Miro bemühte sich nach Kräften, schnell vorwärts zu kommen. Aber die zunehmende Kälte machte ihm sogar hoch oben in der Luft zu schaffen. Shari wickelte sich enger in ihren Mantel, die immer noch zitternde Eule eng an sich gepresst. Sie sprachen nicht mehr viel, alle waren in ihre Gedanken versunken.
Dann, endlich, kam der Wachturm in Sicht.
Sharis Herz klopfte laut. Was sie wohl antreffen würde?
Sie bemerkte das Feuer auf der Lichtung und bat Miro, auf einem Baum in der Nähe zu landen. Sie wollte sich in Ruhe zuerst alles besehen.
Tränen der Freude und des Stolzes auf den Wachturm stiegen in ihr auf, als sie festellte, dass dieser in aller Selbstverständlichkeit gerade das Wort an alle Belletristicans richtete. Sie sah, wie gerade und straff seine Körperhaltung war, wie klar er sprach. Ergriffen hörte sie ihm zu, vernahm, mit welchem Plan er die Winterdämonen abzuwehren gedachte. Berührt sah sie, dass sie alle, alle gekommen waren, um den Wachturm verteidigen zu helfen. All die vielen vielen Freunde und Freundinnen! Die ganze Familie Escanor entdeckte sie unter den Anwesenden, Ari heute auf dem Schoss seiner Schwester Kathy. Poetica hatte es sich gemütlich gemacht, ganz in der Nähe waren Emma und Zara in eine leise Unterhaltung vertieft. Clayra und Noia verteilten Tee und Kekse, Maria brachte gerade noch mehr Holz zu Elle und Xandra. Sogar Ben sass am Feuer. Auf seinen Schultern sassen Takaro und Khaeli. Und winkte da nicht auch noch Maldeca? Ach ja, und der junge Mann daneben war ja tatsächlich Sebi! Atemlos verfolgte Shari das Geschehen.
In diesem Moment verkündete der Wachturm: «Ich fange mit der ersten Geschichte an. Bitte erschreckt nicht, wenn ich laut spreche. Doch die Dämonen sollen mich hören können. Sobald ich fertig bin, bitte ich euch, euch sternenförmig um das Feuer zu verteilen, immer zu zweit. Und dann erzählt euch eure Geschichten, rezitiert, lest vor! Marv», er wandte sich an den Wolf, der als Nachrichtenbote eine wichtige Aufgabe zugesprochen bekommen hatte, «du läufst bitte zu den Männern im äusseren Kreis. Auch sie sollen dann bitte beginnen zu erzählen, ihre Gedichte zu rezitieren, aus ihren Geschichten vorzulesen. Auch sie zu zweit, vielleicht in etwas grösserem Abstand zueinander und so laut wie sie können! Bitte sie, die Winterdämonen dabei gleichzeitig im Auge zu behalten! Denkt alle daran: Quenny und ihre Leute hassen jegliche Kreativität! Und genau diese ist unsere beste Waffe!»
Dann begann der Wachturm zu erzählen.
Er erzählte von der Zeit, als er gebaut werden musste, weil die Winterdämonen schon in der ersten Zeit nach der Entdeckung Belletristicas sich diese wunderschöne Insel unterwerfen wollten. Offenbar hatten sich zu jenen Zeiten auch immer wieder Vetreter anderer Völker an Belletristicas Küsten verirrt. Völker, denen sowohl Buchstaben als auch Bücher nicht nur unbekannt, sondern ein Graus waren. Völker, welche wie die Winterdämonen vor Märchen, Gedichten, Fabeln und Geschichten Reissaus nahmen.
Einen Moment lang schwieg der Wachturm.
Dann fuhr er fort: «Nach und nach kamen viele neue Wesen hierher. Die Insel wurde mehr und mehr besiedelt. Gleich einem wunderschönen Mosaik überzogen sie mit Kreativität, Freundschaft und Heiterkeit diesen wunderschönen Platz».
Wieder verstummte der Wachturm, bevor er nachdenklich und etwas leiser fortfuhr.
«Es war wohl in jener Zeit, dass ich in Vergessenheit geriet. Die Dämonen hatten sich zurückgezogen, die Gefahren glaubte man gebannt, ein- für allemal. Doch heute sehen wir uns erneut mit einer enormen Angriffswelle konfrontiert, die unseren Kontinent wirklich bedroht. Und darum müssen wir uns alle zusammenschliessen. Dank Shari habe ich meinen Lebensmut wieder gefunden. Sie und ihr alle habt mir gezeigt und bewiesen, was wahre Freundschaft heisst. Darum will auch ich euch jetzt euer Freund sein, mehr noch, mich für euch und Belletristica einsetzen. Ich bin bereit, mein Letztes zu geben!»
Tief atmete der Wachturm durch. Seit Jahrzehnten hatte er nicht mehr so lange und so viel gesprochen.
Dann gab er allen das Zeichen, sich zu verteilen und mit Erzählen zu beginnen.
Shari bat den Drachen Miro, sie zum Wachturm zu bringen. Innig umarmte sie ihn, unfähig, etwas zu sagen.