Da stand der Wachturm nun und fühlte sich unendlich verlassen. In seinem Innern tobten die unterschiedlichsten Emotionen. Wütend war er. Da liess ihn doch diese Shari einfach allein! Und er war eifersüchtig auf diesen blöden Drachen. Und er hatte Angst. Angst davor, von den Winterdämonen überfallen zu werden. Angst, Shari kehre nicht mehr zu ihm zurück. Lange war ihm, als würde er von all diesen Gefühlen in einen tiefen Schlund gerissen.
Tränen der Verzweiflung stiegen in ihm auf. Lange wehrte er sich dagegen, doch es nützte nichts. Zuerst rollte eine Träne, dann eine zweite, schlussendlich ergoss sich eine wahre Sturzflut an Tränen über seinen ganzen Holz- und Mauerkörper hinab.
Irgendeinmal versiegte die Tränenflut. Der Wachturm wurde noch von ein paar Schluchzern geschüttelt, dann begann er sich mit jedem Atemzug zu beruhigen.
Auf einmal fiel ihm auf, dass während all dem Weinen und Schluchzen nicht das längst vertraute Geräusch von herabrieselndem Mörtel zu hören gewesen war. Verwundert wischte er sich die Augen und blinzelte nach unten. Was er da entdeckte, liess ihn innerlich erschauern. Die Löcher in der Mauer im untersten Stockwerk hatten sich geschlossen!
Ein tiefer Seufzer entfuhr ihm und kurze Zeit später ein lautes «Juhuu!»
Nun verstand er das neue Gefühl, welches ihm gestern Abend aufgefallen war.
Aufmerksam blickte er sich nun selbst genauer an. Na ja, die grünen Strümpfe sahen nicht sehr attraktiv aus. Aber er spürte, wie wohltuend sie waren. Beinahe zärtlich glitt sein Blick über seine Mauern. Es war wirklich unglaublich! Sie wirkten wie neu! Auch die Holzkonstruktion in den oberen Stockwerken schien sich bereits sehr erholt zu haben. Viele Wurmlöcher waren verschwunden, ebenso der Geruch nach fauligem Holz, den er schon seit vielen Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, in der Nase gehabt hatte. Tief atmete er durch. Er hatte das Gefühl, breitbeiniger dazustehen als noch heute früh. Jünger. Kräftiger. Oh, wie sehr er sich darauf freute, dies heute Abend Shari zu zeigen! Und ihr zu danken!
Der Wachturm verfiel in Grübeln. Warum bloss hatte er vorhin so haltlos weinen müssen? Er horchte in sich hinein. Lange fand er keine Antwort. Ganz still stand er da und fühlte in sich hinein. Dann wusste er auf einmal mit aller Deutlichkeit, woher dieser ganze Schmerz gekommen war: Er hatte die Traurigkeit über seine Vergangenheit hinausgeweint. Seine jahrzehntelange Einsamkeit. Seinen Griesgram. Seine Verbitterung.
Erleichterung machte sich im Wachturm breit. Dann übermannte ihn eine tiefe, wohlige Müdigkeit. Er schlief ein, ein entspanntes Lächeln auf dem Gesicht.
Aufgeregtes Flattern von Vogelflügeln um seinen Kopf weckte ihn wieder auf.
«Achtung! Gefahr! Die Winterdämonen sind im Anmarsch!»