu regen. Da meldete sich auf einmal, wie wenn in ihm noch ein innerer Wachturm leben würde, eine leise Stimme: «Und wenn sie recht gehabt hat, mit ihrer Wut? Und warum lässt du es jetzt nicht auf sich beruhen, das, was gestern war?»
Der Wachturm musste dem inneren Wachturm recht geben. Shari hatte nur auf seine ungehobelte Art reagiert. Und klüger wäre es allemal, nicht mehr an das Vergangene zu rühren.
«Siehst du,» sagte der innere Wachturm, «es geht ja ganz einfach!»
Beide Wachtürme lächelten.