Wie durch einen sanften Nebel nur nahm der Wachturm wahr, dass sich wieder viele Tiere, Fabelwesen und Freunde von Shari zu seinen Füssen versammelt hatten. Und nur wie durch einen Schleier vernahm er die Geschichten, die heute Abend erzählt wurden. Immer noch war er in einem Zustand von grosser Entspannung, glitt ab in Dösen und Träumen, kehrte wieder zurück, sah das Feuer, spürte die warme Energie, welche von den Geschichten und Märchen ausging, und träumte gleich darauf wieder weiter. Der Wachturm konnte sich nicht erinnern, sich je so gut und unbeschwert gefühlt zu haben. Irgendetwas geschah da mit ihm, was er nicht mehr unter Kontrolle hatte. Erstaunlicherweise machte ihm dies keine Angst, sondern erfüllte ihn mit Zuversicht und Gelassenheit.
So stand er denn einfach da und genoss das Sein.
Gleichzeitig spürte er auch eine neue Kraft in sich wachsen. Besser ausgedrückt: Eine neue Stabilität. Er fühlte sich nicht mehr so brüchig und verlottert wie noch vor ein paar Tagen. Woran dies lag, vermochte er noch nicht zu ergründen, aber er nahm sich vor, dieser Frage bald nachzugehen. Heute wollte er aber einfach sein neues Lebensgefühl geniessen.
Er spürte, wie sich Shari während des ganzen Abends an einen seiner Pfosten anlehnte und es dünkte ihn dies ein sehr sehr angenehmes Gefühl. Beschämt dachte er für einen kurzen Moment daran zurück, wie er sich benommen hatte, als Shari das erste Mal hier vor ihm gestanden hatte. Doch ihm war klar, dass er dies nicht leider mehr ändern konnte. Er seufzte leise und nahm sich vor, sich gleich morgen bei Shari zu entschuldigen. Erstens war das schlicht kein Benehmen, das hatte er längst eingesehen und zweitens hatte sich sein Leben grundlegend verändert, seit sie da war. Ja, gleich morgen wollte er mit ihr sprechen. Er straffte seine Schultern und ein leises Lächeln glitt über sein Gesicht.
Erst jetzt merkte der Wachturm, dass Shari offenbar jemanden suchte, der sie fortbringen sollte. Er hatte den Anfang ihrer Ausführungen verpasst. Fortgehen? Sie wollte weg von hier? Er war bestürzt. Traurig blickte er hinunter und versuchte zu verstehen. Hatte er wohl wieder etwas falsch gemacht? Verzweifelt suchte er in seinem Gedächtnis.
Er hörte, wie sie sich mit dem Drachen Miro gleich für den nächsten Morgen verabredete. Leicht eifersüchtig schaute der Wachturm den geflügelten Vierfüsser an. Wie gerne hätte er mit ihm getauscht!
Dann entdeckte er aber, dass Shari sich umsah nach jemandem, der einen Tag lang auf ihn aupassen sollte, bis sie wieder zurück war. Erleichtert atmete er auf. Einen Tag nur wollte sie wegbleiben. Das würde er verkraften.
Als dann alle weg waren, kam Shari noch einmal zu ihm, strich ihm über den Pfosten und wünschte ihm eine gute Nacht. «Nicht traurig sein, lieber Freund! Die Blume, die ich suche, ist für dich!»
Etwas Nasses fiel auf Sharis Hand. Eine Träne des Wachturms.