Bereits seit einer Weile waren Shari und Miro nun unterwegs. Beide genossen den Flug über den Märchenwald von Xandra. Von oben erst konnte man sehen, wie gross er wirklich war. Doch ihr Ziel waren die fernen Berge. Shari wusste, dass sie dort die sehr seltene Lebenskraft-Blume finden würde. Auch das Lebensfreude-Kraut spriesste oft in höheren Lagen und sie hoffte, sich gleich einen kleinen Vorrat mitnehmen zu können. Es gab ja auf Belletristica immer wieder Wesen, die zu ihr kamen und sie um Hilfe baten. Da war es gut, stets ein paar Kräuter und Blumen vorrätig zu haben.
«Warum hast du den Wachturm eigentlich allein gelassen?»
Miros Frage riss Shari aus ihren Überlegungen.
«Gut, dass du fragst, Miro! Diese Frage haben mir einige meiner Freunde auf Belletristica auch schon gestellt. Schau, ich hatte dabei einen Plan.»
Shari erklärte Miro die Absicht hinter ihrem Vorgehen. Natürlich war ihr bewusst, dass die Gefahr eines Angriffs durch die Winterdämonen gross war. Trotzdem wollte sie, dass der Wachturm etwas lernte. Das konnte er aber nur, wenn sie nicht dabei war.
Seit sie erfahren hatte, dass Luan ganz in der Nähe des Wachturms durch den Märchenwald streifte, Elle und Xandra sich anerboten hatten, ihn zu unterstützen, war sie ruhiger. Es war ja nicht so, dass sie ihn nicht ohne eigene leise Unruhe allein gelassen hätte, oh nein, im Gegenteil! Eigentlich hatte sie ja die Aufgabe übernommen, diesen Wachturm zu verteidigen. Sie wollte auch alles dafür tun, dass er ungeschoren davon kam. Inständig hoffte sie, dass der Angriff – den sie erwartete – erst stattfinden würde, wenn sie wieder zurück war. Die Blumen, welche sie heute holen wollte, würden ihn ihrer Meinung nach noch mehr kräftigen als die bisher verwendeten Medizinen.
Der Drache näherte sich nun den Bergen. Die Vegetation veränderte sich. Der Wald trat zurück. Adler kreisten, tief unten leuchtete ein Bergsee. Shari genoss die reine Bergluft und atmete sie tief ein.
Trotzdem spürte sie auf einmal eine Unruhe, welche sich immer weiter in ihrem Körper ausbreitete. Sie begann, das Schlimmste zu befürchten.
Trotzdem bat sie Miro, tiefer zu fliegen. Sie hatte die Hütte ihres Hexenfreundes Karimo entdeckt. Ihm wollte sie noch kurz guten Tag sagen, wenn sie schon in der Gegend war.
Kurz darauf landete Miro vor Karimos Häuschen.
Dieser kam sofort heraus und begrüsste die seltenen Gäste aufs Herzlichste. Shari fiel allerdings gleich auf, dass er ein besorgtes Gesicht machte.
In seiner warmen Küche sassen sie dann bei einem Zuversichts-Tee beisammen. Miro schlabberte eine Schüssel stärkende Bergkristall-Suppe.
Shari erzählte Karimo von den Winterdämonen, von ihrem Wachturm und dessen Genesung, dass sie aber unbedingt noch Blumen und Kräuter brauche, um ihn ganz zu stabilisieren. Dann fragte sie ihn nach dem Grund von Karimos Besorgnis.
«Ich weiss nicht, Shari. Ich habe ein ungutes Gefühl. Von hier aus habe ich alles beobachtet auf Belletristica. Diese Winterdämonen sind einfach überall und unglaublich dreist. Pass auf dich und deinen Wachturm auf!»
In diesem Moment hörten sie draussen das Flattern von Flügeln. Sie eilten hinaus. Die Eule stand vor der Tür und zitterte am ganzen Leib vor Aufregung und Erschöpfung.
«Shari, schnell! Die Dämonen greifen an!»
Ohne zu zögern bestieg Shari wieder Miros Rücken. Hatte sie also doch richtig gespürt! Karimo drückte ihr zum Abschied noch ein paar der gesuchten Blumen aus seinem eigenen Vorrat in die Hand und winkte ihnen dann lange nach, bevor er wieder in seiner Hütte verschwand. Dort holte er seine Kristallkugel heraus, um sich die Entwicklung der Geschichte weiter anzusehen.
Shari hatte die Eule sorgsam in ihren Mantel gehüllt. Diese erzählte ihr
während des Rückflugs alles, was sich seit Sharis Abflug ereignet hatte.
«Auf einmal wurde es eisig kalt», berichtete sie. «Wir alle begannen zu schlottern, auch der Wachturm. Dann hörten wir die Winterdämonen brüllen und spürten ihr Stampfen auf dem Boden. Der Wachturm rief mich und schickte mich zu dir. Dann sandte er Vögel zu Luan, Xandra und Elle, um sie benachrichtigen. Einen weiteren Vogel beauftragte er, zum Seegraf zu fliegen. Dieser hatte ja ganz zu Beginn deiner Anwesenheit hier Hilfe versprochen, falls dies notwendig würde. Dies hatte sich der Wachturm offenbar gemerkt. Du kannst stolz sein auf ihn!»
Shari hoffte, so schnell wie möglich wieder bei ihrem Wachturm zu sein. Der Bericht der Eule stimmte sie zwar zuversichtlich. Trotzdem machte sie sich auf alles gefasst.